„Ivie wie Ivie“ (ZDF / Weydemann Bros.) ist ein Kleines Fernsehspiel �ber zwei Halbschwestern, die sich erst nach dem Tod ihres afrikanischen Vaters kennenlernen. Die Begegnung mit der dunkelh�utigen Naomi setzt in der hellh�utigen Titelheldin einen Prozess in Gang: Mit 30 Jahren macht sie sich zum ersten Mal Gedanken �ber ihre Wurzeln. Sarah Bla�kiewitz hat im Drehbuch zur ihrem Langfilmdeb�t eigene Erfahrungen verarbeitet; der vom gesamten Ensemble, aber vor allem von Titeldarstellerin Haley Louise Jones ganz vorz�glich gespielte Film vermittelt aus Sicht der Frauen viel �ber gedankenlosen Alltagsrassismus. Der Film wird im Rahmen der „Shooting Star“-Reihe 2022 gezeigt.
Wenn ein Film von der Identit�tsfindung einer drei�igj�hrigen Leipzigerin mit schwarzafrikanischen Wurzeln handelt, werden sich manche Menschen m�glicherweise fragen: Was hat das mit mir zu tun? Und genau das ist das Problem. „Ivie wie Ivie“ beschreibt, wie es ist, mit dunkler Hautfarbe in einem Land zu leben, dessen Ureinwohner Wei�e sind. Als Sarah Bla�kiewitz vor einigen Jahren das Drehbuch geschrieben hat, war sie so alt wie ihre Titelheldin. Sie hat einen afrikanischen Gro�vater und ist geb�rtige Leipzigerin. Die Vermutung, dass ihr erster Langfilm autobiografische Z�ge hat, liegt nahe und ist f�r Deb�ts ohnehin nicht ungew�hnlich. Die pers�nliche Betroffenheit birgt aber auch ein Risiko: Meist sind solche Projekte gut gemeint, werden aber von der Last ihrer Botschaft erdr�ckt.
Foto: ZDF / Constanze + David Schmitt.M�ssen sich zusammenraufen: die Halbschwestern Ivie (Haley Louise Jones) und Naomi (Lorna Ishema). Ernsthafte Suche nach den eigenen Wurzeln – beschwingt.
Davon kann hier keine Rede sein; das ist neben dem wichtigen Thema der zweite gro�e Pluspunkt. Endg�ltig sehenswert wird der bei aller Ernsthaftigkeit oftmals beschwingt inszenierte Film durch die Leistung der beiden Hauptdarstellerinnen. Bei Lorna Ishema, f�r diese Rolle mit dem Deutschen Filmpreis als Beste Nebendarstellerin geehrt, ist das keine �berraschung, sie hat schon die ZDF-Serien „Breaking Even“ (2020, Neo) und „Der �berfall“ (2022) getragen. Haley Louise Jones ist im Grunde auch keine Entdeckung, wurde bislang aber meist in Nebenrollen besetzt. Wie so oft bei (Ko-)Produktionen des Kleinen Fernsehspiels stellt sich die Frage, warum das „Zweite“ gerade im Sommer nicht den Mut hat, den Film um 20.15 Uhr auszustrahlen, selbst wenn er mit seiner L�nge von 109 Minuten nicht ins Programmgef�ge passt; dann h�tte ein Millionenpublikum die Chance, sich an Jones’ facettenreicher Verk�rperung der Titelfigur zu erfreuen, zumal Bla�kiewitz eine Geschichte erz�hlt, mit der sich viele Menschen identifizieren k�nnen.
Foto: ZDF / Weydemann Bros.Naomi (Lorna Ishema; "Der �berfall", 2022) trauert um ihren verstorbenen Vater.
Ivie ist bei ihrer Mutter (Anneke Kim Sarnau) aufgewachsen, sie hat ihren Erzeuger nie kennengelernt. Eines Tages steht eine fremde Frau vor der T�r: Naomi (Ishema) stellt sich als ihre Halbschwester vor. Der gemeinsame Vater ist gestorben; nun �berlegen die beiden Frauen, ob sie zur Beerdigung nach Afrika reisen sollen. Die Begegnung mit Naomi l�st einen Prozess aus, in dessen Verlauf sich Ivie zum ersten Mal mit ihrer Herkunft auseinandersetzt. Die Halbschwester, die eine schwarzafrikanische Mutter und daher eine viel dunklere Hautfarbe hat, ist schockiert, wie unbek�mmert Ivie auf meist gar nicht b�se gemeinte allt�gliche Rassismen reagiert. Damit ist die Geschichte bei ihrem Subthema, und hier lauert das Risiko, dass aus der Identit�tsfindung eine verfilmte Brosch�re wird, die dem wei�en Publikum vor Augen f�hrt, was es bislang alles falsch gemacht hat.
Soundtrack: Emmi Elisabeth („Thicker Than Water“), Ibeyi („River”), Nina Shey feat. Jabba („Move Ya Body”)
Zum Gl�ck war sich Bla�kiewitz dieser Gefahr offenbar bewusst, weshalb sie diese Aspekte zun�chst eher beil�ufig einstreut: Ivie ist Lehrerin f�r die F�cher Mathematik und Sport, hat ihr Referendariat absolviert und sucht eine Anstellung. In den Bewerbungsgespr�chen geht es jedoch weniger um ihre Qualifikation, sondern vor allem um ihren „Background“, wie es mal hei�t, regelm��ig verbunden mit der Frage, wo sie herkomme, die nat�rlich meint: Was sind deine Wurzeln? Das fragt sich Ivie schlie�lich auch. Auf diese Weise bietet die Handlung einen universell g�ltigen Ankn�pfungspunkt: Wie sehe ich mich selbst, wie sehen mich die anderen? Als Naomi sagt, es ginge auch darum, „unsere Kultur mit Stolz zu vertreten“, kann sie ihr gar nicht folgen, sie ist doch Deutsche; aber die Saat ist gelegt. Die Selbstfindung ist jedoch erst mal mit Schmerzen verbunden, und daran hat Naomi einen erheblichen Anteil: Als die Schwester mitbekommt, dass sich Ivie von ihrer besten Freundin Anne (Anne Haug) widerspruchslos „Schoko“ nennen l�sst, ist sie schockiert („Nennt du sie auch Vanille?“). Aus ihrer Sicht ist das „positiver Rassismus“. Negativen Rassismus schildert Bla�kiewitz ebenfalls, er trifft vor allem Naomi, die unter anderem von zwei Typen angep�belt wird. Eine Radfahrerin (Luisa-C�line Gaffron) zeigt Zivilcourage, geht dazwischen und ruft die Polizei, die aber offenkundig keinerlei Interesse hat, der Sache nachzugehen.
Foto: ZDF / Constanze + David Schmitt.Der Tod des Vaters stellt das Leben von Ivie (Haley Louise Jones) auf den Kopf.
Endg�ltig zum Drama wird der im Rahmen der Reihe ZDF-„Shooting Stars“ ausgestrahlte Film, als sich Ivie der Reihe nach mit allen verkracht, die ihr wichtig sind: Anne, ihre Mutter, ihr alter Freund Ingo (Maximilian Brauer), Besitzer des Sonnenstudios, in dem sie jobbt, und schlie�lich auch Naomi, mit der sie sich sogar eine Rauferei liefert. Filmisch h�tte die Regisseurin ruhig etwas mutiger sein k�nnen, die Kameraf�hrung (Constanze Schmitt) ist recht statisch. Die mitunter an Peter Green erinnernde Musik (Jakob Fensch) ist hingegen sehr besonders. Einige Szenen m�gen gerade im Hinblick aufs Kernthema �berfl�ssig wirken, aber „Ivie wie Ivie“ erz�hlt eben auch andere Geschichten. Trotzdem sind die Momente, in denen sich Bla�kiewitz auf die Identit�tsentwicklung konzentriert, die st�rksten, darunter ein Besuch der Titelheldin in einem speziellen Frisiersalon: Der Afro soll ab, weil er „immer im Weg“ sei; eine Formulierung, die sich sicher nicht zuf�llig doppelt deuten l�sst. Die Friseurin bringt das nicht �bers Herz und schl�gt ihr als Kompromiss eine kunstvolle Zopffrisur vor, und eine alte Frau kl�rt sie �ber die Bedeutung ihres Namens auf: Ivie hei�e „precious“, kostbar.
Foto: ZDF / Yigit, Brauer, HaugDie Beziehung zum Freundeskreis um Ingo (Maximilian Brauer) und Anne (Anne Haug) wird auf eine harte Bew�hrungsprobe gestellt. Ivie verkracht sich mit allen...
Tilmann P. Gangloff ist seit 1985 freiberuflicher Fernseh- und Filmkritiker f�r Tageszeitungen und Fachzeitschriften, seit 1990 regelm��iges Mitglied der Jury f�r den Grimme-Preis sowie Mitglied diverser anderer Fernsehpreisjurys.