Die Willy-Wahlen von 1972 – Der Sieg der Vernunft
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Die Willy-Wahlen von 1972 – Der Sieg der Vernunft

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Fidel am Wahlabend (l-r): Schriftsteller Günter Grass, Außenminister Walter Scheel, FDP, Jungsozialist Wolfgang Roth und Willy Brandt.
Fidel am Wahlabend (l-r): Schriftsteller Günter Grass, Außenminister Walter Scheel, FDP, Jungsozialist Wolfgang Roth und Willy Brandt. © dpa

Vor 50 Jahren, am 19. November 1972, gewann die SPD zum ersten Mal die Bundestagswahlen und votierten die Bundesdeutschen für einen Emigranten als ihren Kanzler – ein hauchdünnes Ergebnis, ein epochales Ereignis.

Am Sonntag, dem 19. November 1972, gewann die SPD die Bundestagswahlen. Es waren die sogenannten Willy-Wahlen. Wir Nachkriegskinder hatten im Unterricht gelernt, dass in Demokratien der Regierung eine Opposition gegenüberstehe. „Bei Wahlen entscheiden die Bürger, wen sie haben wollen“, hatte man uns erklärt. In der Bundesrepublik aber waren die Wahlen stets von der CDU gewonnen worden.

1964 hatten die Politologen Gert Schäfer und Carl Nedelmann das Buch herausgebracht: „Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik“. Seit Konrad Adenauers Rücktritt im Jahre 1963 waren die CDU-Kanzler nicht als Wahlsieger in ihr Amt gekommen, sondern durch parteiinterne oder Auseinandersetzungen mit der FDP. In die Wahlen waren sie dann mit dem Kanzlerbonus gegangen.

Das Wort vom CDU-Staat machte die Runde, Schäfers und Nedelmanns Band in der Edition Suhrkamp wurde zum Bestseller. In der Schule hatten die Nachkriegskinder gelernt, wie es sein sollte. Jetzt begannen sie zu begreifen, wie es war.

Schwierig war das nicht. Das völlig legitime Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums, mit dem die CDU im April 1972 den seit 1969 – dank der mit ihm koalierenden FDP – regierenden Kanzler Willy Brandt stürzen und durch den Oppositionsführer Rainer Barzel ersetzen wollte, wurde als weiteres Machtspielchen des gerade erst abgesetzten, nicht abgewählten – die CDU hatte bei den Wahlen 1969 mehr Stimmen erhalten als die SPD – CDU-Staates begriffen. Rainer Barzel verlor seinen Misstrauensantrag. CDU und SPD hatten beide Bundestagsabgeordnete bestochen.

Auch die DDR hatte mit Geld dazu beigetragen, dass Barzel nicht Kanzler wurde. Das Ergebnis war allerdings so knapp, dass Barzel danach Brandt den Vorschlag machte, er solle ihm doch das Kanzleramt überlassen, dann bekomme Brandt das Amt des Bundespräsidenten. Ich weiß nicht, was davon alles den Zeitgenossen bekannt war. Der Eindruck des Versuchs einer Machterschleichung seitens der CDU aber war für viele überdeutlich geworden.

Hinzu kam: Die Bevölkerung war extrem gespalten. Bei allen Meinungsumfragen unterstützte eine deutliche Mehrheit die Neue Ostpolitik, den „Wandel durch Annäherung“. In den Landtagswahlen aber hatte die SPD damit nicht punkten können. Die massiven Attacken auf Willy Brandt und die Sozialdemokratie führten allerdings zu einer Mobilisierung für die Angegriffenen, mit der auch in der SPD niemand gerechnet hatten.

Hatte zunächst die Neue Ostpolitik die Gesellschaft polarisiert, so hatte Barzels Versuch des Kanzlersturzes die Öffentlichkeit, ja die Bevölkerung aufgeweckt. 1970 hatten – so Allensbach – 69 Prozent der Befragten die Ostpolitik der Bundesregierung als einen wichtigen Beitrag zur Entspannung in Europa betrachtet. Nur zehn Prozent sahen das anders. Für diese Politik hatte Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis erhalten. Barzels Misstrauensantrag richtete sich gegen genau die Politik, mit der Deutschland in den Augen vieler gerade weltweit punktete. In einigen Betrieben bereitete man sich im Fall eines Erfolgs Barzels auf politische Streiks vor.

Im mehr als konservativen „Münchner Merkur“ schrieb Enno von Loewenstern: „Die bedeutendste Begleiterscheinung des für sich allein durchaus normalen Vorgangs, den man Misstrauensvotum nennt, ist die Radikalisierung, die von sozialdemokratisch-liberaler Seite in die Auseinandersetzung hineingetragen wird. Es ist ein Skandal, dass im dritten Jahrzehnt der deutschen Demokratie der Bundestag von außen unter Druck gesetzt wird. Man kann nur den Schluss ziehen, dass Einschüchterung das Ziel ist. Der Staatsbürger will keine ‚Aktionen‘ in den Betrieben. Gleichviel, wie es heute ausgeht: Wehe uns, wenn nicht mehr Stimmzettel, sondern ‚Aktionen‘ die Politik in diesem Land bestimmen.“

„Aktion“ war ein zentraler Begriff jener Jahre. Aber nicht bei SPD und FDP. Mit Aktionen belästigten nahezu täglich aufmüpfige Studenten, Feministinnen und andere Mitglieder der APO die herrschenden politischen Ansichten und Rituale. Auch die der SPD und seit den wilden Streiks von 1969 auch die der Gewerkschaften.

Als Ende April 1972 sich herausstellte, dass die Koalition von SPD und FDP zwar Barzels Attacke überstanden hatte, aber nicht in der Lage war, ihren Haushalt durchs Parlament zu bringen, war der einzige Ausweg: vorgezogene Neuwahlen. Am 19. November. In der Haushaltsdebatte hatte Willy Brandt scharfe Töne angeschlagen. Gerhard Ziegler schrieb damals in der Frankfurter Rundschau: „Darauf mussten wir lange warten: Endlich ein kämpferischer Kanzler. Der Regierungschef Willy Brandt hat noch nie zuvor die Grundelemente der sozialliberalen Koalition so präzise und so überzeugend dargestellt wie am Mittwoch bei der Debatte im Deutschen Bundestag.“

Mit dieser Rede hatte Brandt den Wahlkampf eröffnet. Die Wahlen gegen Adenauer, Erhard und Kiesinger hatte er verloren. Jetzt kam sein vierter Anlauf. Allerdings mit dem Kanzlerbonus. Diesmal wollte er gewinnen. Der Wahlkampf im Jahr 1972 wurde zum härtesten der Bundesrepublik. Wieder einmal gewann der Kanzler.

Das Schulmodell demokratischer Wachablösung war in der Bundesrepublik noch immer nicht Wirklichkeit geworden. Das geschah erst 1998 als Schröder/Fischer (Rot/Grün) den ewigen Kanzler Helmut Kohl (CDU) besiegten. Wikipedia hält völlig zu Recht fest: „Zum ersten und bisher einzigen Mal wurde eine Bundesregierung komplett abgewählt.“ Die Wirklichkeit hatte sich für dieses eine Mal unserem Schulwissen angepasst. 52 Jahre alt hatte ich werden müssen, um das zu erleben. Die Bundesrepublik hatte es schon mit 49 Jahren geschafft. Allerdings hatte die alte Bundesrepublik im neuen Deutschland aufgehen müssen, um das möglich zu machen.

Aber zurück zum 19. November 1972. Willy Brandt gewann die Wahl. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass die SPD eine Bundestagswahl gewann. Sie gewann sie wegen Willy Brandt. Überall hatte man die Buttons mit der Aufschrift „Willy wählen“. Der jahrelange Vernichtungsfeldzug der CDU gegen den Emigranten hatte die Bevölkerung zutiefst gespalten, aber diesmal – nur dieses eine Mal – stimmte „die schweigende Mehrheit“ für den Emigranten. Brandts Nachfolger Helmut Schmidt war wieder ein Wehrmachtssoldat. Aber einen Wimpernschlag lang sah die Bundesrepublik ganz anders aus. Jedenfalls gab sie sich ein anderes Gesicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 91,1 Prozent der Wahlberechtigten. Die Polarisierung hatte alle an die Urnen getrieben.

Das Ergebnis war ein hauchdünner Sieg der SPD. So epochal die Wahl war: Sieger und Verlierer trennten nur 0,9 Prozentpunkte. Ich habe damals nicht Willy Brandt gewählt. Aus Dummheit. Oder doch jedenfalls aus sehr allgemeinen Erwägungen heraus. Ich war auf der Seite der „Aktionen“, hielt nicht viel vom Parlamentarismus und hoffte auf dessen Veränderung durch mehr Elemente direkter Demokratie. Ich habe den Verdacht, dass viele in meiner Umgebung ähnlich handelten oder besser: nicht handelten. Willy Brandt war für die Notstandsgesetze und hatte für die aufmüpfige APO (so war mein Eindruck) bestenfalls paternalistische Gesten – „solche Flausen hatte ich auch einmal“ -, schlimmstenfalls den im Januar 1972 verabschiedeten Radikalenerlass parat. Warum sollte ich, warum sollten wir diesen Mann wählen?

Ich verstehe meine Haltung von damals. Aber ich betrachte sie als dumm. Bei einer Wahl geht es immer nur ums kleinere Übel. Wenn man allerdings an den herannahenden großen Kollaps glaubt, dann kann man schon einmal auf die Idee kommen, das größere Übel führe schneller zum Zusammenbruch des Systems, und schwupps ist man aus lauter eingebildeter Schlauheit auf der Seite der ganz Dummen.

Der 19. November 1972 war ein Sieg der Vernunft. So etwas kommt vor.

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