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Meinung Willy Brandt

Der Eros des freien, einsamen Menschen

Chefredakteur
Immer wieder überrascht die lässige Eleganz des Sozialdemokraten Willy Brandt. Sein Charme betörte nicht nur die Frauen, mürrisch-melancholisch veränderte er das Land. Bis heute bleibt er unnahbar.

Als Willy Brandt im Dezember 1970 von seiner Polen-Reise nach Bonn zurückkam, erwartete ihn eine unruhige Kanzlergattin. Sie hatte die Bilder ihres Mannes, wie er vor dem Mahnmal im Warschauer Getto in die Knie sank, im Fernsehen verfolgt und wollte wissen, wie es dazu kommen konnte. „Hattest du dir das vorher überlegt?“, fragte Rut Brandt.

Der Kanzler der Bundesrepublik zuckte nur kurz mit den Schultern und erwiderte knapp: „Irgendetwas musste man tun.“

In seinen Memoiren bekräftigte Brandt die Spontaneität der Geste, die aus Deutschland innerhalb von wenigen Sekunden ein anderes Land machte: „Ich hatte nichts geplant. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeter tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Brandt, der Antifaschist, hatte weniger für sich als für seine Landsleute um Vergebung gebeten. Er hat die Deutschen damit erlöst, auch die, die das gar nicht wollten.

Schwierige Kindheit in Lübeck

Willy Brandt war ein freier Mensch im existenziellen Sinne. Geboren als uneheliches Kind einer Unehelichen, die als Verkäuferin in der vornehmen Hansestadt Lübeck ein karges Leben führte, wuchs er abseits aller silbernen Löffel auf. Durch den Stiefgroßvater früh politisiert, fand er in sozialistischen Kinder- und Jugendorganisationen jenen Halt, der ihm in der unbehausten Kindheit verweigert wurde.

1933 floh er vor den Nazis nach Skandinavien, arbeitete im Exil für den Widerstand, wurde Norweger und kehrte schließlich in seine Heimat zurück, um im Nachkriegsdeutschland den Aufbau der Demokratie mitzugestalten.

Die großen Politiker dieser Zeit waren meist aus krummen Holz geschnitzt, ihre Biografien oft entstellt von den Fliehkräften eines bösartigen Jahrhunderts. Brandt ging unbeirrt seinen Weg.

Die Bindungslosigkeit seiner Kindheit deutete er, der von so weit unten kam, tapfer in Freiheit um. Er wusste, dass er sich alles erkämpfen musste, und dachte nicht daran, irgendwem klein beizugeben.

Das Genossen-Du blieb ihm fremd

Bis ins hohe Alter stand er trotzig wie ein kleiner Junge mit verschränkten Armen, wehrhaft das Kinn nach vorne geschoben, wann immer er das Gefühl hatte, dass er hier eigentlich nicht hingehöre. Das war oft genug so in seiner Partei, der er eigenwillig fremd blieb, obwohl er einer der großen Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts war.

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Es war nicht die Sozialdemokratie an sich, die ihn befremdete: Ihren heroischen Kampf für Arbeiter und gegen Unterdrücker beschwor er gerne und mit authentischem Pathos. Eher war es jener Zwang zur Einordnung, zu Stallgeruch und Anpassung, der ihm als radikalem Individuum zuwider war.

Auch das Genossen-Du mochte er nicht, der Kumpelton widersprach seiner in der Kindheit geprägten Bindungsschwäche genauso wie seiner protestantisch-hanseatischen Herkunft. In Herbert Wehner trat ihm jener antiindividualistische Furor des Totalitären entgegen, der ihn stets in Distanz zu den Kommunisten hielt. Als Regierender Bürgermeister von Berlin wurde er zum scharfen und unerbittlichen Antikommunisten.

Dass die Partei stets recht habe, war für Brandt eine absurde Vorstellung. Er war leidenschaftlich Sozialdemokrat, aber stets in einer sehr subjektiven Interpretation der Rolle des Genossen. Nie versteckte er sich in der Rhetorik des Parteibauches, dem Jargon des Regierenden.

Kritik statt Bewunderung

In seiner Regierungserklärung zum Antritt der sozialliberalen Koalition wünschte er sich ein neues, kühles Verhältnis zwischen Staat und Bürger: „Wir suchen keine Bewunderung; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.“ Er dachte Staat, Gesellschaft und auch die Partei vom Einzelnen her. Das Individuum stand im Zentrum seiner Weltanschauung, auch weil er selbst so sehr Individuum war.

Es war also kein Zufall, dass dieser Kanzler die SPD zurück an die Macht führte mit einer liberalen Partei – egal, wie linkssozialistisch seine Ordnungspolitik und sein Etatismus gerieten.

Als John F. Kennedy im Juni 1963 die geteilte Stadt Berlin besucht, verstehen sich der 46-jährige US-Präsident und der 49-jährige Bürgermeister auffallend gut. Beide sind Außenseiter, beide im Off der Gesellschaft groß geworden, beide stammen aus – wenngleich völlig gegensätzlichen – Randbereichen: Kennedy wuchs als Katholik und Nachfahre irischer Einwanderer im WASP-Amerika auf, allerdings in sehr wohlhabenden Verhältnissen.

Beide, der junge Amerikaner von ganz oben und der junge Deutsche von ganz unten, hatten denselben Zug zu Melancholie und Einsamkeit, den sie – will man ihren Biografen glauben – mit erotischen Eskapaden zu kompensieren suchten. Ihre existenzielle Traurigkeit wich in jenen Momenten des Glanzes, als aus ihren verpanzerten Seelen, die ihnen Unbestechlichkeit ermöglichte, Sätze und Gesten entwichen, die so nur sie sagen konnten. Sie waren beide absolut unverwechselbar.

Kennedys und Brandts Frauenquoten

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Ihr Sexappeal speiste sich aus der Aura der Unnahbarkeit, die für ihre Bürger wie für ihre nächste Umgebung etwas Schmerzliches, Rätselhaftes, aber eben auch Verführerisches haben konnte. Kennedys Erotomanie war triebhaft und verzweifelt. Rüde und gehetzt jagte er den Röcken hinterher, um nach jedem Abenteuer umso stärker zu spüren, wie unbefriedigend das war.

Willy Brandt dürfte eine ähnliche Frauenquote gehabt haben. Über seine Abenteuer gibt es stapelweise Anekdoten und Mythen. Brandt liebte Frauen, und die Frauen liebten ihn. Jenes erregte Lachen, das die faltige Gesichtslandschaft Brandts ins Liebliche verwandelte, stellte sich ein, wenn ihm junge, ansehnliche Frauen zublinzelten. Er liebte sie nicht wie seinen Lebensmenschen, Rut, die zweite Ehefrau, sondern er liebte die Frauen dafür, dass sie ihn seine Traurigkeit vergessen ließen.

Brandt genoss, wie das nur Menschen tun, die Leid und Entbehrung kennen, und deren Appetit auf Nähe, Zigaretten, Alkohol, Anerkennung unerschöpflich ist, weil das Leid so groß gewesen war. „Weinbrandt-Willy“, schimpften Genossen, die ihm nie verziehen, dass er sich nicht mit ihnen gemein machte. Die Verachtung von Herbert Wehner, dem moskaugeschulten Fraktionschef, und Helmut Schmidt, dem Wehrmachtsoffizier, perlte in letzter Konsequenz an ihm ab.

Ein Held im romantischen Sinne

Brandt blieb stets bei sich, weil er wusste, dass sein Gewissen am Ende die einzige Instanz war, vor der er sich verantworten musste – und wollte. 48 Prozent der Deutschen hielten den Kniefall in Warschau damals für eine übertriebene Geste. Umfragen und Wahrscheinlichkeiten von Zustimmungen waren etwas für Politiker, die nach ihm geboren waren.

Brandt jedoch war ein heroischer Politiker im romantischen Sinne. Er war sich bis zum Schluss sicher, dass ein Mensch Geschichte schreiben könne. Der Kniefall war ein sinnfälliger Beweis für die Veränderbarkeit der Dinge. Eine einzige Geste konnte zur moralischen Grundlage seiner Ostpolitik werden.

Brandts Charisma nahm die Deutschen als Nation für die Politik ein. Bei den Neuwahlen zum Bundestag 1972 erreichte die Wahlbeteiligung mit 91,1 Prozent ein Rekordhoch, die SPD erhielt 45,8 Prozent. In diesem Jahr erlebte der Flirt Willy Brandts mit seinem Land den Höhepunkt. So nahe kamen sich beide nie mehr.

Bei aller Verehrung bleibt Willy Brandt bis heute eine unnahbare Gestalt. Niemand macht es sich in der Erinnerung bei ihm gemütlich. Er bleibt Rätsel, ein Wunder der Geschichte.

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