Im August 1992 sahen sich die beiden Männer, die vor allem der Traum von der deutschen Einheit verband, ein letztes Mal. Der Sozialdemokrat äußerte den Wunsch, nicht die SPD, sondern das Kanzleramt möge die Nachricht von seinem Ableben bekannt geben.

Hamburg. Helmut Kohl verband in seiner politischen Laufbahn viele Charaktereigenschaften. Er war machtbewusst und konnte eiskalt mit dem politischen Gegner umgehen. Auch mit denen in seiner eigenen Partei. CDU-Politiker wie Rita Süßmund, Richard von Weizsäcker, Lothar Späth oder Heiner Geißler können ein Lied von der Unbarmherzigkeit singen, mit der Kohl sie verfolgte oder schlicht fallen ließ, wenn es ihm opportun schien. Sein langjähriger designierter Nachfolger Wolfgang Schäuble musste dies im Wahlkampf 1998 erfahren.

Helmut Kohl zum Feind zu haben konnte das Ende einer Karriere bedeuten. Zum "System Kohl" zu gehören barg dagegen Chancen schnellen Aufstiegs. Ihn jedoch zum Freund zu haben eröffnete jenen, die es erfahren haben, die Möglichkeit, eine ganz andere Seite dieses Politikers kennenzulernen: die eines treuen und höchst empfindsamen Mannes, der zu tiefen Gefühlen fähig ist.

Ob Ronald Reagan oder François Mitterrand, Boris Jelzin oder Michail Gorbatschow - sie alle fanden in dem Mann aus der rheinland-pfälzischen Provinz einen zuverlässigen Freund. Im dritten Band seiner "Erinnerungen", die den Zeitraum zwischen 1990 und 1994, also das Herzstück seiner Regierungszeit, umfassen, schildert er nun auch detailliert seine Beziehung zu Willy Brandt.

Noch im ersten Band seiner Erinnerungen hatte Kohl die Erfahrungen mit Brandt, wie der Historiker Hans-Peter Schwarz damals schrieb, "irgendwie und etwas verlegen dazwischengepackt". Nun ist dieses Kapitel neben der tragischen Geschichte über die Erkrankung seiner Ehefrau Hannelore eine der rührendsten Passagen überhaupt, eine, in der die vor allem im zweiten Band erkennbare autobiografische Rechtfertigung einer sehr menschlichen und nachdenklichen Betrachtung weicht.

Kohl und Brandt kannten sich seit den 60er-Jahren. Der SPD-Politiker war damals Regierender Bürgermeister von Berlin, der CDU-Politiker Fraktionschef im rheinland-pfälzischen Landtag. Es waren eher flüchtige Begegnungen, die sich erst in der Zeit der Großen Koalition (1966-1969) intensivierten. Kohl hatte mit dem damaligen Außenminister Brandt gelegentlich landespolitische Gesichtspunkte zu erörtern.

Seit 1973 gab es, wie sich Kohl erinnert, dann regelmäßige Kontakte zum damaligen Kanzler Brandt. Sie seien "frei von Gehässigkeiten" gewesen. "Ich war der junge Parteivorsitzende und Ministerpräsident, und er war der berühmte Willy Brandt, SPD-Vorsitzender und Bundeskanzler", schreibt Kohl. Aus einem respektvollen wurde seit 1982 ein "freundschaftlicher Grundton". Bei regelmäßigen Treffen besprachen nun der CDU-Kanzler und der SPD-Chef Fragen der Europa-Politik und der Dritten Welt.

Eine zwischenmenschlich noch tiefere Beziehung entwickelte sich, als sich dann die deutsche Einheit abzeichnete, ein Traum, der beide Männer verband. Er verdanke ihm viel klugen Rat und habe sich stets auf seine Unterstützung im Einigungsprozess verlassen können, fasst Kohl in seinen Erinnerungen zusammen. Brandts Satz "Es wächst zusammen, was zusammengehört" hat für Kohl, wie er bewundernd formuliert, geschichtlichen Charakter. Brandt war da schon von schwerer Krankheit gezeichnet.

Im Sommer 1992 sahen sich die beiden Männer zum letzten Mal. Kohl besuchte Brandt am 27. August in dessen Haus. Obwohl schon todkrank, hatte sich der SPD-Ehrenvorsitzende vollständig angekleidet und erwartete seinen Gast. Auf Kohls Frage, warum er denn aufgestanden sei, lautete Brandts Antwort: "Wenn mein Bundeskanzler kommt, bleibe ich nicht im Bett liegen."

In dem dann folgenden Gespräch, so erinnert sich Kohl heute, ging es vor allem um den Tod. Zur Überraschung des CDU-Chefs verabredete Brandt mit ihm die Einzelheiten der Trauerfeier. Der spanische Ministerpräsident Felipe Gonzales solle die Trauerrede halten, auch wolle der Kanzler, der für seine Ostpolitik 1971 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, einen Staatsakt mit militärischen Ehren. Nie, so schreibt Kohl, seien sich die beiden sonst so verschiedenen Männer so nah gewesen wie bei dieser letzten Begegnung.

Am 8. Oktober starb Willy Brandt, das Kanzleramt und nicht die SPD gab das Ableben bekannt. Die Verärgerung bei den Sozialdemokraten, von denen sich Brandt nach seiner Hochzeit mit Brigitte Seebacher-Brandt deutlich entfernt hatte, war groß, wie sich Kohl erinnert. Kohl würdigte den Verstorbenen als deutschen Patrioten, Europäer und Weltbürger, der Politik und politische Kultur in Deutschland mitgestaltet habe. "Mit seiner Lebenserfahrung und Weisheit trug er viel zur Versöhnung der Deutschen mit ihrer Geschichte bei."

Vielleicht auch mit Blick auf seine eigene historische Lebensleistung unterstreicht Kohl im dritten Teil seiner Erinnerungen, wie sehr das Schicksal einer Nation in der Außen- und Sicherheitspolitik entschieden werde. Dafür habe Willy Brandt ein Beispiel gegeben. Alles andere, so wichtig es sei, müsse als nachgeordnet bewertet werden. "Ohne Frieden und ohne Freiheit", so Kohl, "ist alles andere im Leben eines Volkes zweitrangig."

Männerfreundschaften in der Politik sind die Ausnahme. Im dritten Teil seiner Erinnerungen hat Kohl im Falle Willy Brandts eine preisgegeben.