Wer Macht hat, gibt sie nur höchst selten freiwillig und aus Einsicht ab. In demokratischen Gesellschaften können die Wähler einen Machtwechsel erzwingen – diese Möglichkeit nannte der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper sogar das entscheidende Kriterium für eine Demokratie. Anders in kommunistischen Diktaturen: Hier gibt es eigentlich außer dem Tod, sei er nun natürlich oder gewaltsam, nur einen Weg: den der demütigenden Selbstkritik.
„Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, das Zentralkomitee auf seiner heutigen Tagung zu bitten, mich von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED zu entbinden“, verkündete der bisher starke Mann der SED, Walter Ulbricht, am 3. Mai 1971 in Ost-Berlin.
Seinen Vorschlag begründete der noch 77-Jährige: „Die Jahre fordern ihr Recht und gestatten es mir nicht länger, eine solche anstrengende Tätigkeit wie die des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees auszuüben. Ich erachte daher die Zeit für gekommen, diese Funktion in jüngere Hände zu geben, und schlage vor, Genossen Erich Honecker zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees zu wählen.“
Was nach gutem Einvernehmen klingen sollte, war in Wirklichkeit das Ergebnis eines monatelangen harten Ringens zwischen dem „starken Mann“ der ostdeutschen Kommunisten, der 26 Jahre lang, seit April 1945, mit eiserner Faust erst die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, dann die DDR beherrscht hatte, und seinem Nachfolger. Honecker, geboren 1912, war spätestens 1958 in die Rolle des Kronprinzen gerückt, doch er wollte nun nicht mehr länger warten.
Die Rückendeckung des „Großen Bruders“ in Moskau holte sich Honecker schon am 28. Juli 1970 bei einem Treffen mit dem sowjetischen KP-Chef Leonid Breschnew. Der hatte sechs Jahre zuvor in einem Coup den einstigen Stalin-Vertrauten Nikita Chruschtschow abgesetzt und wollte die Fäden in der Hand behalten. Vorerst blieb aber alles vertraulich.
Parteiintern klar wurde der bevorstehende Machtwechsel dann im Dezember 1970. Auf der Tagung des Zentralkomitees, als Gremium der rund 180 wichtigsten Parteifunktionäre neben dem Politbüro die einzige echte Machtinstanz in der SED-Diktatur, attackierte die Rektorin der SED-Parteihochschule „Karl Marx“, Hanna Wolf, Ulbricht – natürlich wie bei Kommunisten üblich verklausuliert, aber dennoch für jedes ZK-Mitglied kaum missverständlich: „Ich stelle also die Frage nach der größeren Aktivierung des Zentralkomitees.“
Ulbricht reagierte auf diesen und einige andere Vorwürfe mit einem nicht mit dem Politbüro abgesprochenen Schlusswort – das er auch im Parteiblatt „Neues Deutschland“ publiziert wissen wollte. Doch genau das geschah nicht, vielmehr wurde nur die Tatsache erwähnt, dass der Parteichef buchstäblich das „letzte Wort“ auf der ZK-Sitzung gehabt hatte.
Schlimmer noch: Fünf Tage später wandten sich acht Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, darunter Honecker, schriftlich an den SED-Chef und forderten ihn auf, sein Schlusswort auch in Zukunft nicht veröffentlichen zu lassen. Denn falls die DDR-Öffentlichkeit davon erführe, könnte der Schluss gezogen werden, dass an den ökonomischen Schwierigkeiten die Plankommission oder die Regierung schuld seien. Das war natürlich in einem Staat, in dem die Partei angeblich immer recht hatte, inakzeptabel. Ulbricht lenkte ein.
Seine Macht zerbröckelte nun fast täglich mehr. Am 21. Januar 1971 schrieben 13 Politbüromitglieder und Kandidaten ohne Wissen Ulbrichts einen siebenseitigen Brief an Breschnew. Er wurde zur „geheimen Verschlusssache“ deklariert und war so vertraulich, dass eine Kopie in einem fünffach versiegelten Umschlag am 7. Dezember 1989 von der Ost-Berliner Staatsanwaltschaft im Haus von Willi Stoph beschlagnahmt wurde, der seit 1950 zum innersten Machtzirkel der SED zählte.
In dem Brief nach Moskau hieß es, das SED-Politbüro befinde sich in einer sehr schwierigen Lage, wofür eindeutig Ulbricht verantwortlich sei. Die politische und organisatorische Führung der Partei werde dadurch geschwächt – und das in einer Zeit, in der sie ihre ganze Kraft zur Bewältigung der innenpolitischen Probleme wie der außenpolitischen Aufgaben benötige. Schon seit Mitte 1970 sei der erste Sekretär nicht mehr in der Lage, die Realität richtig einzuschätzen. In kommunistischer Sprache war das eine offene Rebellion.
Am 8. Februar 1971 reiste Ulbricht in die Sowjetunion und traf sich umgehend mit Breschnew. Anschließend verbrachte das Ehepaar Ulbricht mehrere Wochen in dem Land. Am 14. März hatte er eine weitere Unterredung mit dem KPdSU-Chef, über die das Parteiblatt „Prawda“ wie schon nach dem Treffen im Februar auf der Titelseite eins berichtete. Vermutlich nutzte Honecker die Abwesenheit, den Machtwechsel konkret vorzubereiten.
Doch noch gab Ulbricht nicht auf. Äußerlich einig, fuhren die beiden Ende März 1971 erneut nach Moskau, als Delegation der SED zum Parteitag der KPdSU. Dabei hielt Ulbricht eine Rede, die in der Bemerkung gipfelte, er habe Wladimir Lenin noch persönlich gekannt – unter Bolschewisten (als solcher verstand sich der Erste Sekretär der SED immer noch) eine Art Ritterschlag.
Doch diese Bemerkung machte ihn gerade nicht wie wohl erwartet unangreifbar, sondern ließ ihn als den „Mann von gestern“ erscheinen, der er ja tatsächlich auch war. Wahrscheinlich am 12. April 1971 kam es zu einem Sechs-Augen-Gespräch Breschnews mit Ulbricht und Honecker. Doch wieder lehnte der SED-Chef einen einvernehmlichen Machtwechsel ab.
Nach ihrer Rückkehr in die DDR erholten sich die beiden Konkurrenten erst einmal getrennt voneinander auf ihren Landsitzen – Ulbricht in Groß-Dölln, Honecker in Wildfang rund 20 Kilometer südlich davon. Vor dem 27. April 1971 kam es, folgt man den Erinnerungen des DDR-Chefspions Markus Wolf, zu einer dramatischen Konfrontation.
Honecker hatte die Männer seines Personenschutzkommandos aufgefordert, ihn in Wildfang abzuholen und zu Ulbrichts Residenz zu begleiten. „Die Leute der Hauptabteilung Personenschutz der Stasi wunderten sich über den ungewöhnlichen Befehl, zu diesem Besuch unter Freunden nicht nur ihre normale Ausrüstung mitzubringen, sondern auch Maschinenpistolen“, schreibt Wolf.
In Groß-Dölln angekommen, berief sich Honecker gegenüber dem dortigen Kommandanten auf seine Weisungsbefugnis als verantwortlicher ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und ordnete an, alle Ausgänge zu besetzen sowie die Telefonleitungen zu kappen. Er schien entschlossen, seinen Ziehvater festzusetzen, falls dieser sich seinen Forderungen verweigern würde. So weit kam es aber nicht, denn nach etwa 90 Minuten harten Streits resignierte Ulbricht und unterschrieb das geforderte Rücktrittsgesuch an das Zentralkomitee, das er dann am 3. Mai 1971 offiziell verkündete.
Vielleicht hoffte er noch, das Gesicht wahren und als Staatsratsvorsitzender weiterhin politischen Einfluss ausüben zu können. Aber Honecker unterband das mit der gleichen Härte, mit der er zuvor den Sturz seines Ziehvaters betrieben hatte: Ulbricht blieb zwar formell Staatsoberhaupt und wurde sogar zum Ehrenvorsitzenden der SED ernannt, doch in Wirklichkeit war er gedemütigt und abgesetzt.
Gut 18 Jahre später, im Oktober 1989, wiederholte sich das Manöver. Diesmal allerdings war es der inzwischen ebenfalls 77-jährige Honecker, der von seinem eigenen politischen Ziehsohn Egon Krenz durch eine mit Moskau abgestimmte Intrige gestürzt wurde. Und – Ironie der Geschichte – auch Honecker wurde gezwungen, selbst den jüngeren Mann als seinen Nachfolger vorzuschlagen.
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