Schließlich machten die Meinungsumfragen alles klar. Am 16. Februar 1964 wählte der außerordentliche Parteitag der SPD in Bad Godesberg Berlins Regierenden Bürgermeister Willy Brandt (1913–1992) zum neuen Vorsitzenden. Er war der einzige Kandidat für die Nachfolge des im Dezember 1963 überraschend verstorbenen Erich Ollenhauer.
Zunächst hatte es noch zweifelnde Stimmen unter führenden Sozialdemokraten gegeben, die eine Wahl des ohnehin sicheren SPD-Kanzlerkandidaten Brandt zum Parteivorsitzenden nicht für opportun hielten. Doch die jüngsten Meinungsumfragen ließen solche Zweifel verstummen.
Die von den sozialdemokratischen Führungsgremien in jedem Monat veranlassten Befragungen ergaben, dass Brandts Popularitätskurve eine steigende Tendenz auswies. Er führte mit 35 Prozent vor Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), den 34 Prozent der Befragten als den populärsten Politiker bezeichneten. Gegenüber dem Monat Dezember gewann Brandt damit vier Punkte, wahrend Erhard um sieben Punkte zurückfiel. Auch die Popularität der SPD war nach diesem Umfrageergebnis auf 35 Prozent gestiegen; sie lag damit vor der CDU/CSU (33 Prozent).
Der Parteitag stimmte entsprechend ab: 320 von 334 abgegebenen Stimmen lauteten für Brandt, nur neun Delegierte sprachen sich gegen ihn aus. Bei der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur bekam er sogar noch drei Stimmen mehr.
Brandts sprach seine Dankesrede mit rauer Stimme – „wie immer“, kommentierte WELT-Redakteur Hans-Werner von Finckenstein: „Es ist vokales Bruchgestein, in dunklen Schächten geschürft, gebrochen, gesammelt und aus der Tiefe mühsam hervorgebracht. Die Worte kommen wie einzelne Felsbrocken, bei denen man fast zusehen kann, wie sie sich langsam aus dem Gefüge der Sätze lösen und hinunterstürzen in das Auditorium. Es ist sein ganz persönlicher Stil, so zu sprechen; sein rhetorischer Trick, wie manche meinen.“
Das war durchaus richtig beobachtet: Willy Brandts Sprechweise stand in den 1960er-Jahren in der deutschen Politik einzig dar. Aber war es wirklich ein Trick? Oder die Folge des vielfach gebrochenen Lebens, das Willy Brandt dorthin gebracht hatte, wo er im Februar 1964 war?
1913 in Lübeck unter dem Namen Herbert Frahm unehelich geboren, war Brandt als überzeugter Sozialist (und zugleich Gegner des Moskau-hörigen Kommunismus) nach der Machtübernahme der Nazis 1933 ins Exil gegangen. Als norwegischer Staatsbürger nahm er seinen neuen Namen an, unter dem ihn allerdings auch die Gerstapo suchte, und behielt ihn bei, als er 1945 nach Deutschland zurückkehrte.
1949 wurde er für Berlin Abgeordneter des ersten Bundestages, allerdings mit eingeschränkten Rechten, dann ab Ende 1950 zusätzlich (was heute nur noch ganz ausnahmsweise geht, damals aber angesichts des Mangels an seriösem politischem Personal unumgänglich war) Mitglied des West-Berliner Parlaments, des Abgeordnetenhauses. 1955 stieg er zu dessen Präsidenten auf, und 1957 wurde er Regierender Bürgermeister.
Bei der Bundestagswahl 1961, wenige Wochen nach dem Bau der Mauer quer durch Berlin, trat Brandt erstmals als Kanzlerkandidat der SPD an und erzielte einen Achtungserfolg gegen den greisen Konrad Adenauer. „Der Regierende“, so ein gängiger Spitzname, stand für Zukunft, für Reformen, für mutige Außenpolitik. Doch nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden dauerte es noch fünfeinhalb Jahre, bis er tatsächlich ins Bonner Kanzleramt einziehen konnte, das die SPD dann bis Oktober 1982 halten konnte – vielleicht die beste Zeit, die Deutschlands Sozialdemokratie je hatte.
Einen Rekord aber hält Brandt auf jeden Fall. Denn niemand hat es an der Spitze der SPD länger ausgehalten als er: 23 Jahre, einen Monat und eine Woche saß er seiner Partei vor.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2021 veröffentlicht.