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Literatur George Saunders

„Ich rede hier von der dritten Wahl, nicht der vierten (der des Sohns)“

Feuilletonredakteur
„Patriots Day“ im kalifornischen Berkeley „Patriots Day“ im kalifornischen Berkeley
„Patriots Day“ im kalifornischen Berkeley
Quelle: Getty Images
Booker-Preisträger, Bestsellerautor: George Saunders dürfte der amtierende Weltmeister der Kurzgeschichte sein. Ein bisschen kafkaesk war er immer, in seinen neuen Storys „Tag der Befreiung“ kommt ein Hauch Orwell dazu.

In Kurzgeschichten stolpert man ja so hinein. Bei George Saunders, der wohl so etwas wie ihr amtierender Weltmeister ist, beginnen sie mit einem „wieder“ oder mit „Es ist Tag 3 des Interims“ oder so: „An den Bäumen entlang der Pine Street, an denen jeden Frühling lila Blumen sprossen, sprossen lila Blumen.“

Klingt wie ein kleiner, hingeschlenzter Scherz, entpuppt sich aber als großes Thema: „Muttertag“, die siebte von insgesamt neun neuen Saunders-Storys, die der Band „Tag der Befreiung“ versammelt, handelt nämlich von der Unausweichlichkeit des Lebens, zu dem, nicht vergessen, auch der Tod gehört, und wird damit enden, dass jemand schluchzend an einem der Bäume der Pine Street lehnt.

Was auf den 30 Seiten dazwischen geschieht, lässt sich so oder so zusammenfassen. So: Zwei alte Frauen begegnen sich auf der Straße und wechseln kein Wort. Oder so: Alma und Debi, die sich weit mehr als den Mann geteilt haben, schauen auf ihr Leben zurück und fragen sich, ob sie es wohl verpasst haben.

Ein hollywoodeskes Nordkorea

Aber, dem Himmel und den Blumen an der Pine Street sei Dank: Saunders ist nicht Ernest Hemingway oder Raymond Carver; er säbelt nicht nur Graubrot vom Laib des Lebens; er bleibt, obwohl unverkennbar, unberechenbar. Dem Realismus der minimalistischen Pine-Street-Szene, in der es quasi zum Äußersten kommt, wenn es Hagelkörner regnet, geht zum Beispiel eine spektakuläre, fantastische Erzählung voraus.

Ein bisschen Hoffnung ist schon noch: George Saunders
Ein bisschen Hoffnung ist schon noch: George Saunders
Quelle: Ramin Talaie/Redux

„Ghul“, Story Nummer sechs, spielt in einem unterirdischen Themenpark, der unterhalb von Pueblo, Colorado liegt. Im Arbeitshaus „SCHLÜNDE DER HÖLLE“ verkörpert Brian dort unten einen „hockenden Ghul“. „Barme weiter, schändlich Vieh“, muss er laut Drehbuch etwa zu seinem Mit-Ghul sagen, und in der Pause laufen ihm Darsteller aus den Arbeitshäusern „FIFTIES-SÖCKCHEN-SCHWOF“ oder „CHICAGO-GANGSTER-UNTERSCHLUPF“ über den Weg: Die Welt ist eine Illusion, und wir alle sind bloß entfremdete Darsteller in ihr …

Tatsächlich sind solche Themenparkgeschichten in früheren Saunders-Sammlungen signature pieces gewesen, und zunächst einmal wirkt die Welt von Ghul Brian in all ihrem ausgestellten Wahnsinn so, als könnte sie auch in Bänden wie „BürgerKriegsLand fast am Ende“ (dt. 1997) oder „Pastoralien“ (dt. 2002) stehen. Nach und nach jedoch entpuppt sich „Ghul“ weniger als kapitalistische, sondern als politische Dystopie; unter Pueblo, Colorado scheint weniger in den Wahnsinn getriebenes Disneyland als ein hollywoodeskes Nordkorea zu liegen.

Zuschauer, Besucher gibt es da unten nämlich nicht und über die ständigen Überschwemmungen und Stromausfälle zu murren, kann die Ghul- oder Gangster-Darsteller ohne weiteres das Leben kosten. Denn wer „Bedauerlichste Unwahrheiten“ äußert, wird von den anderen auf Zuruf totgetreten. „Kafkaesk“ ist Saunders immer schon gewesen, in „Tag der Befreiung“ kommt nun etwas hinzu, das man im Englischen „orwellian“ nennen würde.

Geschichte Nummer eins setzt da den Ton; sie gibt den Brief eines Großvaters an seinen Enkel wieder, in dem der Alte bei hohem Fremdschämfaktor erklärt, wie es so weit kommen konnte, dass „ein Clown etwas so Edles und Erprobtes und scheinbar Stabiles“ zerrüttet hat: „Ich rede hier von der dritten Wahl, nicht der vierten (der des Sohns), die, weil sie der totale Betrug war, nicht mehr ganz so wehtat (bzw. überraschte).“ 2024 braucht so eine Passage keine Fußnote, die sie erläutert, und vielleicht ist es wiederum diese Passage, die die vielen Schafe in Saunders’ neuen Erzählungen erklärt: Dem Wolf kommen sie sämtlich reichlich spät auf die Schliche, der Großvater ebenso wie Brian, der hockende (!) Ghul.

Mental auf Null gesetzt

Bemerkenswerterweise hat man gleich zwei der Protagonisten in diesen Geschichten das Hirn buchstäblich gelöscht: Elliott Spencer aus der gleichnamigen Story hat man es (in Frank Heiberts quicklebendiger deutscher Übersetzung) fachmännisch „gescharrt“, jetzt wird der ehemalige Obdachlose als „Greg“ oder „89“ von einer Art Medienagentur bei propagandistischen Massenszenen eingesetzt – soziale Medien sind offenbar ein Themenpark für sich.

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In der fast hundert Seiten langen Titelgeschichte schließlich ist es Jeremy, den man mental auf Null gesetzt hat. In seinem neuen Leben hängt er im Nebengebäude eines reichen Mannes als sogenannter „Künder“ von der Decke, weil Mr. U. dort für seine Bekannten sehr spezielle Live-Podcasts produziert. In „Tag der Befreiung“ stellen Jeremy und seine (lange Zeit glücklich) versklavten Kollegen Custers letzte Schlacht am Little Bighorn nach, was den woken Sohn von Mr. U. in solche Verzweiflung stürzt, dass er den Vater an ein obskures Befreiungskommando verrät.

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„Tag der Befreiung“ entwickelt sich zum spannenden, komischen, zynischen Meisterstück der Sammlung, das in seiner eigenbrödlerischen Brillanz einige Ähnlichkeiten mit Saunders’ einzigem Roman „Lincoln im Bardo“ hat.

Doch so dystopisch die Szenarien auch sein mögen: Saunders nichtet nicht, seine schwachen Helden dürfen bis zur letzten Seite hoffen. „Spatz“ heißt die Geschichte einer unoriginellen, linkischen, ein bisschen peinlichen durch und durch gewöhnlichen Frau, die der von ihr erzählenden Meute aber voraus hat, dass sie zu lieben vermag. Kann das ein gutes Ende nehmen? Solange man die Blumen an der Pine Street noch blühen sieht, natürlich allemal.

George Saunders: „Tag der Befreiung“. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Luchterhand, 320 S., 25 Euro.

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