totalitär – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS
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totalitär

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GrammatikAdjektiv · Komparativ: totalitärer · Superlativ: am totalitärsten, Steigerung selten
Aussprache  [totaliˈtɛːɐ̯]
Worttrennung to-ta-li-tär
Wortbildung  mit ›totalitär‹ als Letztglied: antitotalitär
Herkunft vgl. gleichbedeutend totalitarioital, totalitairefrz

Bedeutungsgeschichte

Der im 20. Jahrhundert geprägte Ausdruck bezieht sich von Anfang an vor allem auf die diktatorischen Herrschaftssysteme von Faschismus, Nationalsozialismus und den verschiedenen Spielarten des Kommunismus. Daneben erfährt er seit einiger Zeit in der Auseinandersetzung mit neueren oder weiteren Ideen und Bewegungen, die im Auge der Verwender des Ausdrucks mit absolutem Wahrheitsanspruch und mit dem Ziel umfassender und bis in die Privatsphäre hineinreichender gesellschaftlicher Veränderungen auftreten, eine erweiterte Verwendung als politischer Kampfbegriff.
ZDL-Vollartikel

Bedeutung

Politik, abwertend die gesamte Gesellschaft, alle Lebensbereiche unter den Vorzeichen einer Ideologie umfassend, in alle sozialen Verhältnisse ideologisch hineinwirkend, aktives Bekenntnis zu einer Ideologie fordernd und dabei keinen Widerspruch duldend; darauf bezogene oder dadurch geprägte Erscheinungen wie Akteure, Handlungen, Äußerungen o. Ä. charakterisierend
Kollokationen:
als Adjektivattribut: ein totalitäres Regime, System; ein totalitärer Staat; eine totalitäre Diktatur, Ideologie, Herrschaft, Bewegung, Macht, Gesellschaft, Struktur, Partei
als Adverbialbestimmung: ein totalitär regiertes, geführtes Land
Beispiele:
Die totalitäre Herrschaft […] will einen neuen Menschen schaffen, ihn zum Gutsein zwingen, sie vereinnahmt nicht nur sein Tun, sondern auch sein Denken. Sie will die Seele der Menschen. Sie ist das pure Gegenteil einer liberalen Konzeption, die akzeptiert, dass man den Menschen nicht ändern, nicht umprogrammieren kann. Die Stufen der totalitären Machtausübung folgen einem standardisierten Muster: Zuerst die Utopie, die Vision einer gerechten Gesellschaft, bevölkert von selbstlosen, nur dem Wohl der Gesellschaft dienenden Menschen. Dann die dieses Ziel anvisierende Propaganda. Sobald man an die Macht kommt, setzt die Umerziehung ein und der Zwang, der immer härter wird. [Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2014]
Was wir in der Corona‑Pandemie erlebt haben, ist also eine »klitzekleine« totalitäre Erfahrung – wenn auch nur als Testlauf, ein kollektiver Kurztrip. […] Besonders die politisch‑medialen Eliten wirken fleißig an jenem Phänomen mit, das der russische Anthropologe Alexei Yurchak »Hypernormalisierung« nannte: Er meinte das Lebensgefühl der späten Sowjetunion, wo man eine absurde und autoritäre Realität konsequent als alternativlos behandelte, bis es ihre Infragestellung war, die als unnormal erschien. [Die Welt, 09.06.2020]
Der israelische Bestsellerautor Yuval Noah Harari warnte unlängst vor dem totalitärsten aller totalitären Staaten, sobald digitale Diktaturen ihre Möglichkeiten ausschöpften. [Süddeutsche Zeitung, 14.06.2019]
Was [der Amerikanischen Revolution] fehlte, war der totalitäre Blutrausch, der genozidale Gewaltexzess, der die französische Revolution beim Versuch begleitete, den Neuen Menschen zu schaffen[…]. [Die Welt, 22.10.2016]
In Russland erbost man sich heute darüber, dass europäische Historiker Nationalsozialismus und Stalinismus als totalitäre Systeme gleichsetzen. Was hatten beide Systeme gemeinsam? Ein Einparteiensystem, politischen Terror, Zensur, beschnittene Rechte und Freiheiten. Wenn man ihre unterschiedlichen Ideologien beiseite lässt, dann weisen beide die Herrschaftsmechanismen eines totalitären Regimes auf. [Der Bund, 01.09.2009]
Die Spannung zwischen offenen und pluralistischen Konzeptionen auf der einen und totalitären Vorstellungen auf der anderen Seite, die scharfe Entgegensetzung von empirischem Gemeinwesen und idealem Staat sieht er [Bracher] als Kernproblem der Staatstheorie. Zur geschichtsbestimmenden Macht wurde das totalitäre Denken aber erst im 20. Jahrhundert, in Faschismus, Nationalsozialismus, Leninismus und Stalinismus, Breschnewismus, Castroismus und Maoismus. [Süddeutsche Zeitung, 03.12.1992]
In der totalitären Welt und in der totalitären Politik spielen weder Profitmotive noch Machthunger eine entscheidende Rolle, und wenn die totale Herrschaft danach trachtet, ihr Territorium zu erweitern und immer neue Gebiete sich einzuverleiben, bis schließlich die Herrschaft über die Erde erreicht ist, so nicht um der Expansion und nicht der Macht selbst willen, sondern einzig aus ideologischen Gründen – um im Weltmaßstab zu beweisen, daß die jeweilige Ideologie recht behalten hat, und um auf der gesamten Erde die fiktive totalitäre Welt zu errichten, deren Stimmigkeit durch keine Tatsächlichkeit mehr gestört werden kann. [Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a. M.: Europäische Verl.-Anst. 1957 [1955], S. 669]
allgemeiner, abwertend (ideologisch) einseitig verabsolutierend und daraus folgend auf unduldsame, disziplinierende, terrorisierende Weise in alle Bereiche (oder einen besonderen Bereich) hineinwirkend, alle Bereiche (oder einen besonderen Bereich) umfassend und bestimmend; in Taten, Worten o. Ä. an die Akteure politischer totalitärer Herrschaft erinnernd
Beispiele:
Nichts ist starrer und totalitärer als der Anspruch auf Perfektion. [Basler Zeitung, 21.03.2012]
[…] bei allem Streit darf man nie den totalitären Anspruch erheben, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Und man darf nie anderen Menschen absprechen, dass sie auch eine Überzeugung haben. Es geht darum, auf der Basis von Wissen und eigener Überzeugung plausible Annahmen zu treffen, sich den Restzweifel jedoch zu bewahren. [Süddeutsche Zeitung, 19.07.2021]
Adorno war über das totalitäre Verhalten des SDS (= Sozialistischer Deutscher Studentenbund) entsetzt. [Dieses Video muss uns schockieren!, 20.11.2014, aufgerufen am 01.09.2020]
Die Zukunft des Kinos wird 3D sein, hieß es danach, in einer nicht allzu fernen Zukunft werden nur noch Filme in 3D produziert werden. Ein totalitärer Anspruch, wie er einem Anfang der fünfziger Jahre, als zum ersten Mal das Kino sich an 3D versuchte, gewiss nicht in den Sinn gekommen wäre. [Süddeutsche Zeitung, 12.11.2011]
Beim außerordentlichen Fifa‑Kongress demonstrierte Präsident Joseph Blatter »totalitäre Willkür«, indem er die Rednerliste nach seinem Gusto manipulierte, um seine »Kritiker am freien Wort zu hindern« […]. [Der Spiegel, 29.05.2002 (online)]

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Etymologisches Wörterbuch (Wolfgang Pfeifer)

Etymologie

Etymologisches Wörterbuch (Wolfgang Pfeifer)
total · totaliter · Totalisator · totalitär · Totalität
total Adj. ‘völlig, ganz, in vollem Umfang’, entlehnt (2. Hälfte 16. Jh.), vielleicht über gleichbed. mfrz. frz. total, aus mlat. totalis ‘gänzlich’; zu lat. tōtus ‘ganz, in vollem Umfang, völlig’. Vgl. totaler Krieg ‘Vernichtungskrieg unter Einsatz aller materiellen und psychischen Kräfte der Bevölkerung des kriegführenden Landes’ (Anfang 19. Jh.). – totaliter Adv. ‘ganz und gar, in vollem Umfang, vollständig’, speziell in der Kaufmannssprache (Anfang 17. Jh.), spätlat. tōtāliter Adv. ‘gänzlich’. Totalisator m. anfangs auch französierend Totalisateur, ‘Einrichtung zum Abschluß von Wetten bei Rennen’, Übernahme (2. Hälfte 19. Jh.) von gleichbed. engl. totalisator, eigentlich ‘Zählapparat, Registriereinrichtung’ (u. a. auch für Wettscheine beim Pferderennen); zu engl. to totalize ‘zu einem Ganzen zusammenfassen, zusammenzählen’; vgl. auch frz. totaliser ‘alles zusammenzählen’. In der Meteorologie bedeutet Totalisator ‘an schwer zugänglichen Orten aufgestelltes Sammelgefäß für Niederschläge, dessen Wasserstand nur in größeren Abständen abgelesen wird’ (1. Hälfte 20. Jh.). totalitär Adj. in der Politik ‘mit diktatorischen Methoden jegliche Demokratie unterdrückend’, meist in den Fügungen totalitäres Regime, System, totalitärer Staat auf die faschistische Diktatur bezogen (30er Jahre 20. Jh.), in Anlehnung an frz. totalitaire bzw. ital. totalitario (um 1930). Totalität f. in der Philosophie ‘universeller Zusammenhang, Gesamtheit aller Dinge und Erscheinungen in Natur und Gesellschaft’, allgemein ‘Ganzheit, Gesamtheit’, anfangs bei Kant (2. Hälfte 18. Jh.), später (mit Beginn des 20. Jhs.) zunehmend im Sinne von ‘totale Machtausübung, totaler Machtanspruch’; nach mfrz. frz. totalité ‘Gesamtheit, Zusammenfassung aller Teile’, mlat. totalitas (Genitiv totalitatis) in der scholastischen Philosophie ‘reiche Fülle, Vollkommenheit’. In der Astronomie ‘Zustand der vollständigen Verfinsterung des Mondes oder der Sonne’ (Ende 19. Jh.).

Bedeutungsverwandte Ausdrücke

diktatorisch · totalitär
Assoziationen

Typische Verbindungen zu ›totalitär‹ (berechnet)

Detailliertere Informationen bietet das DWDS-Wortprofil zu ›totalitär‹.

Zitationshilfe
„totalitär“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/totalit%C3%A4r>.

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