Kassel: Deutsch-deutsches Treffen von Brandt und Stoph vor 50 Jahren
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Historischer Moment: Vor 50 Jahren fand das deutsch-deutsche Treffen in Kassel statt

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Auf gute Gespräche: DDR-Ministerpräsident Stoph (links) und Bundeskanzler Brandt im Schlosshotel.
Auf gute Gespräche: DDR-Ministerpräsident Stoph (links) und Bundeskanzler Brandt im Schlosshotel. © dpa

Es war ein historischer Moment: Vor genau 50 Jahren fand in Kassel das deutsch-deutsche Treffen zwischen DDR-Ministerpräsident Stoph bei Bundeskanzler Brandt statt.

  • Am 21.05.1970 fand das deutsch-deutsche Treffen in Kassel statt.
  • DDR-Ministerpräsident Stoph und Bundeskanzler Brandt trafen aufeinander.
  • In Kassel fanden wegen des Treffens Demonstrationen statt.

Kassel – Drei Worte, die gut 100 Jahre zuvor Aachener Bürger dem gefangenen Franzosen-Kaiser Napoleon III. nachgerufen hatten, fehlen im Frühjahr 1970 in keinem Bericht über die neue deutsche Ostpolitik: „Ab nach Kassel“. Oberbürgermeister Karl Branner (SPD) hatte die Chancen für seine Stadt schnell erkannt, als das erste deutsch-deutsche Treffen zwischen DDR-Ministerpräsident Willi Stoph und Bundeskanzler Willy Brandt nach Erfurt vergeben wurde. Ihm war klar: Auch ein Gegenbesuch kann nur in einer grenznahen Stadt stattfinden.

Branner mobilisierte die nordhessische Lobby in Bonn, die Bundesminister Lauritz Lauritzen und Gerhard Jahn sowie Staatssekretär Holger Börner (alle SPD). Als sich Brandts Kanzleramtsminister Horst Ehmke schließlich bei Branner mit den Worten meldet „Ihr seid jetzt dran“, müssen viele Pläne nur noch aus der Schublade geholt werden.

Deutsch-deutsches Treffen in Kassel: Mehr als 1000 Journalisten meldeten sich an

Schon wenige Tage später haben sich mehr als 1000 Journalisten zu dem historischen Ereignis angemeldet, in Kassel ist schnell kein Hotelbett mehr zu ergattern. Viele schon länger geplante Renovierungen werden vorgezogen. Vielfach greift die Wirtschaft der Stadt unter die Arme.

Rückblick: 1945 war Nazi-Deutschland von den Siegermächten in vier Besatzungszonen geteilt worden, die amerikanische, die britische und die französische im Westen Deutschlands, die sowjetische im Osten. Auch Berlin stand unter der Verwaltung der vier Alliierten. 

Aufgeheizte Stimmung: Ein großes Polizeiaufgebot sichert die Wagenkolonne von Brandt und Stoph auf der Wilhelmshöher Allee in Höhe des Bahnhofs.
Aufgeheizte Stimmung: Ein großes Polizeiaufgebot sichert die Wagenkolonne von Brandt und Stoph auf der Wilhelmshöher Allee in Höhe des Bahnhofs. © Werner Lengemann

1949 wurde im Westen die Bundesrepublik Deutschland gegründet, eine parlamentarische Demokratie, in der Ostzone die Deutsche Demokratische Republik (DDR), ein Ein-Parteien-Staat nach sowjetischem Muster. Beide Staaten entwickelten sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in den folgenden Jahren politisch und wirtschaftlich in verschiedene Richtungen.

Willy Brand trifft in Kassel Willi Stoph: Deutsch-deutsches Treffen 1970 - Zunächst Treffen in Erfurt

In seiner Regierungserklärung 1969 sprach Willy Brandt, der erste Sozialdemokrat im Bonner Kanzleramt, unter dem Protest der CDU/CSU-Opposition erstmals offiziell von der Existenz zweier deutscher Staaten. Diese könnten füreinander aber nicht Ausland sein, so Brandt

Die DDR ging auf ein Gesprächsangebot ein, man traf sich am 19. März im thüringischen Erfurt, wo tausende DDR-Bürger den westdeutschen Kanzler mit Sprechchören wie „Willy Brandt ans Fenster“ feierten. Einziges greifbares Ergebnis des Gipfels war die Vereinbarung eines Gegenbesuchs am 21. Mai in Kassel.

Schloss Wilhelmshöhe als Pressezentrum: Über 1000 Journalisten haben sich zum deutsch-deutschen Gipfel in Kassel angemeldet.
Schloss Wilhelmshöhe als Pressezentrum: Über 1000 Journalisten haben sich zum deutsch-deutschen Gipfel in Kassel angemeldet. © Hans-Joachim Baron

Der große Tag rückt näher. Vor dem Tagungsort, dem Schlosshotel, wird eine Fernsehtribüne errichtet, vor dem Pressezentrum im Schloss ragen riesige Fernsehmasten in die Höhe. Die Behörden haben das Gebiet rund um das Schloss zum Sperrgebiet erklärt, das nur mit Sonderausweis betreten werden kann.

Kassel: Deutsch-deutsches Treffen 1970 - DDR-Delegation traf in Bebra ein

Dann, am Donnerstag, dem 21. Mai, ist es soweit: Um 8.31 trifft die DDR-Delegation in Bebra ein, eine Stunde später erreicht der Sonderzug mit dem DDR-Emblem Hammer, Zirkel und Ährenkranz den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. An Gleis 3 begrüßt Brandt seinen Gast Stoph. Beiden ist die Anspannung anzumerken. Kein Wunder, schreibt Brandt später in seinen „Erinnerungen“: „In rührender deutscher Einfalt war (im Westen) gegen Stoph die Freistellung von Strafverfolgung verfügt worden.“ So bleibt die Atmosphäre kühl.

Aufgeheizte Stimmung: Zahlreiche Demonstranten sind nach Kassel gekommen, die Polizei ist mit einem Großaufgebot vor Ort.
Aufgeheizte Stimmung: Zahlreiche Demonstranten sind nach Kassel gekommen, die Polizei ist mit einem Großaufgebot vor Ort. © Werner Lengemann

Beide fahren – begleitet von sieben Motorradfahrern der Kasseler Polizei – durch ein dichtes Spalier winkender Menschen über die Wilhelmshöher Allee Richtung Schlosshotel. Aber die Stimmung ist durch die vielen Demonstranten von links und rechts aufgeheizt. Auf Plakaten wird gefordert „Brandt an die Wand“ oder es wird gereimt „Stoph und Brandt – Volksverräter Hand in Hand“. 

Demos zum deutsch-deutschen Treffen in Kassel: Stoph und Brand als „Volksverräter“ beschimpft

Knallkörper explodieren, Flugblätter wirbeln durch die Luft. Ein „Gauführer“ der rechtsradikalen Wiking-Jugend wirft sich auf die Kühlerhaube des mit den Standarten von Bundesrepublik und DDR geschmückten Mercedes, er wird von der Polizei abgeführt.

Endlich erreicht die Wagenkolonne den Sperrbereich um das Schlosshotel, Aufatmen bei den Sicherheitskräften. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Winkende Kasseler und demonstrierende Aktivisten: Die Wagenkolonne von Willy Brandt und Willi Stoph auf der Wilhelmshöher Allee Richtung Schlosshotel. Sie befindet sich hier auf der Höhe, auf der heute das Anthroposophische Zentrum steht.
Winkende Kasseler und demonstrierende Aktivisten: Die Wagenkolonne von Willy Brandt und Willi Stoph auf der Wilhelmshöher Allee Richtung Schlosshotel. Sie befindet sich hier auf der Höhe, auf der heute das Anthroposophische Zentrum steht. © Carl Eberth

Was als friedlicher Dialog geplant war, drohte in einer Orgie der Gewalt unterzugehen: Das innerdeutsche Treffen von Bundeskanzler Brandt und Ministerpräsident Stoph endete schließlich mit einer Denkpause.

Kassel: Deutsch-deutsches Treffen - Rechtsradikale demonstrieren

Europa schaut an diesem 21. Mai 1970 nach Kassel: Nach dem Gipfel in Erfurt im März empfängt Bundeskanzler Willy Brandt DDR-Ministerpräsident Willi Stoph zum Gegenbesuch in Kassel. Die Stimmung im Schlosshotel, dem Tagungsort des Treffens, ist unterkühlt. Noch bevor die politischen Gespräche in Gang kommen können, unterbricht Stoph den Bundeskanzler. 

Überforderte Polizei: Angesichts zahlreicher gewalttätiger Aktivisten droht dem Gipfeltreffen von Kassel zeitweise der Abbruch.
Überforderte Polizei: Angesichts zahlreicher gewalttätiger Aktivisten droht dem Gipfeltreffen von Kassel zeitweise der Abbruch. © Alfred John

Gerade hat man ihm einen Zettel in den Tagungssaal gereicht: Drei Rechtsradikale der „Deutschen Jugend des Ostens“, die sich als Journalisten getarnt in den Sperrbereich um den Tagungsort schleichen konnten, haben die DDR-Flagge vor dem Schlosshotel vom Mast geholt und zerschnitten. In scharfen Worten protestiert Stoph gegen den Zwischenfall, Brandt entschuldigt sich.

Zähe Gespräche beim deutsch-deutschen Treffen in Kassel: Stoph fordert Anerkennung der DDR

Zäh schleppen sich anschließend die Gespräche dahin, Stoph fordert erneut die offizielle Anerkennung der DDR durch die Regierung in Bonn, Brandt verlangt von den Machthabern in Ost-Berlin Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland.

Immer wieder werden die Verhandlungen der Delegationen zu Vier-Augen-Gesprächen unterbrochen: Stoph tritt hier unbefangener auf, berichtet Brandt später in seinen „Erinnerungen“: „Die Gewissheit, dass nicht mitgehört würde, schien ihn zu beflügeln“. Stoph dringt – offenbar wegen der prekären Wirtschaftslage der DDR – auf Zusammenarbeit auf den Gebieten Verkehr, Post und Wirtschaft.

Gegen Mittag bewirtet das Schlosshotel seine Gäste mit frischem Stangenspargel in Sauce Vinaigrette, Neuenahrer Rindfleisch, klarer Hühnerbrühe, gespicktem Rehrücken mit Rahmtunke, Pfifferlingen, Stangensellerie, Spätzle und frischen Erdbeeren. Gereicht wird unter anderem ein 1963er Aßmannshäuser Höllenberg Spätburgunder.

Deutsch-deutsches Treffen in Kassel stand kurz vor Abbruch: Demonstrationen

Am Nachmittag steht das Treffen plötzlich vor dem Abbruch. Stoph will am Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Fürstengarten am Weinberg einen Kranz niederlegen. Doch dort und an anderen Stellen prügeln inzwischen linke und rechte Demonstranten aus der ganzen Bundesrepublik und – wie man heute weiß – auch Stasi-Mitarbeiter aufeinander ein, es kommt zu tätlichen Auseinandersetzungen mit den trotz Verstärkung überforderten Sicherheitskräften. 

Kassels Polizeipräsident Herbert Ahlborn warnt eindringlich vor der Kranzniederlegung, die DDR-Delegation bläst sie schließlich selbst ab, weil die „Behörden der Bundesrepublik die Sicherheit des Ministerpräsidenten nicht gewährleisten“ könnten.

Deutsch-deutsches Treffen 1970 in Kassel: Dialog zwischen BRD und DDR sollte fortgeführt werden

Ostberlin bekommt nun die spektakulären Bilder und Schlagzeilen, die man Wochen zuvor in Erfurt („Willy Brandt ans Fenster“) den Besuchern aus dem Westen überlassen musste.

Abschied am Bahnhof: Willi Stoph (am Zugfenster) und Willy Brandt in Kassel-Wilhelmshöhe.
Abschied am Bahnhof: Willi Stoph (am Zugfenster) und Willy Brandt in Kassel-Wilhelmshöhe. © dpa

Erst am Abend, als die Demonstranten abgezogen sind und die Polizei die Lage wieder im Griff hat, kann Stoph seinen Kranz doch noch niederlegen. Eine neue Peinlichkeit wird erst am nächsten Morgen festgestellt: Unbekannte haben in der Nacht die Schleifen vom Kranz entwendet.

Doch davon ahnt noch niemand etwas, als Brandt die DDR-Delegation gegen 22 Uhr auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe verabschiedet. Beiden Seiten ist klar geworden, dass sie Endgültiges über Deutschland allein gar nicht beschließen können, das geht nur im Einverständnis mit den vier Siegermächten. Man will deshalb eine Denkpause einlegen, den Dialog aber fortführen. Damit endet einer der aufregendsten Tage in der Geschichte Kassels.

Von Wolfgang Blieffert

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