„Springer wird gemanagt wie eine Pommesbude“: Warum KKR Julian Reichelt absägte

„Springer wird gemanagt wie eine Pommesbude“: Warum KKR Julian Reichelt absägte

Die Medien konzentrieren sich auf moralisches Fehlverhalten von Julian Reichelt. Dabei geht es um anderes: mangelhafte Compliance-Kultur deutscher Verlage.

Ist er das eigentliche Ziel in der Causa Reichelt? Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner steht unter Druck. 
Ist er das eigentliche Ziel in der Causa Reichelt? Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner steht unter Druck. Imago

Berlin-Der Fall von Julian Reichelt beschäftigt in dieser Woche die deutsche Medienlandschaft. Von einem „System Reichelt“ ist in vielen Medien dabei die Rede. Mutmaßliche sexuelle Affären am Arbeitsplatz mit Untergebenen und Machtmissbrauch haben Reichelt den Job gekostet. Den Stein ins Rollen brachte ein Artikel der New York Times, in dem der Medienjournalist Ben Smith den Sachverhalt erstmals einem internationalen Publikum bekannt machte. Bemerkenswert: Der Artikel der New York Times enthielt zwar einige neue Informationen, aber die wesentlichen Fakten waren – zumindest in der deutschen Presse – zuvor bereits hinlänglich bekannt. 

Und die Sache schien für den deutschen Medienkonzern auch schon im Frühjahr erledigt. Denn Reichelt hatte sich damals einer internen Untersuchung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe unterzogen und war bereits im März 2021 für die Dauer von 12 Tagen vom Dienst suspendiert worden. Danach konnte er seine Arbeit als Chefredakteur wiederaufnehmen. Die internen Ermittlungen wurden damals im Auftrag des Axel-Springer-Konzerns von der internationalen Rechtsanwaltskanzlei Freshfields geleitet. In seinem Artikel in der New York Times zitiert Smith dabei aus dem Ermittlungsbericht.

Mindestens für Freshfields ist der Vorgang unangenehm, denn es entstand der Eindruck, dass interne Ermittlungsergebnisse nicht unter Verschluss gehalten werden konnten. Nach Informationen des Branchendienstes Juve wurden die Ermittlungen zu Beginn des Jahres von der auf Compliance-Fälle spezialisierten Rechtsanwältin Simone Kämpfer geleitet. Auf Nachfrage der Berliner Zeitung am Wochenende wollte Freshfields den Sachverhalt nicht kommentieren.

Wer bei Springer wirklich das Sagen hat

Am Montag gab die Axel Springer SE dann bekannt, dass Reichelt mit sofortiger Wirkung beurlaubt wurde. Als Grund dafür werden neue Erkenntnisse genannt, die im Zuge von Presserecherchen bekannt geworden sein sollen. Der Chefredakteur der Bild-Zeitung soll laut Pressemitteilung des Konzerns „Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt“ haben. Demnach soll Reichelt auch nach Abschluss eines Compliance-Verfahrens weiterhin ein problematisches Verhalten gezeigt haben.

Der gesamte Vorgang wirft Fragen auf: Warum wurde die Entscheidung in der Causa Reichelt jetzt aufgrund einer eher dünnen investigativen Recherche revidiert? Wie kommt es, dass ein eigentlich ausrecherchierter Sachverhalt nun doch dazu führt, dass der Chefredakteur seinen Job verliert? Und welche Rolle spielt die Investmentfirma KKR, die größter Anteilseigner bei Axel Springer ist, bei der Absetzung von Reichelt?

Wer verstehen will, warum es in der „Causa Reichelt“ so eine spektakuläre Wende gab, sollte sich weniger auf die Person Reichelt und sein individuelles Fehlverhalten konzentrieren, sondern eher auf die Unterschiede in der Compliance-Kultur in den USA und Deutschland und darauf, wer im Springer-Konzern derzeit wirklich das Sagen hat.

Deutschland ist in Compliance-Fällen ein Entwicklungsland

Über die Causa Reichelt schreibt die erfahrene Journalistin Bettina Gaus in ihrer Kolumne für den Spiegel vom Donnerstag: „Wenn jetzt jedoch einvernehmliche sexuelle Beziehungen pauschal als ‚Machtmissbrauch‘ eingestuft werden, dann entmündigt das diejenigen, die in der beruflichen Rangordnung unten stehen.“ Gaus warnt damit implizit vor amerikanischen Verhältnissen, in denen jedwede private Beziehung am Arbeitsplatz als problematisch gebrandmarkt wird. Auch New-York-Times-Reporter Smith soll gegenüber der Zeit geäußert haben, dass Reichelt in den USA schon dann seinen Job verloren hätte, wenn nur 5 Prozent der Vorwürfe gegen ihn ans Licht gekommen wären.

Tatsächlich sind private Beziehungen am Arbeitsplatz auch in den USA nicht verboten, aber sie werden nicht erst seit #MeToo deutlich stärker reguliert. In New York sind Arbeitgeber mit 15 oder mehr Beschäftigten dazu verpflichtet, jährliche Schulungen zur Prävention von sexueller Belästigung für alle Beschäftigten durchzuführen. Im Rahmen von Video-Seminaren müssen die Mitarbeiter dabei etwa entscheiden, welche Fälle von missbilligtem Verhalten sie der Personalabteilung melden würden. Die Teilnahme an solchen Schulungen ist – zumindest im Bundesstaat New York, in dem auch KKR seinen Sitz hat – gesetzlich verpflichtend.

Diese Praxis ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die Verhältnisse in Unternehmen in den USA beim Thema Compliance, also den Mechanismen in Unternehmen, die Gesetzesverstöße und unethisches Verhalten der Mitarbeiter verhindern sollen, unterscheiden. Wer sich mit dem Wirtschaftssystem in Deutschland heute auseinandersetzt, der kann in Hintergrundgesprächen viel darüber lernen, welche Kultur heute immer noch in deutschen Chefetagen herrscht. Hinter vorgehaltener Hand gilt Deutschland etwa bei Juristen, die sich auf Compliance-Fälle spezialisiert haben, regelrecht als Entwicklungsland. In vielen Firmen herrsche eine Führungskultur wie in den 70er-Jahren: „Mad Men“ in Gütersloh und Berlin.

Für KKR ist Springer das wichtigste Investment

Und das liegt nicht nur an der Mentalität deutscher Manager und Firmenpatriarchen, denn im Gegensatz zu den USA und den meisten EU-Mitgliedsstaaten gibt es in Deutschland kein Gesetz, das Unternehmen und Organisationen dazu verpflichtet, ab einer bestimmten Größe praktische Compliance-Maßnahmen einzuführen. Wie ein Unternehmen Compliance-Maßnahmen umsetzt, liegt in Deutschland alleine im Ermessen der Unternehmensleitung. Das hat zur Folge, dass deutsche Vorstände meist nicht selbst auf die Idee kommen, ein Compliance-System zu etablieren, sondern erst durch äußere Anlässe, wie Presseskandale und die Übernahme durch ausländische Investoren, dazu gedrängt werden, sich hohen Compliance-Standards zu unterwerfen. Und genau die Kombination zweier äußerer Anlässe führte jetzt offenbar dazu, dass der Springer-Vorstand seinen prominentesten Arbeitnehmer entlassen musste.

Seit 2019 die New Yorker Investmentfirma KKR (die Abkürzung steht für die Gründungspartner Kohlberg, Kravis und Roberts) bei der Axel Springer SE eingestiegen ist, hat sich das Medienhaus stark gewandelt. In Deutschland ist KKR derzeit auf einem Wachstumskurs und in zahlreichen Branchen investiert, der Rüstungshersteller Hensoldt ist genauso Teil des Portfolios wie die Film- und Fernsehproduktionsfirma Leonide, zu der auch die Produktionsfirma von Günther Jauch gehört. Das wichtigste Investment bleibt aber Axel Springer. 

Zukäufe gab es viele

KKR hält derzeit über 35,9 Prozent der Anteile an der Axel Springer SE, zusätzlich hat sich KKR ein Vorkaufsrecht auf die Aktien von Ariane Melanie Springer und Axel Sven Springer gesichert. Die Enkel des Verlagsgründers Axel Springer halten zusammen etwa 6 Prozent der Anteile. Wie eng KKR mit dem Management von Axel Springer vor der Übernahme der Anteile zusammengearbeitet hat, illustriert das Beispiel von Andreas Wiele. Er war vor der Übernahme fast 20 Jahre lang als Vorstandsmitglied für Axel Springer tätig und betreute zuletzt vor allem das stark wachsende und profitable Digitalgeschäft (u. a. Stepstone, Immowelt, Immonet), das mittlerweile 60 Prozent des Konzernergebnisses einspielt.

Nahezu zeitgleich zur Bekanntgabe der Übernahme durch KKR wechselte Wiele als Manager zu KKR. Die KKR-Managerin Franziska Kayser, die für KKR auch im Springer-Aufsichtsrat sitzt, hat bereits auf den Münchener Medientagen 2019 deutlich gemacht, dass es – in Übereinstimmung mit der Verlegerin Friede Springer und Axel-Springer CEO-Mathias Döpfner – von Anfang an das Ziel war, das Unternehmen von der Börse zu nehmen. „Dann wird es viel einfacher sein, zu investieren, sei es über Zukäufe […] oder organisch“, so Kayser.

Und Zukäufe gab es viele. Derzeit investiert Axel Springer vor allem in den USA. Nach der Übernahme der News-Plattform Business Insider, die bereits 2015 für 343 Millionen Dollar abgeschlossen wurde, wurde unlängst auch der Newsletter-Service Morning Brew gekauft. Die jüngste Übernahme des auf Politiknachrichten spezialisierten Portals Politico für 630 Millionen Euro passt da ins Bild.

US-Amerikaner stufen deutsche Unternehmen als „rückständig“ ein

Das Geschäftsmodell von Firmen wie KKR funktioniert im Normalfall so: Die Firma kauft sich in bereits bestehende Unternehmen – marode Mittelständler, aber auch angeschlagene Medienkonzerne – ein und versucht, den Marktwert der gekauften Unternehmen über eine Zeit von fünf bis zehn Jahren maximal zu steigern und dann seine Anteile mit Gewinn zu veräußern. Und ausgerechnet diesen Expansionskurs sieht KKR bei Springer als gefährdet, denn Hedgefonds- und Private-Equity-Firmen reagieren mittlerweile äußerst sensibel auf geschäftsschädigende Skandale wie den Fall Reichelt.

Spricht man  dieser Tage mit Brancheninsidern, bekommt man ein klares Bild davon, warum Julian Reichelt für Springer aufgrund eines Artikels in den USA jetzt plötzlich gehen musste. Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit einem erfahrenen Manager* einer US-Investmentfirma gesprochen, der mit den Verhältnissen in Deutschland und den USA bestens vertraut ist: In der Sache Reichelt habe allein der Umstand, dass jetzt erstmals ein bedeutendes US-Medium über den Sachverhalt berichtet habe, dazu geführt, dass KKR den Vorstand von Axel Springer so unter Druck gesetzt habe, dass man Reichelt sofort und „besser gestern als heute“ abgesetzt habe.

Zuvor sei über den Skandal eben nur im „unbedeutenden“ deutschen Markt berichtet worden. Das KKR-Management habe natürlich umfassend Kenntnis von der Sache gehabt, aber eben wohl nicht die Investoren. Durch die Berichterstattung in der New York Times habe sich das geändert. Der Grund, so der Experte, sei dabei nicht nur der Fall selbst, sondern die Tatsache, dass internationale Manager das Gebaren deutscher Konzerne zunehmend als „rückständig“ einstufen.

„Guilty until proven innocent“

Der Diesel-Skandal, Wirecard, der Bordell-Skandal der Ergo-Versicherung oder die mangelhafte Aufklärung durch Freshfields beim DFB offenbarten „Klüngelei und Amigo-Wirtschaft in der Deutschland AG“. „Springer wird gemanagt wie eine Pommesbude“, sagt der Experte.

Verhalten, das vor zehn noch zum guten Ton unter Managern galt, werde heute vor allem von amerikanischen Investoren immer weniger geduldet: „Investoren sagen, wir vertrauen euch Hunderte von Millionen Dollar an, und ihr habt euren Laden nicht im Griff.“ Die Folge: Firmen ohne Compliance-Kultur kommen immer schwieriger an Investorengelder. 

Die Branche sei vor allem in den USA und bei institutionellen Anlegern, wie etwa staatlichen Pensionsfonds, wegen #MeToo und anderer Skandale so sensibel geworden, dass sich bei Fällen von Machtmissbrauch am Arbeitsplatz inzwischen die Beweislast umgekehrt habe, sagt der Experte: „Guilty until proven innocent.“

Und genau so eine Konstellation gibt es auch bei Axel Springer. Denn nicht nur KKR ist bei Axel Springer investiert. 12,9 Prozent der Anteile gehören inzwischen dem staatlichen kanadischen Rentenfonds CBBIP, der die Rentenbeiträge der Kanadier weltweit anlegt. Und gerade für solche Investoren ist nichts wichtiger als Ruhe und stabile Renditen. Auch CBBIP wollte den Vorgang auf Nachfrage nicht kommentieren. Aber ein Blick auf die Website des Anlegers gibt Aufschluss: CBBIP verpflichtet sich selbst dazu, auf Nachhaltigkeitskriterien beim Investieren zu achten. Die Folge: Die Vorstände der Portfolio-Unternehmen werden entsprechend dem Grundsatz stark unter Druck gesetzt. 

Ein Bauernopfer in einem größeren Spiel?

Wie stark der Druck auch auf den Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner nach dem Einstieg von KKR angewachsen ist, zeigt die Causa Reichelt wie unter einem Brennglas. Sah es lange so aus, dass der Vorstandsvorsitzende Döpfner – der von der Verlegerin im September 2020 Anteile im Wert von mehr als einer Milliarde Euro als Schenkung übernahm und der heute 21,9 Prozent am Konzern hält – zum mächtigsten Player und zum König des Konzerns aufgestiegen war, zeigen vor allem die Entwicklungen der vergangenen Tage, dass er heute nicht mehr frei im Konzern agieren kann.  

Auch wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Friede Springer, Mathias Döpfner und ihrem Chefredakteur Julian Reichelt lange Zeit als unzerstörbar galt und wohl offenbar auch noch besteht, ist die Macht der drei im Konzern mittlerweile nicht mehr so groß, dass sie sich dem Einfluss von KKR entziehen können. Auch wenn die vor ein paar Tagen geleakten SMS von Döpfner, in denen er Reichelt als einzigen Journalisten in Deutschland bezeichnet, der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehre, reicht seine Macht offenbar nicht mehr, um Reichelt vor dem langen Arm von KKR zu schützen.

Und auch wenn sich am Kern der Anschuldigungen gegen Julian Reichelt in dieser Woche wenig änderte, wirkt die Entlassung von Deutschlands einst mächtigstem Journalisten mehr und mehr wie ein Bauernopfer in einem größeren Spiel. In seinem Bericht für die New York Times beschreibt Smith Döpfners Geschäftsgebaren als „hinterhältig“, dabei ist die Politico-Übernahme für sich genommen geschäftlich nicht zu beanstanden. Der Medienmarkt in den USA ist hart umkämpft. Oder warum erscheint Smiths Artikel in den USA ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als bekannt wird, dass Axel Springer mit der Übernahme des Politmediums Politico groß in den US-Medienmarkt einsteigen will?

*Name der Redaktion bekannt


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.