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Geschichte Peter über Willy Brandt

"Den Vater zu küssen, das war mir fremd"

Chefkommentator
Peter Brandt ist der älteste Sohn Willy Brandts. Er war Trotzkist, wurde Historiker und sieht sich vom Vater geprägt. Ein Gespräch.

Von allen Söhnen Willy Brandts ist Peter seinem Vater am ähnlichsten. Vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick. Doch wenn er Platz nimmt und zu sprechen beginnt, trägt das Gesicht den Stempel des Vaters. „Brandts Lieblingszeit ist die Bedenkzeit“, hat ein enger Berater des früheren Bundeskanzlers über Willy Brandt gesagt. Bei Peter Brandt, dem ältesten Sohn des 1992 verstorbenen legendären SPD-Chefs, scheint es genauso zu sein. Lange und gründlich wägt er die Worte, hält immer wieder inne und schaut ihnen scheinbar nach. Oft ist es still im Raum, auch wenn das Schweigen niemals drückend wirkt.

Peter Brandt ist das Gespräch über sich und seine Familie nicht leicht gefallen. Es hat seine Zeit und einige E-Mails gedauert, bis er sich dazu entschließen konnte. Doch nun ist er da. „Wenn ich einmal etwas zusage, dann ist das für mich verbindlich“, sagt er mit einem Lächeln, das eher müde wirkt als froh. Lieber hätte der Historiker, der heute Professor an der Fernuniversität Hagen ist, mehr über sich und seine Projekte gesprochen. Doch er hat sich überzeugen lassen.

Sein Bruder schrieb zärtliche Kindheitserinnerungen

Nun sitzen wir hier, wobei der Ort recht ungewöhnlich für ein solches Gespräch ist. Peter Brandt wollte nicht besucht werden. Er wollte besuchen! Jetzt trinkt er Tee im Hause des Journalisten. Und der kann nicht wie sonst auf die Möbel und die Bilder seines Gastgebers schielen, um sich ein Reim auf den Menschen zu machen, sondern denkt stattdessen darüber nach, ob in dieserart Hausbesuch wiederum eine Gemeinsamkeit zwischen Vater und Sohn zu finden ist.

Willy Brandt ließ sich nicht gerne in die Falten seiner Seele schauen, wie man in vielen Büchern nachlesen kann, besonders in dem wundervoll scharfsichtigen, fast zärtlichen Kindheitserinnerungen Lars Brandts, die unter dem Titel „Andenken“ vor fünf Jahren erschienen sind. „Ja, das Buch ist sehr gelungen, auch sehr treffend“, sagt Peter Brandt über das Werk seines drei Jahre jüngeren Bruders. Immer wieder lese ich ihm Zitate daraus vor und bitte ihn, sie zu kommentieren.

Peter Brandt tut das nicht unwillig, wirkt aber wie einer, der sich dazu zwingen muss. Lars Brandt schrieb, wie schwer es dem Vater gefallen sei, den Kindern seine Liebe zu zeigen. War es so? Stille herrscht im Raum, dann ein knappes: „Ja, so war es“, gefolgt von einer Pause. „Meinem Vater fiel es schwer, Gefühle zu zeigen – Ärger genauso wie Zuneigung. Es fiel ihm sogar schwer, uns zu loben, dabei wussten wir, wenn er stolz auf uns war. Eines der Kinder einmal in den Arm zu nehmen, das ist ihm nicht eingefallen. Ich habe meinem Vater zeitlebens nur die Hand gegeben. Die Vorstellung, dass man den Vater küsst, war mir fremd.“

Brandt holt aus, um das Unvermögen nicht als Eindruck familiärer Kälte zu hinterlassen. Er erzählt von seiner Mutter Rut , die immer für die Kinder da war, von seinem Vater, der kaum da und dennoch irgendwie anwesend war. Er berichtet von den Ferien in Norwegen, von seiner Halbschwester Ninja, die im Sommer stets zu Besuch kam, und von dem Haus am Berlin-Zehlendorfer Marinesteig, in dem die Brandts so lange wohnten, bis der Senat eine Dienstvilla im Grunewald für den Bürgermeister erstand.

"Wir blieben auf dem Teppich"

Lebhaft wird Peter Brandt nun und scheint gar nicht zu merken, dass er immer dann zu berlinern anfängt, wenn er über seine Kindheit in der geteilten Stadt redet. Schmunzelnd erinnert er sich an einen der Schupos, wie die Berliner Polizisten damals noch genannt wurden. „Der stand vor unserem Haus. Einmal bin ich mit ihm Zelten gefahren.“

Lange habe er gar nicht gewusst, was sein Vater beruflich machte. „Der“ sei irgendwie wichtig gewesen. „Erst als die Lehrerin mir in der Grundschule zur Wahl meines Vaters gratulierte – das war 1957, ich war neun und in der dritten Klasse –, da ging ich nach Hause und fragte die Eltern, was ein Regierender Bürgermeister sei. Als sie es mir erklärten, kam am Ende ein strenges ‚Bild dir bloß nichts darauf ein’. Und so war es auch. Wir blieben auf dem Teppich.“

Ein Buch über die "Linke und die nationale Frage"

Norwegisch und Deutsch habe man zuhause gesprochen. „Am Anfang nur Norwegisch. Meine Mutter sprach zunächst nicht gut Deutsch. Mein Vater war sehr sprachbegabt. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und habe mich immer sehr wohl in Skandinavien gefühlt. Meine Heimat aber war Deutschland, war Berlin.“ Er habe früh „einen Sinn für das Land und die Stadt, in der ich lebte, entwickelt“ und sei mit einem „grundsätzlich positiven Verhältnis zu Deutschland“ aufgewachsen, berichtet Peter Brandt. „Auch das ist sicherlich ein Erbe meines Vaters. Die Einheit des Landes war ihm wichtig – genau wie mir.“

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1981 schrieb Peter Brandt, damals Hochschulassistent an der Technischen Universität Berlin, zusammen mit Herbert Ammon ein Buch über „Die Linke und die nationale Frage“ und sorgte damit in der SPD, der er seit Langem angehört, für eine heftige Debatte.

Als die Mauer noch nicht stand

Kurz verlassen wir die Kindheit und reden über die Sozialdemokratie und die deutsche Frage. Brandt erzählt, wie froh er über die Rolle seines Vaters nach dem 9. November 1989 war, als Willy Brandt sich gegen den Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine für die Einheit des Landes aussprach. „Ich kenne heute kaum noch Sozialdemokraten, die über Willy Brandts Engagement 1989/90 nicht heilfroh wären.“

Wir kommen zurück auf die Stadt seiner Kindheit. Peter Brandt müsste ein Buch über das Lebensgefühl Berlins in den Fünfziger- und Sechzigerjahren schreiben. Farbig erzählt er von der Stadt, in der er 1948 geboren wurde, und die er vor dem Bau der Mauer noch bewusst ungeteilt erlebt hat.

„Dieses ‚Uns kann keener’ hat mir in Berlin gut gefallen. Und darin mein Vater! Einmal bin ich mit ihm zum Schlachtensee spazierengegangen. Da hielt ein Bus am Fahrdamm, die Tür ging auf und der Schaffner – Sie müssen wissen, es gab damals noch Schaffner mit Kassen vorm Bauch –, der Schaffner rief: „Willy, willste mit?’ Vor allem seit der zweiten Berlinkrise wurde mein Vater wie ein Volkstribun verehrt. Aber das ist es nicht, was mir gefiel und mich prägte.

Letztlich war Berlin eine lebendige Alternative zu dem muffigen, ollen Adenauerstaat. Das haben wir schon als Jugendliche gespürt. Auch die Verachtung der Berliner gegenüber denjenigen, die Muffe bekamen und aus der Stadt wegzogen, gefiel mir. Wir hatte alle keene Angst.“

Nur einmal sei ihm klar geworden, wie brenzlig die Lage war. „Ich saß mit meinem Vater am Abend allein. Plötzlich sagte er, es wäre möglich, dass er für einige Zeit nicht mehr nach Hause kommen könne. Ich müsse dann seine Rolle in der Familie einnehmen und auf die Mutter und die Geschwister achten. Das war während der sogenannten heimlichen Berlinkrise, im September 1962, als die Alliierten fürchteten, die Russen könnten die Kuba-Krise nutzen, um gegen West-Berlin vorzugehen. Meinen Vater hatten sie dementsprechend unterrichtet. Das war schon dramatisch – auch für mich.“'

Der Weg zum Historiker

Obwohl Willy Brandt vor allem die Politik und weniger die Familie im Kopf hatte, räumt sein Sohn Peter ein, weniger von der Mutter, eher vom Vater geprägt worden zu sein. Brandt nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen und denkt nach. „Meine Brüder sind alle künstlerisch tätig. Ich bin Historiker. Mein Vater hat oft gesagt, wäre er nicht Politiker geworden, so wäre er gern ein Historiker gewesen. Wenn er Zeit hatte, las er vor allem historische Bücher. Vielleicht ist das auch ein Zeichen für die Vater-Prägung.“

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Peter Brandt geht noch weiter und erinnert an seine radikale Zeit als Abiturient und Student, in der er als Trotzkist von sich reden machte – zunächst zum Ärger des Vaters, der gerade Außenminister geworden war. „Trotzdem hat mein Vater mich machen lassen. Vielleicht weil er in seiner Jugend selber zunächst sehr links war. Aber Sie dürfen auch nicht vergessen: Willy Brandt ist vaterlos aufgewachsen. Er kannte die Rolle des Vaters nicht wirklich. Er hat uns laufen und uns machen lassen, so wie er es als Jugendlicher selbst erfahren hatte.“

"Als Trotzkist erlebt man eine große Orientierungssicherheit"

Trotzdem, wie kann der Sohn einer geistig eher großzügigen Familie zum linken Dogmatiker, zum radikalsozialistischen Sektierer werden? Da lacht Peter Brandt zum ersten Mal, erinnert nochmals an die Jugend des Vaters und schildert seine eigene Zeit an der Freien Universität Berlin. „Als Trotzkist erlebt man eine große Orientierungssicherheit. Man weiß immer genau Bescheid.“

Während er ironisch über sich selbst und seinen früheren Hang zum Dogmatismus spricht, fällt dem Zuhörer Sigmund Freud ein, der die Geisteshaltung des Sektierers einmal treffend als den „Narzissmus der kleinen Differenzen“ beschrieb. Auch denkt er an Isaiah Berlin, der den Sektierer mit einer „sozialen Amöbe“ verglich: „Auch wenn es nur eine einzige Zelle gibt, gelingt es ihr doch noch, sich zu teilen.“

Brandt lächelt wieder, auch wenn sein Lachen eher einem Stirnrunzeln gleicht und erzählt, dass auch er irgendwann zu dem Punkt gekommen sei, wo er dies verinnerlicht habe. Haben ihn seine Genossen als Sohn des Bundeskanzlers überhaupt ernst genommen? Brandt richtet sich auf, als trüge er Helm und Schwert, und nickt kämpferisch.

Abarbeiten bis ins hohe Alter

„Nur die Professoren waren immer erstaunt, was für ein höflicher junger Mann dieser Radikalsozialist doch war“, sagt er und lehnt sich wieder zurück. „Etwas Dogmatisches hatte ich schon“, wiederholt er noch einmal nachdenklich und wirkt in seiner hageren Gestalt plötzlich sehr asketisch. Kann Peter Brandt eigentlich abschalten, möchte ich fragen; könnte er von sich sagen, was Heinrich Heine einmal schrieb: „Ich lag auf der grünen Wiese des Glücks“?

Doch so etwas fragt man nicht. Anstelle dessen erzähle ich ihm von den anderen Kindern berühmter Persönlichkeiten, die wir bereits besucht haben. Nur mit ganz wenigen Ausnahmen wäre bei allen diesen Kindern herausgekommen, wie sehr sie sich bis ins hohe Alter an ihren Eltern abarbeiteten. Gilt das auch für den Sohn Willy und Rut Brandts ?

Quellen der europäischen Verfassungsgeschichte

Der versinkt kurz in seinen Gedanken, um dann auszuholen. Eine Tochter und einen Sohn habe er, beide in den Zwanzigern, sie arbeite als Geografin, er studiere Jura. „Wenn man irgendwann einmal seine eigene Familie hat, wenn man vielleicht sogar Kinder hat, dann wird man souveräner, dann gewinnt man Abstand zu den Eltern. Das ist bei mir bis heute so geblieben, auch wenn ich oft an Vater und Mutter denke.“

War es ein Vorteil oder ein Nachteil, Willy Brandt zum Vater zu haben? „Ich kann mich an kein Ereignis im Leben erinnern, in dem es mir wirklich geholfen hätte“, entgegnet Brandt. „Eine Belastung war es früher schon. Was habe ich zeitweise geschwitzt, wenn man mich als Sohn Willy Brandts vorstellte.“

Es ist später Nachmittag geworden. Die Sonne scheint gnadenlos durch die Fenster. Eine Fliege badet matt, doch glücklich im Licht. Doch das Gespräch soll noch nicht beendet sein. Jetzt will ich doch noch wissen, woran Brandt gerade arbeitet. Nicht ohne Stolz erzählt er, dass er ein „Handbuch und Quellen der europäischen Verfassungsgeschichte“ herausgebe, das er maßgeblich mit entworfen hat. „Der erste Band ist 2006 erschienen. Der zweite ist im Druck“, sagt er. Man muss sich eben nicht sein Leben lang mit den eigenen Eltern beschäftigen – auch wenn es wie im Fall Brandts mitunter spannend ist.

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