Jeder weiß, dass Mützenich ans Einfrieren glaubt. Wieso soll er sich verleugnen?

Jeder weiß, dass Mützenich ans Einfrieren glaubt. Wieso soll er sich verleugnen?

Der SPD-Fraktionsvorsitzende müsse sich korrigieren, wird gefordert. Warum? Die SPD sollte es wie Willy Brandt machen. Ein Kommentar.

Wer sagt, was er nicht denkt, führt in die Irre. Aber verschweigen, was man denkt, führt zu nichts. Rolf Mützenich in der Taurus-Debatte am 14. März im Bundestag.
Wer sagt, was er nicht denkt, führt in die Irre. Aber verschweigen, was man denkt, führt zu nichts. Rolf Mützenich in der Taurus-Debatte am 14. März im Bundestag.imago

Sagen, was nicht ist. Das erwarten viele von Rolf Mützenich. Zumindest soll der SPD-Fraktionsvorsitzende sagen, was er nicht denkt. Er hätte nie von einem „Einfrieren“ des Ukraine-Kriegs sprechen dürfen, beklagt die CDU, beanstanden viele seiner Koalitionskollegen von Grünen und FDP. Jetzt, im Nachhinein, müsse er seine Worte jedenfalls zurücknehmen. Doch wer Mützenich kennt, weiß, dass Mützenich nur gesagt hat, was er denkt. Soll er lügen?

Der Mann glaubt, dass ein Einfrieren eine gute Idee wäre. Das hat er so oder so ähnlich immer wieder erklärt. Er ist für diese Haltung bekannt. Würde er seine Überzeugungen auf Druck aus der Koalition oder den Medien verleugnen und das Gegenteil behaupten: Wem wäre damit geholfen? Wer würde ihm glauben?

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Mützenichs Haltung muss nicht unbedingt naiv sein

Und er ist nicht allein: Das denken nicht nur in seiner SPD-Fraktion viele. Bei der AfD oder bei Wagenknechts Partei denken es noch mehr. Am Ende haben dem Antrag der Union zur Lieferung von Taurus weniger Ampel-Abgeordnete zugestimmt als Unionsmitglieder dagegen. 

Mittlerweile sind mehr als 60 Prozent der Bürger gegen eine Taurus-Lieferung. So eindeutig war die Stimmungslage bei den Leopard-Panzern nie. Seit Anbeginn des russischen Überfalls wünscht sich eine große Mehrheit der Bevölkerung größere diplomatische Bemühungen.

Mützenichs Haltung muss nicht unbedingt eine naive, unverbesserliche Friedenssehnsucht der SPD widerspiegeln. Sie ist ein Schluss, den man aus dem zentralen Dilemma des Ukraine-Krieges ziehen kann. Dem Dilemma, dass sowohl ein Sieg der Ukraine als auch ein Sieg Russlands fürchterliche Konsequenzen hätte. Wenn Russland gewinnt, würde die Ukraine als Nation nicht nur ausgelöscht, Millionen Menschen würden fliehen, und nicht nur Putin in Europa, Potentaten in aller Welt wären ermutigt, Grenzen mit Gewalt zu verschieben.

Legendär: Willy Brandt 1970 in Warschau.
Legendär: Willy Brandt 1970 in Warschau.CAF/AFP

Rolf Mützenich soll von Einfrieren sprechen

Doch sollte die Ukraine erfolgreich sein, kurz davor stehen, Russland gänzlich von ihrem Territorium zu vertreiben, ist andererseits ein taktischer Atomschlag nicht ausgeschlossen. Vor kurzem berichtete die New York Times, dass Präsident Biden einen solchen Angriff im Oktober 2022 für möglich hielt. Die ukrainische Offensive war damals durchschlagend – lang ist’s her –, sodass es aussah, als könnten ihre Truppen die Krim zurückerobern. Von Amerikanern abgefangene Gespräche russischer Truppen deuteten darauf hin, dass Putin den Einsatz von Nuklearwaffen erwog. Biden lancierte über Scholz eine Botschaft an den chinesischen Präsidenten, der einen Atomwaffeneinsatz daraufhin öffentlich verdammte.

Wäre bei diesen Alternativen ein Einfrieren des Konflikts die schlechteste Option?

Das soll nicht heißen, dass Mützenich und Co hier nicht auch ein Wahlkampfthema erkennen. Die SPD steht vor erschütternden Wahlniederlagen in Europa und im Osten. In einer Demokratie kann es aber kaum anders sein, als dass Positionen, die in einer Partei verbreitet, von Überzeugungen getragen sind und Anklang in maßgeblichen Teilen der Bevölkerung finden, vor Wahlen betont werden. Wer diese Haltung nicht möchte, muss die SPD nicht wählen. Aber andauernd zu suggerieren, das Volk werde getäuscht, wenn Politiker, die an Deeskalationskonzepte glauben, solche auch kommunizieren, ist abwegig.

Doch der Vorwurf an Mützenich kann differenzierter formuliert werden. Es hat sich eine von Russland- und Konfliktexperten geprägte Einschätzung unter Politikern von Union, Grünen und Liberalen verbreitet, der zufolge von Putin ohne ein Bestehen auf Maximalforderungen keinerlei Zugeständnisse zu erreichen sind. Vulgo: Auch wer ein Einfrieren anstrebt, darf es nicht fordern. Stärker noch: Die Forderung nach einer Friedenslösung behindert ebendiese.

Das ist die vermutete und sicher nicht unplausible Logik, nach der Wladimir Putin verfährt: alles verlangen und schauen, was man kriegt – anstatt sich vorher selbst einzuschränken. Viele kenntnisreiche Leute meinen, westliche Mehrstimmigkeit ermuntere Putin, den Krieg fortzusetzen. Wenn alle im Chor sprächen, wäre das anders.

Aber wir sind nicht Putin und müssen ihn nicht kopieren, um erfolgreich zu sein. Die SPD orientiert sich gern an der Ostpolitik von Willy Brandt. Lange Zeit hatte sie jedoch deren militärische Komponenten vergessen. Während Brandt und Schmidt Kanzler waren, gab Deutschland zwischen drei und vier Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aus – fast doppelt so viel wie heute. Rolf Mützenich soll von Einfrieren sprechen, solange die SPD den Verteidigungshaushalt erhöht und die Ukraine so massiv unterstützt wie jetzt. Das ist eine Sprache, die jeder versteht.

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