Im wahren Leben gibt es eigentlich nichts Befriedigenderes als einen ungelösten Kriminalfall. In belletristischen Werken wünschen wir uns das Gegenteil, versteht sich — wir wollen am Ende ein Schmuckkästchen mit blutroter Schleife, in dem eine geometrisch perfekte Lösung steckt. Hercule Poirot soll in der letzten Szene mit dem Zeigefinger auf einen Menschen deuten und sagen: „Der war’s!” Außerdem hätten wir naturgemäß gern eine Erklärung, wie es Herrn Tunichtgut gelungen ist, Frau Prof. Blondschopf zu erdolchen, obwohl Herr Tunichtgut sich zur Tatzeit in der Internationalen Raumstation aufgehalten hat.
Im wahren Leben wollen wir aber gar keine Lösungen — wir wollen spekulieren, Indizien hin und her wenden, unserer Phantasie die Sporen geben. Jack the Ripper: Prinz Victor Albert, der Arzt Sir William Gull oder doch der Schriftsteller und Mathematiker Lewis Carroll? Oder trieb vielleicht Königin Victoria höchstpersönlich in den Schmuddelstraßen von London ihr Unwesen und schlitzte arme Prostituierte auf?
Dabei gibt es ein morbides Gesetz der direkten Reziprozität. Es geht so: Je grausiger die Tat, desto befriedigender die Unlösbarkeit des Falls. Niemand interessiert sich für einen simplen Schwiegermuttermörder, der vor 100 Jahren unerkannt davongekommen ist. Es müssen schon mindestens zwei tote Schwiegermütter sein.
Noch mehr befriedigt uns, wenn zu den unaufgeklärten Morden ein weiteres Element des Geheimnisvollen tritt — ein Code etwa. Damit wären wir schnurstracks beim Zodiac-Killer angelangt, einem Serienmörder, der in den späten Sechzigerjahren Nordkalifornien terrorisierte. Seinen Namen gab er sich selber; er rührte daher, dass er beim Morden ein Kostüm mit den Sternzeichen trug.
Der Sternzeichenkiller attackierte vor allem junge Paare. Mindestens fünf Menschen tötete er, zwei überlebten — er selber brüstete sich aber mit 37 Opfern. Sein Mordmotiv war so einfach wie irre: Er wollte Sklaven schaffen, die ihm nachher in der Totenwelt zu Diensten sein sollten. Wenn er gerade nicht mordete, schickte der Zodiac-Killer Geheimbotschaften an Zeitungen und drohte mit Bombenattentaten, wenn sie sein Kauderwelsch nicht druckten. Seine Briefe unterschrieb er mit einem gekrakelten Fadenkreuz.
Von vier Codes des Zodiac-Killers wurden zwei nie geknackt; eine Botschaft konnte erst 51 Jahre später entschlüsselt werden. Es ging dort — in gruseliger Grammatik und mit vielen Rechtschreibfehlern — um den Tod und das Paradies. Der Mörder behauptete, sich schon jetzt in den seligen Gefilden aufzuhalten.
Der ungelöste Kriminalfall hat einen etwas verwirrenden Thriller von David Fincher ( „Zodiac”, 2007) provoziert, den manche für einen bedeutenden Film halten. Der Polizei kam von Anfang an ein gewisser Arthur Leigh Allen verdächtig vor, ein gefeuerter Lehrer, der Mädchen nachstellte und Frauen hasste— allein, dem Manne konnte nie etwas nachgewissen werden. War der Täter also vielleicht Ted Kaczynski, der „Unabomber“? Oder steckte die Manson-Familie dahinter?
Jetzt will ein Team von 40 Ermittlern, das sich selbst „The Case Breakers” nennt, die Frage abschließend geklärt haben: Beim Zodiac-Killer handle es sich also um Gary Francis Poste, dessen DNS mit jener übereinstimmen soll, die am Tatort gefunden wurde. Gelöst! Aktendeckel zu! Wie fade; wie schauderhaft; wie enttäuschend.
Der Fachmann sagt „Bullshit“
Zum Glück bleiben handfeste Zweifel. Herr Poste kann nicht mehr befragt werden, da er 2018 verstorben ist. Das FBI hüllt sich in Schweigen. Die örtlichen Polizeibehörden melden, sie betrachteten den Fall weiterhin als ungelöst. Und der Autor Tom Voigt, der den Sternkreiszeichenkiller seit den Neunzigerjahren mit ungefähr derselben Inbrunst verfolgt wie seinerzeit Kapitän Ahab den weißen Wal, gibt zu bedenken, dass niemand von den Leuten, die dem Killer damals entkamen, eine Narbe beschrieb, wie sie Gary Francis Poste auf der Stirn trug.
Tom Voigt bezeichnet das Ermittlungsergebnis der „Case Breakers” als „Bullshit” und kann auf seiner Webseite noch viele andere Verdächtige vorzeigen. Es gibt also noch Hoffnung.