"Das Rudel braucht den Wolf": Spekulationen um Putins Gesundheit | BR24
Der Präsident mit einer Unterlage vor russischen Fahnen
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Wladimir Putin am Schreibtisch

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"Das Rudel braucht den Wolf": Spekulationen um Putins Gesundheit

Mit dem russischen Präsidenten sei "alles in Ordnung", beteuerte Kremlsprecher Dmitri Peskow und zeigte sich amüsiert über "Doppelgänger"-Gerüchte. Politologen behaupten: "Diktatoren existieren überhaupt nur in zwei Varianten - kerngesund oder tot."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Es war nicht das erste Mal, dass sich Kremlsprecher Dmitri Peskow zu angeblichen Doppelgängern von Putin äußerte. Doch seine neueste Wortmeldung sorgte für Aufsehen: "Mit Putin ist alles in Ordnung", so Peskow, alle gegenteiligen Behauptungen seien "lächerlich". Manche Medien würden mit "beneidenswerter Beharrlichkeit" das Gerücht verbreiten, Putin liege im Sterben und werde schon lange durch einen ähnlich aussehenden Statisten ersetzt. Gemeint sind damit obskure Telegramm-Kanäle wie "Geheimdienst-General", die teilweise mehrere hunderttausend Abonnenten haben. Dort war aktuell zu lesen, Putin habe einen "Herzanfall" erlitten und liege auf einer privaten Intensivstation. Andere Blogger wollten erfahren haben, dass am 21. Oktober ein weiteres "Reanimationsteam" in Putins Residenz stationiert worden sei.

Möglicherweise sah sich Peskow deshalb zu einer unmittelbaren Reaktion und Klarstellung genötigt. Bereits vor einigen Monaten hatte der Sprecher versichert, Putin sei "megaaktiv" und könne um seine Energie nur beneidet werden. Ständig versorgt Peskow die Propaganda-Medien mit der echten oder vermeintlichen Tagesordnung des Präsidenten.

"Im Wolfsrudel gibt es keinen anderen Weg"

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der skurrilen Gerüchte schreibt der russische Publizist Anatoli Nesmijan: "Ein Diktator existiert in jedem Land nur in zweierlei Formen: entweder ist er kerngesund oder tot. Es gibt keine Zwischenzustände. Krankheit ist für ein himmlisches Wesen ein völlig undenkbarer Zustand, ein kranker Diktator ist daher Unsinn. Freunde und Mitstreiter könnten sofort das Herrschaftsrecht in Frage stellen. In einem Wolfsrudel gibt es keinen anderen Weg. Daher wird Peskow alle Hinweise, Gerüchte und Informationen widerlegen, selbst über einen Splitter in Putins Finger. Danach wird er uns, ohne Luft zu holen, innerhalb einer Stunde seinen frühen Tod mitteilen. Unter unseren Bedingungen kann es nicht anders sein."

Mit anderen Worten: Der Kreml wird schwerlich jemals die "Wahrheit" über Putins Befindlichkeit verbreiten, schon gar nicht wenige Monate vor der nächsten Präsidentschaftswahl. "Man hat den Eindruck, dass der Präsident jetzt fast im Alleingang für die gesamte Propagandamaschinerie, für die Armee mit Sicherheitskräften und Strafverfolgungsbeamten, für die Regierung und für den inländischen Gesetzgeber arbeitet", so der Eindruck von Blogger "Meister der Feder" (56.000 Fans). Er vertritt die Ansicht, dass der Leitwolf zwar kein Rudel benötige, umgekehrt das Rudel aber sehr auf ihn angewiesen sei.

Steuert Putin Russland inzwischen "manuell"?

"In Bezug auf das gegenwärtige [russische] Machtsystem ist dieser Widerspruch immer noch nicht überwunden, daher gelten beide Regeln gleichermaßen, aber der Führer muss sich offensichtlich von Monat zu Monat intensiver anstrengen, um den Karren des Staates zu ziehen, ihn aus den Gruben und Sümpfen heraus zu bekommen und gleichzeitig den ermutigenden Eindruck zu erwecken, es gebe eine souveräne Aufwärtsbewegung mit klar funktionierenden Etappen." Putin scheine Russland inzwischen "händisch" zu steuern und werde als ebenso so "unersetzlich" dargestellt wie Xi Jinping in China. Es gebe allerdings einen Unterschied: In China werde Xis Sonderstellung dadurch unterstrichen, dass andere Führungspersönlichkeiten ausgetauscht werden, in Russland blieben alle wichtigen Kader im Amt.

Diese Ansicht wurde von Beobachtern bestätigt. Die Macht sei in Russland seit Jahrzehnten "extrem personalisiert". Der "Schirm der Unentbehrlichkeit" Putins werde womöglich seinen Schatten auch auf seinen engsten Führungskreis werfen, solange der "geopolitische Sturm" tobe: "Aber nach seiner Beendigung werden höchstwahrscheinlich alle angestauten Veränderungsbedürfnisse auf einmal befriedigt, und zwar nicht nur in Personalfragen, sondern in einem viel größeren Umfang."

"Nimm den Menschen nicht die letzte Hoffnung"

Wie instabil autoritäre Regime durch die "Unersetzlichkeit" ihrer Führerfigur sind, ist den Geschehnissen um Stalins Tod am 5. März 1953 zu entnehmen, die im Film "The Death of Stalin" 2018 satirisch überspitzt dargestellt wurden. In den umstrittenen "Memoiren" von Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow ist ausführlich und ausgesprochen unterhaltsam nachzulesen, wie schwer sich die Mitglieder des engsten Führungskreises taten, die Machtfrage zeitnah zu klären. Geheimdienstchef und Stalin-Vertrauter Lawrenti Beria wurde wenige Monate später hingerichtet.

Russische Leser amüsieren sich köstlich über die bizarre "Doppelgänger"-Debatte und Peskows Glaubwürdigkeit: "Bis zu Peskows Kommentar glaubten wir bereits, dass alles in Ordnung sei und hatten fast keinen Zweifel daran, dass keine Doppelgänger existieren. Aber wenn man berücksichtigt, dass alle Worte Peskows genau umgekehrt verstanden werden müssen, können wir die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen." Putin sei offenbar so fit, dass er "an drei Orten gleichzeitig" arbeiten könne, hieß es. Alle Gerüchte um Krankheiten seien selbstverständlich falsch: "Peskow, nimm den Menschen nicht ihre letzte Hoffnung." Mit dem Herz könne Putin gar keine Probleme haben, er habe ja keines. Einst habe der Kreml sogar Putins Scheidung dementiert, meinte ein Kritiker, was nicht für dessen Verlässlichkeit spreche. Ein weiterer schrieb: "Ich drücke die Daumen, dass es nicht lange dauert."

"Nun, warum protestieren?"

Putin werde wegen des Wahlkampfs gerade "neu erfunden", analysiert ein Experte. Er sei medial deutlicher präsenter und vertraue einem Team von "mutigen Patrioten, Militärs, Charismatikern und Freiwilligen". Sie alle betrachteten sich als "Auserwählte" und stellte eine eigene "Kaste" dar. Drei Kriterien zeichneten sie aus: Geschlossenheit, Risikoscheu und und Anpassungsfähigkeit: "Für Putin ist wichtig, die persönliche Kontrolle zu behalten, ohne sie an die Präsidialverwaltung zu delegieren. Es ist wichtig, Feinde so weit wie möglich zu entfernen, bis die passenden Regierungs- und Verwaltungseinheiten gebildet sind." Heikel sei die Integration der unwilligen Patrioten, denen alles viel zu lasch sei und die zum Beispiel auf eine unpopuläre weitere Mobilisierung drängen.

Polit-Blogger Sergej Udalsow vertritt die schräge These, dass womöglich Kreml-Insider hinter den Gerüchten um Putins Gesundheitszustand steckten: "Nun, warum protestieren, zu Wahlen gehen [um oppositionelle Kandidaten zu wählen] und auf andere Weise aktiv seine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, wenn Putin angeblich in den letzten Zügen liegt?" Einfältige Russen, die Gerüchten leicht zugänglich seien, würden jedenfalls zu einer "passiven und abwartenden Haltung" tendieren und demnach nicht systemkritisch handeln. Politologe Georgij Bovt verwies augenzwinkernd darauf, dass Putin neulich strategische Ziele bis 2036 verkündete, offenbar gerichtet an die "Sekte der gläubigen Anhänger der Lehre von der tödlichen Erkrankung" des Präsidenten: "Die können es ja kaum erwarten."

"Alle Querverweise verstärken nur den Verdacht"

Letztlich sei das Thema nur für einen "kleinen Teil" der russischen Bevölkerung von Belang, meint ein weiterer Autor, allerdings sei es besser, eine aufkeimende Diskussion um Putins Alter (71) und Befindlichkeit gleich zu Beginn des "Wahlkampfs" abzuräumen, was Peskow offenbar versucht habe. Der beste Weg, diesbezüglich für Klarheit zu sorgen und Mythenbildungen zu bekämpfen, sei es, einen medizinischen Bericht über Putins Gesundheit zu veröffentlichten, hieß es im Portal "Russland kurzgefasst" mit knapp 500.000 Fans: "Alle Querverweise verstärken nur den Verdacht." Dass der Kreml tatsächlich Daten über Putins Gesundheit verbreitet, wie es im Weißen Haus in Washington üblich ist, erscheint allerdings mehr als fraglich.

Derweil macht im scharfen Kontrast zur "Gesundheit" von Putin die "Todesserie von Top-Managern" der russischen Wirtschaft Schlagzeilen. Zuletzt war Lukoil-Chef Wladimir Nekrassow nach einem "Fenstersturz" tot aufgefunden worden. In der Regel wird vom Kreml lanciert, sie hätten sich selbst getötet oder seien "Herzanfällen" erlegen. Nicht alle Beobachter teilen diese Meinung, und Propagandisten sparen nicht mit vergiftetem Mitgefühl: "All das deutet darauf hin, dass Manager in russischen Unternehmen genauso stark unter der Spezialoperation und einer allgemeinen nationalen Depression leiden wie normale Russen. Für Top-Manager wird alles noch dadurch verschärft, dass sie nicht in ihre Lieblingsresorts reisen können, keine europäische medizinische Behandlung erhalten und geschäftlich isoliert sind. Es stellt sich heraus, dass es sich mal wieder um die fast philosophische Frage handelt. Wer hat es in Zeiten schwerer Umbrüche schwerer: die Reichen oder die Armen?"

Autorallye mit dem Protz-Wagen "Antilope Gnu"

"Putin gibt eine zwar falsche, aber einfache und verständliche Antwort auf die Frage, was Russland retten wird", so der in London lehrende Politologe Wladimir Pastuchow: "Diese Antwort heißt Krieg. Und da es keine anderen klaren Antworten gibt, akzeptierten die Russen diese Antwort als die einzig mögliche und richtige. Das heißt, Putin verkauft Russland eine alte Zivilisation zum Preis einer neuen und gibt alte, überholte Ideen als innovativ aus. Tatsächlich ist er ein Zivilisations-Vernichter, der sich zum Start einer Autorallye auf die Überholspur der russischen Geschichte begeben hat und fleißig Bestechungsgelder von Leuten kassiert, die er mit seiner 'Antilope Gnu' [protziges Auto aus der legendären russischen Satire "Das Goldene Kalb"] geblendet hat." Das erwähnte Fahrzeug mit dem skurrilen Namen spielt die Hauptrolle in einem Roman von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow aus dem Jahr 1931, wo sich zwei Gauner auf die (illegale) "Jagd nach der Million" machen - weil es zu "langweilig" sei, den Sozialismus aufzubauen.

Ähnlich sarkastisch liest man beim Politologen Konstantin Kalaschew: "Die Aufspaltung der Menschen in diejenigen, die das Recht verteidigen, ihren eigenen Verstand einzusetzen und diejenigen, die ihre geistige Tätigkeit dem kollektiven 'Geist' anvertrauen, gab es schon immer. Aber das verursachte nicht so viel Unbehagen wie jetzt, wo der kollektive 'Wahnsinn' den kollektiven 'Geist' ersetzte. Schlimmer noch: Früher überschnitten sich diese beiden Sphären kaum, jetzt gehört der private Raum der Vergangenheit an."

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