Er hatte sich so auf sein Leben ohne die Politik gefreut. Strahlend, braun gebrannt, mit Seglerschuhen stand Guido Westerwelle im Juni 2014 in der prächtigen, frisch renovierten Altbauwohnung am Ku’damm in Berlin und konnte es kaum erwarten, als Anwalt und Vorsitzender seiner Stiftung zu wirken, die den Geist des freiheitlichen, rheinischen Kapitalismus in die Welt tragen wollte.
Wenige Wochen später wurde publik, dass Westerwelle an Leukämie erkrankt ist. Anders als viele andere hatte Westerwelle nach der Amtsübergabe an Frank-Walter Steinmeier im Dezember 2013 einen „clean cut“ vollzogen. Er war durch mit der Politik. Er wollte sein Leben genießen, seine glückliche Ehe mit Michael Mronz, seine Liebe zur Kunst und den schönen Dingen des Lebens.
Wir standen auf dem Balkon seiner Stiftung, und er erzählte, wie er jetzt jeden Morgen von seiner Charlottenburger Wohnung in die Stiftung spazieren könne, ohne Fahrer, ohne Bodyguards, mit einer Sonnenbrille auf der Nase. Er lachte und blinzelte dabei in die Sonne. Er war mit sich im Reinen. Hatte seine Lektionen gelernt. Westerwelle hat viel gemacht, immer schon, von klein auf.
Und damit hat er natürlich auch immer schon viel falsch gemacht. Aber er hat das in einem Land getan, das Fehler nicht mag und wohl auch keine Vertreter einer Minderheit (schwul, liberal, gut gelaunt), die ohne Hauch von Demut und Komplexen lebte.
Vizekanzler im wohl progressivsten Kabinett überhaupt
Als Bürgerkind hatte Guido Westerwelle lange Haare und „machte eine Schülerzeitung“, wie er sich stolz erinnerte. Nun kann man sich streiten, ob lange Haare Ende der 70er-Jahre ein Zeichen der Anpassung oder immer noch eines der Rebellion waren. Wahrscheinlich beides: abhängig vom Kontext, in dem sich der Langhaarige bewegte. Westerwelle war also nicht mit Krawatte, kurzen Haaren und einer Rolex geboren worden, so viel steht fest.
Bemerkenswert war, dass man ihm das zugetraut hätte. Dabei passten die langen Haare und das Rebellentum besser zu Leben und Werk Westerwelles als die Hassprojektion, die in ihm das personifizierte Asoziale vermutete. Dabei veränderte er die Bundesrepublik nachhaltig. Als offen schwuler Vizekanzler war er Teil des wohl progressivsten Kabinetts der Bundesrepublik: mit einer Frau als Kanzlerin (Tochter eines Kommunisten, kinderlos, Naturwissenschaftlerin), einem Schatzkanzler im Rollstuhl, einem Vietnamesen als Youngster.
Seit Westerwelle 1994 als FDP-Generalsekretär die politische Bühne betrat, hatte er sich nicht verändert: keine Spurenelemente einer Vergangenheit, die etwas anderes gewesen sein könnte als das, was ist. Anders als Joschka Fischer, der vom Turnschuh-Lümmel zum Typ Bankvorstand konvertierte, anders als Helmut Kohl, dessen Bauchumfang mit der Macht wuchs, anders als Claudia Roth, deren Erscheinung heiter changiert.
Glatt und kühl wirkte er oft – etwas, das einem Liberalen gut ansteht, wäre da nicht jene mangelnde Erdigkeit, die in Deutschland kaum jemandem verziehen wird: Karl Lagerfeld ebenso wenig wie Josef Ackermann. Das deutsche Authentizitätsbedürfnis wurde von Westerwelle ausgesprochen unzureichend bedient. Sein Auftreten umgab stets etwas Kulissenhaftes, seine Selbsttreue wirkte arrangiert, nicht zuletzt aufgrund der Jahre jenes Versteckspiels um seine Homosexualität. Gemütlich machen können es sich die Deutschen mit einer derart postmodernen Figur kaum, aber vielleicht war der Bonner daran gar nicht interessiert.
Kein liberaler Vordenker – aber ein hingebungsvoller FDP-Chef
Eine von Westerwelles unterschätzten Stärken war sein Fleiß. Als Autodidakt hat er sich Politik selbst beigebracht: „streberhaft“, wie Kritiker anmerkten, „sehr zweckorientiert“, wie Freunde meinten. Westerwelle führte die Partei nicht von Berlin aus, sondern war pausenlos unterwegs. Nicht nur während des Wahlkampfes tourte er auch durch kleinste Ortsverbände, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Die Basis hüte er wie seinen Augapfel, erklärte er nicht ohne Rührung.
Im Jahre des Möllemann-Desasters hat ihm das vielleicht seinen Job als Parteichef gerettet: Die Basis wusste, dass sich dieser Chef die Hacken ablief und sich nie zu fein war, auch in die kleinsten Gemeinden zu kommen, um Kandidaten vor Ort zu unterstützen.
Als liberaler Vordenker wird er nicht in die Geschichte eingehen, aber als ein hingebungsvoller leitender Angestellter seiner Partei, der dem Liberalismus in der Stunde seiner größten Bedrohung Handlungsspielraum und Zukunft gegeben hatte. Als Westerwelle 2001 Parteivorsitzender wurde, war die FDP gerade noch in fünf Landesparlamenten vertreten. Am Höhepunkt seines Wirkens hatte er bei der Bundestagswahl unglaubliche 14,6 Prozent für die FDP erkämpft. Das war die Rendite für seine Jahre als Oppositionsführer, virtuos, rhetorisch brillant, bei Regierung wie der Konkurrenz gefürchtet.
Guido Westerwelle gab es mit und ohne Verstärker. Die Öffentlichkeit kannte ihn ausschließlich laut, pointenstark, nie um eine schnelle Antwort und die Lösung des Problems verlegen. Als eine Art ständige Vertretung neoliberaler Kampfrhetorik wirkte er rastlos – und oft auch wie ein Chuck Norris des Neoliberalismus. Westerwelles Stimme hatte sich an den Tonfall gewöhnt: Dass es eine Bühnenstimme war, erkannte man, wenn er den Lautsprecher ausschaltete; wenn der aufhörte, seine Rolle zu spielen.
Seine weiche Seite zeigte er erst spät
Der andere Westerwelle war eine eher zurückhaltende Person. Im politischen Berlin gab es Momente, in denen er es genoss, am Seitenrand des Spielfelds zu stehen und seinen Blick auf die Welt zu schärfen. Eine Zigarre im Mund, sensibel fragend, mit stillem Humor. Erst im Umgang mit seiner Krebserkrankung wurde auch die weiche Seite Westerwelles für die Öffentlichkeit greif- und vorstellbar.
Zu spät, wie man jetzt sagen muss. Davor hat ihm die Mehrheit dieses Landes nie etwas verziehen, keine ungeschickte Bemerkung zu Journalisten der BBC, keine polemische Zuspitzung einer in der Tat problematischen Mentalität („spätrömische Dekadenz“), kein Wohnmobil mit großen Sprüchen, die Schuhe nicht mit den beiden Ziffern.
Er war berühmt und berüchtigt. Kurt Krömer musste nur „Nak Nak Nak“ ins Publikum schnattern und am Ende sagen, das wäre Guido Westerwelle gewesen, und das Publikum tobte. Guido Westerwelle war eine Ikone der Politik. Seine wegweisenden Reden zu Europa, seine rückblickend richtige Enthaltung beim Waffengang in Libyen, sein existenzielles Eintreten für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, auch als Stratege, der seine Identität als Waffe einsetzte: All das machte ihn zum großen Staatsmann.
Wer ihn eher privat kennenlernen durfte, dem bleibt er in seiner frechen, charmanten, liebenswerten Feinheit in Erinnerung. Wir Deutschen werden ihn vermissen. Er hat viel für dieses Land getan.