Der Plagiatsbefund um Xavier Bettels Abschlussarbeit unterscheidet sich im Ausmaß von vergleichbaren Affären im Ausland. Dabei steht nicht nur der Wert der wissenschaftlichen Redlichkeit zur Debatte. Es geht auch um mögliche juristische Folgen für den Premier.

„Nach bestem Wissen und Gewissen“ habe er damals gehandelt, lautete die offizielle Reaktion von Xavier Bettel auf die Recherchen von Reporter.lu, wonach die Abschlussarbeit des heutigen Premiers im Rahmen seines Studiums an der Universität Nancy über weite Strecken ungekennzeichnete Fremdtextübernahmen enthielt. „Aus heutiger Sicht erkenne ich, dass man es hätte anders machen sollen, ja vielleicht anders machen müssen“, so das Statement des Premiers weiter.

Angesichts des Ausmaßes der plagiierten Passagen ist es jedoch nur sehr schwer nachzuvollziehen, dass Xavier Bettel unwissentlich seitenlange Passagen abgeschrieben haben könnte. Insgesamt stammen nur zwei von 56 Seiten und nur weniger als ein Viertel aller Wörter der besagten Abschlussarbeit vom Autor selbst.

Eine Frage der Dimensionen

Ein Blick ins Detail verdeutlicht dabei nicht nur die Dimension des Plagiats, sondern auch den Verdacht, dass es sich dabei um Absicht gehandelt haben könnte. Beispiel: die Seiten 34 bis 39 von „Vers une réforme possible des modes de scrutin aux élections du Parlement Européen?“. Hier bedient sich Xavier Bettel aus einem Bericht des früheren Europaabgeordneten Georgios Anastassopoulos aus dem Jahre 1998.

Zwei der sechs Seiten der Arbeit wurden vollständig aus dem Bericht abgeschrieben. Oder anders ausgedrückt: 2.382 der auf den sechs Seiten befindlichen 2.520 Wörter stammen nicht aus der Feder des Autors der Arbeit, sondern aus dem online verfügbaren Bericht. Einen Verweis auf die Quelle, in Form einer Fußnote oder einer sonstigen für wissenschaftliche Arbeiten üblichen Anmerkung, gibt es nicht.

Ohne Quellenangabe übernommen: links, die Seiten 36-37 der Abschlussarbeit von Xavier Bettel – rechts, der Bericht des ehemaligen Europaabgeordneten Georgios Anastassopoulos. (Foto: Reporter.lu)

Es ist nur eines der offensichtlicheren Beispiele aus der Abschlussarbeit des früheren Studenten Xavier Bettel, das den Plagiatsbefund veranschaulicht. Es gibt Dutzende weitere Beispiele. Die meisten Quellen, bei denen sich der Autor bedient, tauchen zwar im Literaturverzeichnis auf. Doch im Text fehlen jegliche Anmerkungen, Zitate oder Fußnoten. Bezeichnend für die wissenschaftliche Qualität der Arbeit ist zudem der letzte Punkt im Literaturverzeichnis: „de nombreux sites internet et articles de presse“.

„Das Ausmaß des Plagiats ist zu groß, um noch zumutbar zu sein“, lautete denn auch das Fazit des französischen Politologen Nicolas Sauger, der die Arbeit auf Nachfrage von Reporter.lu untersuchte. Die Politik-Professorin der Uni Luxemburg, Anna-Lena Högenauer, schätzte das Ausmaß als „problematisch“ ein.

Auch die betroffene „Université de Lorraine“ konstatiert zumindest den Verdacht auf eine „Fehlleistung hinsichtlich der wissenschaftlichen Integrität“ („manquement à l’intégrité scientifique“). Deshalb leitete die Universitätsverwaltung im Zuge der journalistischen Recherchen auch eine interne Untersuchung ein.

Mögliche rechtliche Folgen

Das ist jedoch „nur“ der wissenschaftliche Aspekt. Plagiat bedeutet „Diebstahl geistigen Eigentums“ und kann demnach auch juristisch relevant sein. Das zeigen mehrere Präzedenzfälle, auch in Frankreich. Ein Plagiat in einer wissenschaftlichen Arbeit könne unter den Straftatbestand einer Fälschung („contrefaçon“) laut dem „Code de la propriété intellectuelle“ fallen, erklärt der Anwalt William Mak im Gespräch mit Reporter.lu. Dazu müssten allerdings einige Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehört, dass jemand, etwa ein von einem Plagiat betroffener Autor, die Fälschung anzeigt.

„Die Autoren, von denen abgeschrieben wurde, könnten fordern, die weitere Nutzung der plagiierten Arbeit zu verbieten, oder auf Schadensersatz klagen“, erklärt William Mak. Einen solchen Fall gab es vor acht Jahren in Toulouse. Dort hatte eine Doktorandin 44 von insgesamt 150 Seiten aus einer Masterarbeit abgeschrieben. Die Staatsanwaltschaft forderte daraufhin 5.000 Euro als Geldstrafe.

Das direkte Übernehmen von Textpassagen ohne Kennzeichnung des ursprünglichen Autors war schon immer Plagiat.“Anna-Lena Högenauer, Politikwissenschaftlerin

Im Fall von Xavier Bettels Abschlussarbeit sind manche Urheber der nicht zitierten Werke bereits verstorben. Auch bei den anderen Autoren ist eine Anzeige eher unwahrscheinlich, denn der theoretische Schaden hält sich im Fall der DEA-Arbeit in Grenzen. Der in Fragen des geistigen Eigentums spezialisierte Pariser Anwalt weist jedoch darauf hin, dass auch die Staatsanwaltschaft sich selbst einschalten kann.

Allerdings gilt in Frankreich für solche Fälle prinzipiell eine Verjährungsfrist von fünf Jahren. Xavier Bettels Arbeit aus dem Jahre 1999 könnte demnach nicht rechtlich belangbar sein. Doch auch dazu gibt es Ausnahmen. „Wenn die Fälschung weiterhin öffentlich genutzt wird und zugänglich ist, könnte ein Gericht entscheidenden, dass die Frist noch nicht abgelaufen sei“, so William Mak. Das sei zwar nicht die Regel, aber prinzipiell möglich.

Die meisten Plagiatsfälle von Abschlussarbeiten würden übrigens vor Gericht landen, weil der Autor die Entscheidung der Universität anfechte, ihm sein Diplom zu entziehen, erklärt William Mak noch. Auch dies ist im Fall von Xavier Bettel aber eher unwahrscheinlich.

Kuriose Verteidigungslinie

Ein mögliches Verfahren wegen Fälschung würde der Plagiatsaffäre um Xavier Bettel natürlich eine ganz neue Dimension verleihen. Bisher dreht sich die Affäre aber um den Befund an sich und dessen wissenschaftliche Beurteilung. Eine durchaus kreative Position vertritt dabei der frühere Betreuer des heutigen Premiers an der Universität Nancy, Etienne Criqui.

Zunächst hatte der ehemalige „Directeur de thèse“ von Xavier Bettel im Gespräch mit Reporter.lu plagiierte Passagen in der besagten Abschlussarbeit eingeräumt. Im Interview mit „Paperjam“ behauptete der Professor dann, dass im Jahre 1999 Plagiate in solchen Arbeiten durchaus üblich gewesen und kein wirkliches Problem seien. Nun, gegenüber „Radio 100,7“, behauptet Criqui auf einmal, dass es sich bei Bettels Arbeit doch nicht um ein Plagiat handele. Seine Argumente sind verblüffend – und leicht widerlegbar.

Dass Etienne Criqui weiter an seinem ehemaligen Studenten und dessen Arbeit festhält, ist jedoch kaum überraschend. Denn sollte die Université de Lorraine den Plagiatsfall offiziell bestätigen, steht auch die Reputation von Etienne Criqui auf dem Spiel. In der internen Untersuchung der Universität könnte auch die Frage aufgeworfen werden, wie eine zu überwältigenden Teilen aus Plagiaten bestehende Abschlussarbeit überhaupt erst angenommen werden konnte.

Im wissenschaftlichen Betrieb stoßen die Erklärungsversuche von Etienne Criqui auf Verwunderung und Widerstand. Vor allem geht es dabei um die Aussage, wonach es 1999 andere akademische Standards gegeben habe als heute. "Das direkte Übernehmen von Textpassagen ohne Kennzeichnung des ursprünglichen Autors war schon immer Plagiat“, sagte etwa die Politologin Anna-Lena Högenauer gegenüber „RTL“. Der Historiker Benoit Majerus sprach im Gespräch mit dem "Tageblatt" von einer "Ausrede" des ehemaligen Betreuers von Xavier Bettel.

"Fast schon kafkaesk"

Auch Philippe Poirier, Politikwissenschaftler an der Uni Luxemburg, zeigte sich überrascht über die Aussagen seines französischen Kollegen. "Die wissenschaftlichen Kriterien waren exakt die gleichen wie heute", so der Inhaber des Lehrstuhls für parlamentarische Studien im Interview mit "Radio 100,7". Die Kriterien für wissenschaftliches Arbeiten in den Rechts- und Sozialwissenschaften seien bereits "zu Beginn des 19. Jahrhunderts" festgelegt worden.

Es ist einfach nicht nachvollziehbar, wenn er sagt, er habe das 'nach bestem Wissen und Gewissen' getan. Das kann nicht sein."Romain Jeblick, Direktor von "Luxorr"

Zu diesen Kriterien gehört natürlich auch das Verbot des Plagiats, also der Übernahme fremder Texte ohne adäquates Zitieren. Allein die Tatsache, dass sich in Xavier Bettels Abschlussarbeit keine einzige Fußnote oder Anmerkung als Verweis auf andere Quellen befindet, ist außergewöhnlich und hätte jeden Betreuer hellhörig machen müssen. „Ich habe in meinem Leben noch nie eine Bachelor- oder Masterarbeit gesehen, in der es keine Quellenangaben gab. Das ist ein Kuriosum, dass so etwas eingereicht wurde und bestanden hat“, sagte Anna-Lena Högenauer im Gespräch mit "RTL".

Noch deutlicher wurde der Direktor von "Luxorr", einer Organisation, die sich in Luxemburg für die Verteidigung von Urheberrechten einsetzt. Selbst ein absoluter Laie hätte sich fragen müssen, warum in dieser Abschlussarbeit keine einzige Fußnote zu finden sei, so Romain Jeblick im Interview mit "RTL". Die Verteidigungslinie von Etienne Criqui sei demnach "fast schon kafkaesk".

Plagiat ist nicht gleich Plagiat

Doch auch die bisherige Reaktion des Autors von „Vers une réforme possible des modes de scrutin aux élections du Parlement Européen?“ stößt bereits auf massive Kritik. Es sei nicht nachzuvollziehen, wenn Xavier Bettel sage, er habe das "nach bestem Wissen und Gewissen" gemacht. "Das kann nicht sein", so Romain Jeblick. Selbst wenn man dem Premier aus heutiger Sicht glauben wolle, wäre seine Vorgehensweise damals "nicht sehr intelligent" gewesen, so der Direktor von "Luxorr".

Fest steht für alle zitierten Experten: Xavier Bettel hat die Grundvoraussetzung für eine wissenschaftliche Arbeit nicht erfüllt. In diesem Kontext weist Anna-Lena Högenauer auf einen entscheidenden Unterschied im Umgang mit wissenschaftlichen Plagiaten hin. In Deutschland mussten bereits mehrere Politiker wegen Plagiatsaffären zurücktreten. Jedoch nicht alle. Ursula von der Leyen konnte etwa sowohl ihren Doktortitel behalten als auch ihr damaliges Mandat als Ministerin weiter ausüben.

Der frühere Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg verteidigte sich zunächst vehement gegen die gegen ihn erhobenen Plagiatsvorwürfe, trat jedoch auf hohen öffentlichen Druck hin im März 2011 von allen politischen Ämtern zurück. (Foto: Deutscher Bundestag/Thomas Koehler)

„Bei Ursula von der Leyen wurden auch erhebliche Teile der Arbeit plagiiert, aber dies betraf nicht den Schwerpunkt der Arbeit“, sagt Anna-Lena Högenauer. Plagiate betrafen hauptsächlich die Einleitung. Jedoch zeichnete sich die Arbeit durch eine klare Eigenleistung der CDU-Politikerin in der Analyse aus, die auf eigener Forschung beruhte. Dort konnten keine Textübernahmen festgestellt werden. Meistens hatte von der Leyen auch nicht einfach Texte ohne Quellenangabe kopiert, sondern längere Passagen paraphrasiert. Außerdem wurde am Ende dieser Passagen in der Regel eine Quelle genannt. Dadurch entstand der Eindruck einer unsauberen Arbeitsweise, aber der Verdacht auf vorsätzliches Handeln war schwerer zu erhärten.

Damit unterscheidet sich die Doktorarbeit der heutigen Präsidentin der Europäischen Kommission grundlegend von der Abschlussarbeit des wohl bekanntesten Plagiatsfalls eines Politikers. Der Fall Karl-Theodor zu Guttenberg sei jedenfalls grundlegend anders gelagert, denn das Ausmaß des Plagiats sei überwältigend gewesen, erklärt Anna-Lena Högenauer. „Würde man die plagiierten Passagen der Arbeit löschen, bliebe nicht mehr viel übrig“, so die Politologin über die Doktorarbeit des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers.

Plagiate als Betrugsversuch

Das Gleiche könnte jedoch auch auf Xavier Bettel zutreffen. Die Abhandlung des heutigen Luxemburger Premiers war zwar keine Doktorarbeit. Doch das Ausmaß des Plagiats spielt in der gleichen Liga wie Guttenberg. Allein deshalb kann sich Xavier Bettel auch nicht so einfach aus der Affäre ziehen. Der Premier wolle das Ergebnis der Untersuchung der Universität in Nancy abwarten und in jedem Fall akzeptieren, hieß es am Mittwoch in der ersten und bisher einzigen Stellungnahme aus dem Staatsministerium.

Doch selbst dann wäre der Kern der Affäre noch nicht ausgestanden. Denn letztlich geht es bei der ganzen Affäre um Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und einen möglichen Täuschungsversuch. "Ein Kriterium von wissenschaftlicher Arbeit ist Ehrlichkeit", sagte Romain Jeblick bei "RTL". Auch Benoit Majerus wird an dieser Stelle deutlich: "Dass Studenten betrügen, hat es schon immer gegeben – der Student Xavier Bettel hätte aber erwischt werden müssen", so der Historiker im Interview mit dem "Tageblatt".

Xavier Bettel schloss nicht nur das fragliche "Diplôme d’études approfondies" in Nancy ab, sondern ist auch Ehrendoktor der "Sacred Heart University" sowie einer Universität in Bukarest. (Foto: SIP/Julien Warnand)

Das Kopieren von mehrseitigen Passagen sei „keine Bagatelle“, sagt Anna-Lena Högenauer. „Im Prinzip geht es um Diebstahl von intellektuellem Eigentum. Wenn ich eine Idee übernehme, ohne das zu kennzeichnen, schadet das dem ursprünglichen Autor." Dabei ist ein versehentliches oder lediglich fehlerhaftes Vorgehen höchst unwahrscheinlich. „Man kann nicht aus Versehen mehrere Seiten abschreiben“, formuliert es die Politologin.

Die Empörung der akademischen Gemeinschaft spielte übrigens auch bei vergangenen Plagiatsaffären im Ausland eine wichtige Rolle. Für die Wissenschaftler geht es dabei nicht nur um die Vorbildfunktion eines Spitzenpolitikers, sondern um den Kern ihrer beruflichen Ethik. „Ich sehe jeden Tag Studenten, die manchmal in schwierigen Situationen kämpfen, um ihre Abschlussprüfungen zu schaffen." An das habe er auch im Fall Xavier Bettel denken müssen. "Es ist eine sehr traurige Sache“, sagte der Politologe Philippe Poirier.

Es gibt übrigens eine weitere Parallele zum Fall Karl-Theodor zu Guttenberg. Xavier Bettel gebrauchte am vergangenen Mittwoch nämlich nahezu genau die gleiche Formulierung wie der ehemalige deutsche Verteidigungsminister, nachdem dessen Plagiatsaffäre publik geworden war. "Ich habe die Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen angefertigt", sagte Guttenberg vor über zehn Jahren. "Meiner Erinnerung nach habe ich dies damals nach bestem Wissen und Gewissen getan", lautete die erste Reaktion des Luxemburger Premiers.


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