„Ihre einzige Kritik an Putin ist, er sei Kapitalist?“ CDU-Politiker und Linke im Streitgespräch

„Ihre einzige Kritik an Putin ist, er sei Kapitalist?“ CDU-Politiker und Linke im Streitgespräch

Paul Ziemiak und Zaklin Nastić diskutieren über Waffenlieferungen, Diplomatie und die Frage, wie ihre polnische Herkunft ihren Blick auf den Ukraine-Krieg prägt.

Paul Ziemiak und Zaklin Nastić
Paul Ziemiak und Zaklin NastićBenjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung

Zaklin Nastić und Paul Ziemiak begrüßen sich auf Polnisch. Beide stammen aus Polen, sie aus Gdynia, er aus Stettin. Beide kamen als Kinder nach Deutschland, heute sind sie Bundestagsabgeordnete. Das sind Gemeinsamkeiten.

Im Gespräch über den russischen Krieg gegen die Ukraine trennen die Linke und den CDU-Politiker jedoch Welten. Nastić ist in ihrer Fraktion eine der Verbündeten von Sahra Wagenknecht. Sie lehnt Waffenlieferungen ab und fordert mehr diplomatische Bemühungen der Bundesregierung. Ziemiak sagt: Sollte der Westen die militärische Hilfe für die Ukraine einstellen, käme das einem „Freifahrtschein“ für den russischen Präsidenten Wladimir Putin gleich.

Zum Streitgespräch für die Berliner Zeitung treffen sich Nastić und Ziemiak in einem Konferenzraum des Bundestags. Hier diskutieren sie über den Krieg, Diplomatie und darüber, wie unterschiedlich ihre polnische Herkunft sie prägte.

Berliner Zeitung: Frau Nastić, vor Kurzem haben Sie an der von Sahra Wagenknecht initiierten Kundgebung „Aufstand für Frieden“ teilgenommen. Wieso?

Nasti
ć: Weil ich es für sehr wichtig halte, in diesen Zeiten, in denen ein dritter Weltkrieg droht, endlich für Frieden zu demonstrieren. In Russland darf man den Krieg nicht als solchen benennen. Da ist es doch absurd, dass wir in Deutschland offenbar nicht mehr über Frieden reden können.

Sicherlich hat die Frage der Waffenlieferungen lange die Öffentlichkeit dominiert. Aber dass nicht über Frieden geredet werden könne, ist doch schlicht nicht richtig. Es gab die offenen Briefe, die mehr Diplomatie gefordert haben. Auch Frau Wagenknechts Standpunkt wurde nicht ignoriert. Es wird diskutiert, ob und wie man mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verhandeln könnte.

Nastić: Ich sehe das etwas anders. Abgesehen davon hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Dekret erlassen, wonach sein Land keine Friedensverhandlungen mit Putin aufnehmen soll.

Wir sprechen aber gerade über Deutschland. Darüber, dass man hier angeblich nicht über Frieden reden kann.

Nastić: In Deutschland unterstützt die Regierung nur das, was die ukrainische Führung will, Waffenlieferungen werden als einzig mögliche Form der Solidarität dargestellt. Dabei versucht man es in anderen Konflikten doch auch mit Diplomatie. Es ist ein großer Fehler, dass wir in eine reine Militärlogik verfallen sind. Gerade mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg, auf 27 Millionen ermordete Menschen aus der Sowjetunion, sollten wir die Perspektive weiten. Als gebürtige Polin, deren Geburtsland unter Großmächten gelitten hat, kann ich vieles nachvollziehen. Nicht aber, sich auf den militärischen Schutz der USA zu verlassen. Wir brauchen eine Friedensinitiative, damit das Töten so schnell wie möglich aufhört.

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Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung
Zur Person
Zaklin Nastić wurde 1980 im polnischen Gdynia geboren. Noch als Kind kam sie nach Hamburg. Sie studierte Slawistik und trat 2008 in die Linkspartei ein. Nastić war Landessprecherin der Linken in Hamburg, im Bundestag sitzt sie seit 2017. Dort ist sie menschenrechtspolitische Sprecherin ihrer Fraktion und Obfrau im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie im Verteidigungsausschuss.

Herr Ziemiak, sprechen wir zu wenig über Frieden?

Ziemiak: Wie reden doch seit einem Jahr ausschließlich darüber, wie wir Frieden schaffen können. Allerdings darf es keinen russischen Diktatfrieden geben. Nur weil man das Wort Frieden benutzt, heißt das noch nicht, dass sich dahinter echter Frieden verbirgt. Wir brauchen einen gerechten Frieden für die Menschen in der Ukraine – auch für die Sicherheitsinteressen unserer östlichen Partner. Ich muss schon sagen, dieses Gespräch hier fällt mir nicht leicht.

Warum?

Ziemiak: Wenn man es vornehm ausdrücken will, sind Frau Wagenknecht und ihre Anhänger mit ihrem „Aufstand für Frieden“ nützliche Idioten des Kremls. Und sie haben auch kein Problem damit, wenn sie auf ihrer Demo von Rechtsextremen unterstützt werden.

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Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung
Zur Person
Paul Ziemiak wurde 1985 im polnischen Stettin geboren. Seine Familie wanderte nach Nordrhein-Westfalen aus, wo sie zunächst in Unna-Massen und dann in Iserlohn lebte. Ziemiak studierte Rechtswissenschaften und Unternehmenskommunikation, blieb aber ohne Abschluss. 2001 trat er in die CDU ein. Nach seinem Einzug in den Bundestag 2017 war er unter anderem Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Aktuell gehört er dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an. Ziemiak war Generalsekretär der Bundes-CDU. Seit Kurzem ist er Generalsekretär seiner Partei in Nordrhein-Westfalen.

Meinen Sie nicht, dass legitimer Protest verunglimpft wird, indem man den Teilnehmern Putin-Propaganda unterstellt?

Ziemiak: Erstens haben wir gesehen, dass es möglich ist, in Deutschland eine solche Demo durchzuführen. Und das ist auch gut so. Wir haben Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Zweitens habe ich vor jedem Respekt, der sich wie unsere Kirchen schwertut mit Waffenlieferungen. Das ist aus christlicher Sicht ein Dilemma. Die Angst vor einer Eskalation kann ich nachvollziehen.

Aber?

Ziemiak: Was da unter dem Deckmantel von Pazifismus und Friedensrufen stattfindet, ist genau das, was der Kreml will. Da wird gegen die Nato gehetzt. Es werden Kriegsverbrechen relativiert. Wer darauf besteht, dass an diesem Krieg zwei Akteure gleichermaßen beteiligt sowie schuld seien und man sich durch Verhandlungen in der Mitte treffen müsse, spielt Putin in die Karten. Doch es ist ein einseitiger Krieg, ein russischer Überfall. Wenn Frau Nastić auf die sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs verweist, müsste sie zum gleichen Schluss kommen wie die Menschen in Polen. Dort ist man sich einig, dass nicht der gleiche Fehler begangen werden darf wie am 1. September 1939: Damals haben Großbritannien und Frankreich den deutschen Angriff auf Polen verurteilt, um dann erst mal nichts zu tun.

Nastić: Es ist Unsinn, uns Putin-Propaganda vorzuwerfen! Wer so argumentiert, will Menschen einschüchtern. Sie sollen in die rechte Ecke gestellt werden. Das ist hochgefährlich. Immerhin unterstützen 39 Prozent der Bevölkerung das „Manifest für Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Währenddessen kämpfen auf ukrainischer Seite rechtsextreme Asow-Truppen und werden dabei von Deutschland womöglich noch ausgerüstet. Ein Herr Melnyk, der Vizeaußenminister der Ukraine, wird vom Westen hofiert, obwohl er den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera verehrt. Da ruft niemand „Querfront!“.

Auf Stepan Bandera werden wir noch zu sprechen kommen. Was Asow betrifft: Die rechtsextreme Vergangenheit des Regiments bezweifelt niemand. Inwieweit die Eingliederung in die ukrainische Nationalgarde die Einheit entpolitisiert hat, ist derzeit schwer zu überprüfen. Unabhängig davon handelt es sich um einen zahlenmäßig kleinen Teil der Streitkräfte. Ist das ein Grund, ein ganzes Land nicht gegen einen Angriffskrieg zu unterstützen?

Nastić: Darum geht es mir nicht allein, und abgesehen davon ist das Problem rechtsextremer Kräfte in der Ukraine weit größer, als behauptet wird. Herr Selenskyj ließ im vergangenen Jahr einen Asow-Kämpfer zum griechischen Parlament sprechen. Das hat dort für einen Eklat gesorgt. Ich kenne viele Polen, die sagen, dass gerade Deutschland sich von solchen Menschen distanzieren muss. Andererseits ist es natürlich vollkommen richtig, flüchtende Ukrainer aufzunehmen. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass Waffen keinen Frieden schaffen, im Gegenteil: Immer mehr Menschen sterben. Außerdem kritisieren Sahra Wagenknecht und ich auch den russischen Präsidenten. Keine Linke würde diesen Mann wählen. Putin ist ein Kapitalist, er ist nicht links.

Zaklin Nastić
Zaklin NastićBenjamin Pritzkuleit

Ziemiak: Eine Frage, weil ich mich gerade disziplinieren muss. Sind Sie überhaupt dafür, die Ukraine irgendwie militärisch zu unterstützen?

Nastić: Nein. Ich bin eben nicht dafür, Mordwerkzeug zu exportieren, mit dem Menschen getötet werden – ob in der Ukraine oder anderswo. Warum hat die CDU in den vergangenen Jahren Waffen nach Saudi-Arabien liefern lassen?

Ziemiak: Es geht doch jetzt um die Ukraine. Lenken Sie nicht ab.

Nastić: Nein, es geht auch um Doppelmoral. Und wir müssen darüber sprechen, warum plötzlich das Selbstverteidigungsrecht eines europäischen Landes unterstützt wird, während wir bei anderen Kriegen wegschauen und den Opfern nicht helfen. Noch schlimmer: den Tätern mit Rüstungsexporten das Morden erst ermöglichen.

Wo liegen denn die Unterschiede zwischen Ihrer Haltung und der des russischen Präsidenten?

Paul Ziemiak, CDU

Ziemiak: Sie fordern also Friedensverhandlungen und wollen gleichzeitig die Unterstützung für die Ukraine stoppen. Wenn man dieser Denke folgen würde, wäre das ein Freifahrtschein für Putin. Er könnte seine Streitkräfte bis zur polnisch-ukrainischen Grenze und vielleicht noch weiter marschieren lassen. Das wäre die Konsequenz. Und Ihnen fällt als einzige Kritik an Putin ein, er sei ein Kapitalist? Wo liegen denn davon abgesehen die Unterschiede zwischen Ihrer Haltung und der des russischen Präsidenten?

Nastić: Es gibt einen riesigen Unterschied: Ich verurteile und benenne diesen Krieg als das, was er ist – ein Krieg.

Ziemiak: Das soll also die Distanzierung von Putin sein? Dass Sie sagen, es sei ein Krieg?

Nastić: Wenn Ihnen das nicht genügt, ist das legitim. Mich würde eher interessieren, was Deutschland nach der Wiedervereinigung getan hat, damit sich die Nato nicht immer weiter nach Osten erweitert – trotz des Zugeständnisses von Hans-Dietrich Genscher. Warum konnte sie militärisch immer weiter in Richtung russische Grenze vorrücken?

Sie sprechen von einer Aussage des früheren Bundesaußenministers vor den Zwei-plus-vier-Verhandlungen im Jahr 1990. Genscher hatte nach einem Treffen mit seinem US-Amtskollegen gesagt, man sei sich einig, dass nicht die Absicht bestehe, „das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten“. Das gelte nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern auch generell. Allerdings war das kein vertragliches Zugeständnis. Genscher sprach nicht für die Nato.

Nastić: Unabhängig davon hätten doch auch die USA ein Problem damit, wenn plötzlich feindliches Militär nahe ihrer Grenze stationiert würde – denken Sie an die Kuba-Krise. Natürlich legitimiert das nicht den russischen Krieg. Aber so zu tun, als habe es diese Vorgeschichte nicht gegeben, ist ein Fehler. Jeder Staat hat legitime Sicherheitsinteressen. Wir reden hier nicht nur von einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Dies ist auch ein Stellvertreterkrieg. Die USA wollen mithilfe der Nato ihre Einflusssphäre ausbauen. Russlands Angriff auf die Ukraine war ein verbrecherischer Gegenschlag.

Ziemiak: Ich muss meine Aussage zurücknehmen, wonach Frau Wagenknecht und Frau Nastić nützliche Idioten sind. Es ist noch viel schlimmer.

Warum?

Ziemiak: Weil das die vorsätzliche Verbreitung purer russischer Propaganda ist. Die Ukraine hat mit der Nato-Osterweiterung nichts zu tun. Sie ist nicht in der Nato. Auch sprechen Sie den baltischen Staaten und den Staaten Mittel- und Osteuropas ab, dass sie frei entscheiden können, ob sie einem Verteidigungsbündnis beitreten oder nicht. Ohne die Nato wären diese Länder dem russischen Imperialismus schutzlos ausgesetzt. Sie ist eine Sicherheitsgarantie für ihre Existenz. Nicht mal im Kreml glaubt man, dass die Nato-Erweiterung eine Gefahr darstellt – als ob Estland oder Polen einen Angriff auf Russland planen würden! Das ist absurde Propaganda für einen völkerrechtswidrigen Krieg.

Paul Ziemiak und Zaklin Nastić
Paul Ziemiak und Zaklin NastićBenjamin Pritzkuleit

Nastić: Sie wollen über völkerrechtswidrige Kriege sprechen? Dann nehmen wir doch den Krieg der Nato gegen Jugoslawien, der von Ihrer CDU unterstützt wurde. Damals wurde das Kosovo völkerrechtswidrig abgespalten. Aber heute sagen wir, und das sehe ich ja auch so, dass die sogenannten russischen Volksrepubliken in der Ostukraine nicht akzeptiert werden können. Wie ist eine solche Doppelmoral möglich?

Ziemiak: Und wieder stehen Sie fest an der Seite Moskaus. Abgesehen davon würde ich immer wieder im Bundestag dafür stimmen, unsere Luftwaffe im Kosovo einzusetzen, um einen Völkermord zu beenden.

Nastić: Nennen Sie mir einen Beleg für diesen Völkermord.

Ziemiak: Gleich fragen Sie mich noch, ob die Erde wirklich eine Kugel ist. Sie setzen nicht nur die Beendigung des Mordens im Kosovo mit dem russischen Angriff auf die Ukraine gleich, sondern kommen nun auch noch mit krassen Verschwörungstheorien! Und genau auf diesen Theorien wollen Frau Wagenknecht und Sie eine neue Partei gründen. Ich halte das für eine brandgefährliche Entwicklung in unserem Parteiensystem, vielleicht noch spalterischer als die AfD. Sie bedienen nicht nur einen Radikalismus, sondern vereinen alle Feinde unserer Demokratie und der westlichen Werte.

Nastić: Dabei ist es doch Ihre Politik, die die AfD erst ermöglicht hat!

Kommen wir jetzt wieder auf den Krieg in der Ukraine zurück. Frau Nastić, müssen sich die russischen Truppen vom ukrainischen Territorium zurückziehen?

Nastić: Da bin ich natürlich grundsätzlich sofort dafür. Trotzdem darf man das nicht als Maximalforderung aufstellen, bevor überhaupt verhandelt wird. So funktioniert Diplomatie nicht.

Ziemiak: Noch mal, wie können Sie dann fordern, dass jetzt die Waffenlieferungen eingestellt werden und man dann verhandelt?

Was würde Russland davon abhalten, die Ukraine in diesem Fall zu unterwerfen?

Nastić: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Russland überhaupt fähig wäre, die gesamte Ukraine einzunehmen. Die ukrainische Armee ist zwar kaum in der Lage, den Krieg zu gewinnen. Aber sie ist dennoch gut ausgebildet und verfügt über ein großes Arsenal an Waffen.

Wenn der Westen die Waffenlieferungen einstellen würde, hätte sie bald keine mehr.

Nastić: Deshalb müssen jetzt alle diplomatischen Kanäle genutzt werden, auch von Deutschland.

Große Teile des globalen Südens bewerten diesen Krieg anders. Sie lehnen Sanktionen gegen Russland ab.

Zaklin Nastić, Die Linke

Eine Eigenschaft von Diplomatie ist doch, dass sie oft im Verborgenen stattfindet. Und eben nicht auf großen Konferenzen. Sie werfen der Bundesregierung vor, dass sie diplomatisch zu wenig täte. Woher nehmen Sie diese Gewissheit?

Nastić: Dafür muss man sich doch nur die Aussagen von Außenministerin Annalena Baerbock anhören. Sie gießt immer mehr Öl ins Feuer. Vor dem Europarat hat sie gesagt, wir führten einen Krieg gegen Russland. Sie will nicht vermitteln. Warum können sich andere Regierungen diplomatischer verhalten? Die brasilianische zum Beispiel. Große Teile des globalen Südens bewerten diesen Krieg anders. Sie lehnen auch die Sanktionen gegen Russland ab.

Ziemiak: Die bisherigen Verhandlungsversuche sind an der russischen Seite gescheitert. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, die Ukraine zu unterstützen. Sie steht militärisch unter Druck. Da geht es um Waffen, aber vor allem um Munition. Aus den besetzten Gebieten werden Kinder verschleppt, sie werden in Russland russifiziert. Das ist kein Geheimnis, es wird im Staatsfernsehen gezeigt. Das sind schwerste Menschenrechtsverletzungen. Russland muss verstehen, dass es diesen Krieg nicht gewinnen kann.

Können Sie sich darauf einigen, dass der Westen die osteuropäische Perspektive auf Russland zu lange ignoriert hat?

Ziemiak: Das sehe ich definitiv so.

Nastić: Na ja, da gibt es unterschiedliche Ansichten. Auch Russland gehört in Teilen zu Osteuropa. Und es gibt auch nicht „die“ osteuropäische Perspektive.

Ziemiak: Ich bleibe dabei. Unter anderem die Geheimdienste in Polen haben lange davor gewarnt, die Bedrohung durch Russland zu unterschätzen. Nun sind wir eines Besseren belehrt worden. Wir hätten auf Warschau hören müssen.

Wie beeinflusst Ihre polnische Herkunft Ihren Blick auf diesen Krieg?

Ziemiak: Das Gespür für die Sorgen der Polen ist bei mir ausgeprägt. Die polnische Geschichte ist davon gezeichnet, dass es zwei Machtpole gab. Den Osten und den Westen. Das war auch die Sowjetunion und das Deutsche Reich. Und am Ende wurden Konflikte immer in der Mitte gelöst, auf Kosten der kleinen Länder. Ein Beispiel ist der Hitler-Stalin-Pakt. Anders als heute, wo die Ukraine zwischen Demokratien und einer Diktatur steht, waren das zwei große Menschheitsverbrecher. Das darf nie wieder passieren: Dass ein Diktator über die Zukunft eines anderen Landes entscheidet. Ich kenne wirklich niemanden in Polen, der die Dinge so sieht wie meine Kollegin von der Linken. Diese prorussische Sichtweise gibt es dort, wenn überhaupt, nur unter rechtsextremen Kräften.

Frau Nastić, wie ist das bei Ihnen?

Nastić: Ich verwahre mich gegen solche Unterstellungen. Ich kenne Familien, deren Angehörige von den Mördern um den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera umgebracht wurden. Wir sprechen hier von Zehntausenden Polen. Das vergessen diese Menschen nicht. Deswegen sind sie noch lange keine Rechtsextremisten.

Historiker werfen Bandera eine Kollaboration mit den Nationalsozialisten und eine Mitverantwortung für die Ermordung von Polen und Juden im Zweiten Weltkrieg vor. Er ist auch in der Ukraine umstritten. Mittlerweile musste auch Vizeaußenminister Melnyk einräumen, dass die Person Bandera „neu beleuchtet“ werden müsste.

Nastić: Herr Ziemiak sagt zu Recht, dass die polnische Bevölkerung von der Geschichte geprägt wurde. Trotzdem halte ich es für wichtig, dass Polen gerade aufgrund seiner geografischen Nähe zu Russland seine Beziehungen zu Moskau pflegt. Die rechtsnationale Regierung in Polen nutzt den Krieg aber für ihre Propaganda, um im eigenen Land besser dazustehen.

Ziemiak: Gegen diese haltlosen Vorwürfe muss ich die polnische Regierung in Schutz nehmen. Schon wieder nutzen Sie eine wilde Theorie, wonach es Polen nicht um die Sache der Ukrainer, sondern um eigene Interessen geht. Das ist absurd und führt zur Destabilisierung Europas. In einem Punkt möchte ich Frau Nastić aber zustimmen.

Ja?

Ziemiak: Bandera war ein Verbrecher. Mein Großvater ist in der heutigen Westukraine als Pole geboren worden. Unsere Familie wurde von dort vertrieben. Da ist den Polen schweres Unrecht widerfahren. Das wirkt bis heute nach. Umso beachtlicher ist, dass die heutige polnische Regierung gemeinsam mit der Opposition das revanchistische Denken abgestreift hat, nachdem die Ukraine überfallen wurde. Es ist eine große Leistung, Gräben der Vergangenheit zu überwinden. Leider erleben wir neue Kräfte, vielleicht bald auch die Partei von Frau Nastić und Frau Wagenknecht, die mit ihrem Verständnis für den Kreml solchen Entwicklungen entgegenwirken.

Nastić: Jetzt sprechen Sie schon wieder von einer neuen Partei. Ich bin erstaunt, was für ein umfassendes Wissen Sie über die Zukunftspläne von Sahra Wagenknecht und mir haben.