Hamburg. Die Hyper-Teuerung des Jahres 1923 hat das Land traumatisiert – und tut es bis heute. Was Experten über die Preisentwicklungen sagen.

Ein Ei, zwei Pfund Kartoffeln und ein Liter Milch? Das macht bitte 770 Milliarden Mark.“ Was klingt wie ein schlechter Scherz, war bittere Wirklichkeit im Deutschen Reich des Jahres 1923. War noch 1922 die größte Banknote der 1000-Mark-Schein, gab die Reichsbank im November 1923 schon Geldscheine von 100 Billionen Mark heraus.

Tag und Nacht mussten neue Geldnoten gedruckt werden, allein 30.000 Menschen waren mit deren Herstellung beschäftigt – trotzdem kamen die Druckmaschinen der galoppierenden Preissteigerung nicht mehr hinterher. Das Geld verlor so rasend schnell an Wert, dass die Beschäftigten ihre Lohntüte rafften und losliefen, um die Scheine schnellstmöglich auszugeben.

Inflation: Jeder Deutsche wurde Millionär

Jeder Deutsche wurde Millionär – und zugleich bitterarm. Die wirtschaftlichen Verwerfungen nahmen dramatische Ausmaße an: Trotz der Währungsreform Ende 1923 waren alle Ersparnisse futsch, Geldvermögen von Generationen vernichtet. Wer, wie so viele Deutsche, den Ersten Weltkrieg über vermeintlich mündelsichere Kriegsanleihen mitzufinanzieren half, saß auf wertlosen Papieren. Schuldner hingegen konnten frohlocken – sie waren auf einen Schlag aller Sorgen ledig.

Manche Unternehmen und Spekulanten wie Hugo Stinnes nahmen bewusst Kredite auf und machten ein prächtiges Geschäft. Der Staat profitierte ebenfalls: Seine gesamten Kriegsschulden in Höhe von 164 Milliarden Mark beliefen sich, als am 15. November 1923 die neue Währung Rentenmark eingeführt wurde, nur noch auf 16 Pfennig. Kurz vor der Währungsreform am 15. November putschte ein junger fanatischer Wirrkopf in München: ein Österreicher namens Adolf Hitler.

Inflation von den Deutschen nicht vergessen

Auch wenn die Hyperinflation bald 100 Jahre zurückliegt, ist sie im kollektiven Gedächtnis der Deutschen allgegenwärtig: politisch wie historisch, auch wenn Hitler erst zehn Jahre später die Herrschaft übernahm; persönlich, weil in vielen Familien noch Geschichten von Verarmung und Verlust erzählt werden, aber auch ihrer überwältigenden Bildmacht wegen.

Schon Kinder faszinieren Briefmarken dieser Zeit im Nennwert von Milliarden Mark, mitunter sogar per Stempel noch hochgestuft. Fotos von Wäschekörben voller Geld oder Geldscheine als Kinderspielzeug verzerren die Wirklichkeit bis ins Comichafte. Straßenbahnfahrten, die sich während der Fahrt verteuern und eine Nachlösung erforderlich machen, warfen jede Normalität über den Haufen.

"Inflation bedeutet das Ende aller Planung"

Dieses deutsche Trauma prägt uns – und genauso die Politik. Bis heute. Der Autor und Vermögensverwalter Georg von Wallwitz schreibt über „Die große Inflation“ (Berenberg Verlag, 25 Euro) so kenntnisreich wie lesenswert: Die Hyperinflation hat sich ins „finanzielle Gedächtnis“ der Deutschen eingebrannt. „Die Zersetzung des Geldes wirkt wie ein Krebsgeschwür in der Gesellschaft. Inflation bedeutet das Ende aller Planung und Hoffnung, sie reduziert den Zeithorizont auf den täglichen Überlebenskampf.“

Die Monate der Hyperinflation waren eine grauenvolle Zeit. „Es ist dramatisch, wenn Geld verschwindet. Geld hat eine soziale Ordnungsfunktion in der Gesellschaft“, sagt er dem Abendblatt. Plötzlich hatten Pfarrer, Lehrer, Beamte und Polizisten kein Auskommen mehr; ein Vermögen machten stattdessen Schieber und windige Gestalten. „Rechtschaffene Bürger, die den Staat trugen, kamen unter die Räder. Als Ergebnis fiel die Gesellschaft auseinander. Jede Planung war dahin.“

Deflation führte zu Hitlers Aufstieg

Allerdings sagt Wallwitz auch, dass die Deutschen eine verzerrte Geschichtswahrnehmung haben, weil sie in der Hyperinflation den Anfang vom Ende sehen. Dabei war es nicht die Inflation, es war die Deflation nach 1929 mit der Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, die dem Aufstieg Hitlers den Weg bereitete.

„Viele Deutsche verbinden das mit Inflation“, sagt Wallwitz. „Das haben wir falsch abgespeichert. In Deutschland ist der Referenzpunkt des finanziellen Gedächtnisses die Geldentwertung.“ Das prägt – die stabilitätsorientierte Bundesbank, der Stolz auf die starke Mark, die Liebe zur Schwarzen Null, die Angst vor jeder Preissteigerung sind auch so zu verstehen. Inflation ist ein deutscher Albtraum.

"Deutschland ist besonders inflationssensibel“

Das sieht der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar ähnlich. „Die Erinnerungen an die Hyperinflation spielen bis heute eine Rolle. Deutschland ist besonders inflationssensibel“, sagt der renommiere Experte. Seit den 50er-Jahren war die DM stark, sie hat jahrzehntelang über den Wechselkurs stets einen Teil der Inflation abgefedert, unter der andere Länder litten. „Wenn die eigene Währung an Wert verliert, importiert man Inflation. In anderen Ländern hatte man sich an Preissteigerungen als ständigen Begleiter gewöhnt. Die Schweiz und Deutschland hatten dank eines steigenden Außenwerts von Franken und D-Mark das Glück langer Preisstabilität.“

Damit ist es nun vorbei. Natürlich wird die Hyperinflation von 1923 sich nicht wiederholen – aber die jüngsten Zahlen sind besorgniserregend: Im Februar sind die Erzeugerpreise hierzulande um durchschnittlich 25,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen – ein Rekordwert. In diesen Zahlen sind die Marktverwerfungen durch den russischen Überfall auf die Ukraine noch nicht einmal enthalten. Energie verteuerte sich binnen Jahresfrist um 68 Prozent, Erdgas sogar um mehr als 125 Prozent, Strom um 67 Prozent, leichtes Heizöl um 57 Prozent.

Erzeugerpreise um 12,4 Prozent gestiegen

Selbst wenn man die Energiepreise herausrechnet, kletterten die die Erzeugerpreise um 12,4 Prozent. Nahrungsmittel verteuerten sich im Schnitt um 9,2 Prozent. Der Preisauftrieb ist längst nicht mehr schleichend, er ist dynamisch. Ein Liter Sprit kostet weit mehr als zwei Euro, und der Bauernverband Schleswig-Holstein warnt, Brot könnte bald zehn Euro kosten. So dürfte selbst das üppige Rentenplus von mehr als fünf Prozent bei vielen Seniorenhaushalten kaum reichen, um das Preisplus auszugleichen.

Das Ifo-Institut rechnet in Deutschland für 2022 mit einer Inflation zwischen 5,1 und 6,1 Prozent. Das wäre die höchste Rate seit 1982. Der langjährige Präsident des Bundesverbands deutscher Banken, Hans-Walter Peters, schlug in dieser Woche im Abendblatt Alarm. „Ich fürchte, dass wir die Inflation nicht unter Kontrolle bekommen.“ Er will nicht einmal Raten von sieben Prozent im kommenden Jahr ausschließen. Straubhaar ist nicht ganz so pessimistisch, sagt aber auch: „Die fünf Prozent werden wir 2022 auf jeden Fall brechen.“

EZB hat ein anderes Verständnis von Preisstabilität

In früheren Zeiten hätte das die Bundesbank sofort auf den Plan gerufen. Der Kampf um die Preisstabilität in Deutschland war ihr alles dominierende Anliegen. Die Frankfurter Notenbanker waren stolz auf ihren Ruf als Falken unter den Notenbanken – im Zweifelsfall wurden die Zinsen ohne viel Federlesens erhöht, um die Preisdynamik im Kern zu ersticken. Doch nun ist die Bundesrepublik Teil des Euro-Raums – und die Europäische Zentralbank hat ein deutlich anderes Verständnis von Preisstabilität.

In das internationale Gremium sind eben nicht nur die deutschen Traditionen eingeflossen, sondern auch die italienischen oder griechischen Erfahrungen. Geldwertstabilität gilt als Ziel nachrangig gegenüber Beschäftigungs- und Wirtschaftsentwicklung. Dementsprechend könnten die „deutschen“ Inflationsraten bald der Vergangenheit angehören.

These von der EZB als Inflationstreiber zu einfach

Thomas Straubhaar nimmt die EZB aber in Schutz: „In Deutschland ist die These von der EZB als Inflationstreiber sehr populär, sie ist aber zu einfach. Die Geldpolitik ist nicht so entscheidend, wie wir immer glauben.“ Er verweist darauf, wie stark die Steigerungsraten zwischen den Euro-Ländern auseinanderlaufen. Lag das Plus in Frankreich im Februar nur bei 4,2 Prozent, waren es in Litauen zugleich 14 Prozent.

Der Schweizer Ökonom und Migrationsforscher Thomas Straubhaar.
Der Schweizer Ökonom und Migrationsforscher Thomas Straubhaar. © picture alliance / Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB

Der Hamburger Ökonom mit Schweizer Wurzeln sagt: „Vielleicht die Hälfte der derzeitigen Inflation ist der laxen Politik der Notenbank geschuldet, die andere Hälfte treibt eher die Politik.“ Damit meint er nicht nur die Klimapolitik, die den CO2-Preis in die Höhe treibt, sondern auch die wachsende Renationalisierung der Wirtschaft. „Wenn wir wie bei Masken, Medikamenten oder Computerchips die Produktion zurück nach Europa holen, ist das teuer.“

Globalisierung dämpfte Preissteigerung

Die Globalisierung hat in den vergangenen Jahrzehnten die Preissteigerung erheblich gedämpft – dieser Trend dürfte nun drehen. Die Entscheidung hält Straubhaar dennoch für alternativlos. „Es ist richtig und wichtig, dass wir uns von Abhängigkeiten lösen.“ Zudem seien die Preise zu lange nicht ehrlich gewesen – die Umwelt- und Klimafolgen etwa fossiler Energieträger seien zu lange nicht mit ihren tatsächlichen, langfristigen Kosten abgebildet worden.

Nun aber steigen die Preise gerade des alltäglichen Lebens in einer Rasanz, die man seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. In diesem Jahrtausend lagen die Inflationsraten zwischen 0,3 Prozent (2009) und 2,6 Prozent (2008), also durchgängig niedrig. Über sieben Prozent stieg die Kennziffer in der Bundesrepublik überhaupt nur zweimal – 1951 mit 7,8 Prozent und dann 1973 noch einmal in Folge der Ölkrise. Die damalige Rate von 7,1 Prozent erschütterte das Land und die Politik in ihren Grundfesten.

Steigende Preise werden weitergegeben

Die Gewerkschaft ÖTV unter ihrem Boss Heinz Kluncker forderte 1974 Lohnsteigerungen von bis zu 14 Prozent und setzte elf Prozent durch. „Das leitete das Ende der Regierung Brandt mit ein“, erinnerte sich in dieser Woche der letzte lebende Minister dieses Kabinetts, Klaus von Dohnanyi, im Abendblatt. „Selbst die Angelsachsen sprechen von der ‚Kluncker-Round‘“, sagt Wallwitz.

Die Inflation blieb bis in die 80er-Jahre hoch. Wie damals drohen nun Zweitrundeneffekte. Viele werden die steigenden Preise weitergeben, ob Vermieter oder Unternehmer. „Wann sollen die Gewerkschaften auf hohe Abschlüsse drängen, wenn nicht jetzt?“, fragt Wallwitz. Er sieht jedoch auch die Folgen: „Wenn sie kommen, setzt sich die Inflation im System fest, und die EZB muss reagieren.“ Der Autor und Vermögensverwalter rät dazu, in den kommenden Tarifabschlüssen besser Sonderzahlungen anzustreben statt hohe Lohnabschlüsse. Viel Zuversicht hat er aber nicht, das dies gelingen wird.

Die Teuerung trifft Ärmere stärker als Reichere

Die Arbeitnehmer zählen nicht zu den größten Opfern galoppierender Preise: „Das Problem haben die Menschen, die die Steigerungen nicht abwälzen können“, sagt Straubhaar. Gerade arme Menschen sind davon besonders betroffen. „Inflation ist eine Armensteuer.“ Steigende Preise verschärften nicht nur die Ungleichheit, sondern polarisierten die Gesellschaft.

„Alle Veränderungen treffen die Schwächsten immer am härtesten. Das kann man nur kompensieren, wenn man die Schwächsten am stärksten unterstützt – nicht über Steuern, sondern über einmalige Pro-Kopf-Zahlungen. Was nützen Tankgutscheine, wenn man sich kein Auto leisten kann? Wir können nicht nur mit Steuern steuern.“ Der liberale Ökonom plädiert für die grüne Idee eines Energiegeldes und den Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen.

„Die Inflation ist der Taschendieb der kleinen Leute"

Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) brachte es einst auf den Punkt. „Die Inflation“, so sagte der Herz-Jesu-Marxist der Union, ist „der Taschendieb der kleinen Leute.“ Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gibt dem langjährigen Bundesarbeitsminister recht. Eine vierköpfige Familie mit Einkommen zwischen 3000 und 3500 Euro zahlt allein seit Kriegsbeginn am 24. Februar rund 131 Euro (vier Prozent) mehr nur für Energie. Bei Familien mit einem hohen Einkommen zwischen 7000 und 7500 Euro liegt der Anteil der Steigerung deutlich niedriger, bei nur gut zwei Prozent (150 Euro).

„Die Zeiten der ganz niedrigen Inflationsraten sind vorbei“, sagt Wallwitz. Für die Deutschen werde das schlimmer werden als für andere, weil die Erinnerung an die Hyperinflation noch immer lebendig sei. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederhole, erinnert ihn eins dann doch an die Situation vor 100 Jahren: „Es geht um eine Mentalitätsfrage: Nach dem Ersten Weltkrieg spielte Geld angesichts des nationalen Notstands keine Rolle. Seit dem Ukraine-Krieg hören wir ähnliche Töne.“ Aus seinen Forschungen weiß er: „Nach diesen Perioden kam dann meist eine höhere Inflation. Ich erwarte mittelfristig höhere Raten als heute noch prognostiziert.“

Die Inflation ist gekommen, um zu bleiben.