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Kaliningrad will jetzt mehr Königsberg sein

Die russische Stadt blüht auf, immer mehr Menschen zieht es dorthin. Das Interesse an der Vergangenheit ist groß. Die deutschen Wurzeln der Enklave sind den Bürgern in Kaliningrad nicht mehr peinlich. Mag das neue Selbstbewusstsein etwas überraschend sein, so verhilft es der Stadt zu altem Glanz.

Sie drängen sich im Halbkreis um einen Glaskasten, der wie ein gläserner Schrein in der Mitte des Kuppelsaals steht. Das alte Königsberg in Miniaturausgabe. Im nagelneuen Europa-Center Kaliningrads, die 60.000 Quadratmeter große Shoppingmall am Siegesplatz (früher Hansaplatz), ist ein Modell der untergegangenen Altstadt aufgebaut, und die Kaliningrader recken die Hälse, um Einzelheiten zu erspähen: das Pregelufer mit seinen historischen Fachwerkhäusern, die Dominsel mit der alten Universität, Parks, Grünanlagen - aber wo ist das Schloss? Jedes Haus, jede Fassade, jeder Giebel, jedes Dach ist im Maßstab 1:200 penibel nachgebildet worden. Das Schloss ist nicht zu finden.

Über die Lautsprecher ertönt die Stimme von Wilhelm von Boddien, dem Initiator und Inspirator für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. "Wir wissen, dass es in Kaliningrad eine Diskussion gibt, ob auch hier das Schloss wieder aufgebaut werden soll und in welcher Form eine neue Altstadt einmal entstehen könnte. Wir wollen uns in diese Diskussion nicht einmischen, aber zeigen, wie Ihre Stadt einmal aussah."

Die ganze Liebe zur Heimatstadt

Die Leute vor dem Glaskasten, lassen sich vom Redeschwall der vier Festredner nicht abhalten, sie fahren mit den Fingern in der Luft die Straßen schon mal entlang. Ganz leicht ist diese unbekannte Stadt in der Brachfläche des heutigen Kaliningrader Zentrums nicht zu verorten. Erläuterungstafeln weisen den Weg zu zentralen Orten und Leitbauten der einstigen Innenstadt. "Altstadtskij Rynok" (Altstädtischer Markt), "Torgowyi Dom Karstadt" (Warenhaus Karstadt) und "Pl. Kaisera Wilchelma" (Kaiser-Wilhelm-Platz) steht da in kyrillischen Lettern, und die jungen Frauen mit Miniröcken und nadelspitzen Pumps buchstabieren es Zeichen für Zeichen nach.

Von Boddien verhehlt nicht seine Rührung. Der Schöpfer des Modells, Horst Dühring, habe "seine ganze Liebe zu seiner Heimatstadt in dieses Modell hineingebaut und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass es einmal eine würdige Aufstellung findet." Nirgends sei das heute so sehr gewährleistet wie in Kaliningrad. Und deshalb solle das Modell, das aus 48 Einzelteilen besteht, der Stadt als "Dauerleihgabe" überlassen werden, als "Geste der Freundschaft zwischen Deutschland und Russland".

Tatsächlich ist die deutsche Vergangenheit der Stadt heute kein Tabu in Kaliningrad mehr. Sie erlebt im Gegenteil gerade eine von niemand erwartete Renaissance. Dass das erst von Breschnjew geschleifte Schloss wiederaufgebaut werden könnte, ja dass sogar Teile der von den Engländern in Grund und Boden gebombten Altstadt neu errichtet werden könnten, wird in der Stadt offen diskutiert. Zwar musste Stadtarchitekt Alexander Baschin, energischster Vorkämpfer dieser Idee, erst eben sein Amt aufgeben. Aber umso größere Hoffnungen macht sich nun Arthur Sarnitz, Kaliningrader aus estnischer Familie, seine noch viel umfassenderen Pläne umsetzen zu können.

Wie es einmal war - im Internet

"Baschin plante banale Nutzungen im Königsschloss, und seine Altstadt wäre eine aus der Fantasie geborene Glamour- und Kasinostadt geworden. Wir wollen in der Altstadt und auf der Kneiphof-Insel ein getreues Abbild des einstigen Stadtzentrums schaffen", sagt Sarnitz. Auf seiner Internetseite www.altstadt.ru präsentiert der 43-Jährige 3-D-Simulationen ganzer Straßenzüge. Von Kaliningrad aus hat er Kontakte zu dem Berliner Architekten Baldur Koester geknüpft und sich der Unterstützung von Spezialisten aus Polen versichert, die am Wiederaufbau historischer Städte beteiligt waren. Für die Realisierung fehlt nur noch das Wichtigste, das Geld.

"Die Kaliningrader sind in der Mehrheit noch nicht überzeugt", räumt Sarnitz ein, manchen bösen Brief habe er bekommen. Doch der Mann in schwarzer Kluft mit schwarzer Kappe, der deutsche Gesprächspartner immer wieder mahnt: "Sagen Sie Königsberg, nicht Kaliningrad!", ist optimistisch. Kaliningrad sei Stadtgebilde ohne Wurzeln. "Wir müssen uns öffnen, auch für die Geschichte."

Das sieht man, an Reminiszenzen an die deutsche Historie Königsbergs mangelt es nicht: Die neuen Glasfenster des wiederaufgebauten Doms sind wieder vom preußischen und vom brandenburgischen Adler geziert, und "Marggraff Albrecht von Brandenburg" (so das Schriftband in deutscher Fraktur) blickt aus dem Spitzbogenfenster mit gerecktem Schwert grimmig ins Kirchenschiff hinab. In der Seitenkapelle prangt hinter dem Altarkreuz das Porträtfoto der Königsberger Dichterin Agnes Miegel, ihr Wohnhaus schmückt eine Gedenktafel. Und erst vor zwei Jahren wurde die Universität auf den Namen Kants getauft, vom Denkmalsockel im Park grüßt sein nachgeschaffenes Standbild mit dem Hut in der Hand.

Überraschende Dynamik

"Unser Bild von Kaliningrad ist zehn Jahre alt", hatte Wilhelm von Boddien in seiner improvisierten Shoppingcenter-Rede eingestanden, die "Dynamik" der Stadt habe ihn "völlig überrascht". In den von den Bomben verschonten Villen- und Gründerzeitvierteln Hufen, Maraunenhof oder Amalienau haben die Fassaden frische Farbe aufgelegt und lassen bei deutschen Besuchern für Momente die Illusion aufkommen, als habe es sie nicht in eine fremde Zeitzone verschlagen (zu der das Gebiet um das einstige Königsberg seit Inbesitznahme durch Russland gehört).

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Kaliningrad erneuert sich, weil sich die Stadt der mitteleuropäischen Wurzeln seiner Kultur bewusster wird. Die Scheu der Vergewisserung über die Ursprünge und Schicksale der Stadt weicht 63 Jahre nach Kriegsende. Vor dem Dom steht die gewaltige Skulptur Herzog Albrechts, als sei sie niemals vom Sockel geholt und zerstört worden. Die Bastionen der preußischen Festungswerke sind fast komplett instand gesetzt und glänzen in frischem Ziegelrot.

In den Giebel des Friedländer Tores ist die von Petersburger Bildhauern neu in Stein gemeißelte Figur des Hochmeisters Friedrich von Zollern zurückgekehrt. In seinen Wachstuben läuft eine Ausstellung über Königin Luise von Preußen. In der Torhalle werden Filme des alten Königsberg mit deutschen und russischen Untertiteln gezeigt. In Vitrinen bestaunen Besucher Alltagsgegenstände aus deutscher Vergangenheit vom "Damen-Gummischuh" bis zum Soldatenstiefel, vom Fläschchen Hoffmannstropfen bis zum Kleiderbügel mit dem fast verblichenen Aufdruck "Gebrüder Siebert, Königsberg i.Pr.", Bruchstücke erloschenen Lebens, die die Erde Königsbergs wie ein antikes Erbe bis heute umschlungen hielt.

russische und deutsche Kultur

Keine Stadt hält es auf Dauer aus, ohne Gedächtnis zu leben. Die Erforschung und Rekonstruktion selbst der dunkelsten Stunden wird zur Notwendigkeit der Selbstfindung. Die "Mars", das in Bremen gebaute Schiff, das vielen Flüchtlingen das Leben gerettet hat, liegt wie abfahrbereit in ein Land hinter den Horizonten als Museumsschiff im Hafen. Und auf dem Platz vor der Universität ist der Bunker zur Besichtigung freigegeben, in dem der Verteidiger Königsbergs, General Otto Lasch, am 9. April 1945 die Kapitulation überreicht hat.

Viele Zeugnisse der großen Vergangenheit des einstigen Königsbergs sind jedoch ausgelöscht. Die sechsspurigen Straßen, die die Stadt zerschneiden, die schmuddeligen Fassaden brüchiger Plattenbauten, die sie säumen, die Statuen Peters des Großen, die die deutschen Fürsten von ihren Postamenten vertrieben haben, und selbst der Pomp der neuen Villen, der in die alten bürgerlichen Wohnviertel der Vorkriegszeit Einzug hält, zeugen von einem Geist, der dem preußischen Königsberg fremd war.

Falsch wäre es, das Ineinander von russischer und deutscher Kultur, das sich so an keinem zweiten Ort der Welt beobachten lässt, als ein vorübergehendes Ereignis zu betrachten. Forscher der Kant-Universität suchen den Kontakt zu deutschen Kollegen, Chöre, Organisten und Berater werden ausgetauscht. Bis in die Infrastruktur reichen die Verflechtungen. "Sehen Sie mal die Stadtbusse", sagt ein deutsche Verkehrsingenieur. "Der da kommt aus Köln. Viele Kaliningrader Straßenbahnen rollen auf deutschen Rädern."

Die Arbeitslosigkeit ist auf drei Prozent gesunken, die Stadt, die nach Meinung vieler Russen möglichst bald ihren angestammten Namen Königsberg annehmen sollte, wächst unablässig. Schon heute hat sie mit einer halben Million rund ein Drittel mehr Einwohner als vor dem Krieg.

Es wird fieberhaft gebaut, bis 2010 werden 300.000 Neubürger erwartet. Das kann das Interesse an der Vergangenheit der Stadt noch steigern: "Das Einzige, was die seit Kriegsende aus allen Teilen Russlands eingewanderten Bürger der Stadt verbindet, ist ja die besondere Geschichte dieser Stadt," sagt Guido Herz, der deutsche Generalkonsul.

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