Am 28. April 2007 ist Carl Friedrich von Weizsäcker gestorben. Ich komme der Anregung der Herausgeber, ihm einen Nachruf zu schreiben, sehr gern nach, da ich viele Jahre eng mit ihm zusammen gearbeitet habe – zunächst ab 1964 am Philosophischen Seminar in Hamburg, dann am Max-Planck-Institut in Starnberg, von dem noch die Rede sein wird. Und ich hatte die Freude, ihn bis ins hohe Alter begleiten zu können.

Carl Friedrich von Weizsäcker ist am 28.6.1912 in Kiel geboren, wo sein Vater Ernst von Weizsäcker als Marineoffizier stationiert war. Der Vater wechselte im Zuge der Abrüstung nach dem Weltkrieg in den diplomatischen Dienst. Daher kam es, daß Carl Friedrich in Basel, in Kopenhagen und schließlich in Berlin zur Schule ging. Als Abiturient hatte er sich für Philosophie interessiert, studierte dann aber auf Anraten Werner Heisenbergs Physik, promovierte und habilitierte (mit 24 Jahren!) bei Heisenberg in Leipzig. Er war Heisenbergs Assistent an dessen Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, seit 1943 Professor für Physik in Straßburg. 1937 erschien seine Monographie „Die Atomkerne“, 1943 zum ersten Mal die Sammlung von Aufsätzen „Zum Weltbild der Physik“, die es mit vielen Erweiterungen bis zur achten Auflage 1958 brachte. – Seit 1937 war er verheiratet mit Gundalena Wille, aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.

Nach Kriegsende 1945 wurde er mit den anderen deutschen Fachleuten für Kernphysik in Farm Hall in England interniert. Nach seiner Rückkehr wurde er Abteilungseiter im – wieder von Heisenberg geleiteten – Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen. 1957 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Philosophie der Universität Hamburg und war von da an auch offiziell „Philosoph“. Als Weizsäcker seinen Lehrstuhl in Hamburg antrat, veranstalteten die Studenten einen Fackelzug ihm zu Ehren. Fackelzüge sind aus der Mode gekommen. Und es scheint, dass auch der Typ des Gelehrten, dem man Fackelzüge bringt, wie ihn Weizsäcker verkörperte, aus der Mode gekommen ist.

1 Wurzeln

„Atomphysiker und Philosoph“ – so wurde Carl Friedrich von Weizsäcker üblicherweise eingeführt. Wenn man davon absieht, daß sein Fach nicht die Physik der Atome sondern die der Atomkerne war, ist das ja nicht ganz falsch, aber es ist unvollständig: Mindestens Politik und Religion muß man noch hinzufügen. Er schildert das selber sehr prägnant in einem lockeren Vortrag 1988:Footnote 1 „Ich würde zunächst sagen, eigentlich weiß das Kind ja schon alles, was der Erwachsene jemals wissen wird. Es weiß nur nicht, was es weiß. […] In der Kindheit habe ich vollkommen elementar gelebt in drei Welten, die ich mit Erwachsenenausdrücken bezeichne als erstens Naturwissenschaft, zweitens Politik, drittens Religion.“

Eine Wurzel seiner Erfahrung und seines Denkens ist die Politik. Sein Vater war Diplomat, sein Großvater bis 1918 württembergischer Ministerpräsident, der jüngere Bruder Richard sollte Jahre später regierender Bürgermeister von Berlin und deutscher Bundespräsident werden. Sein Elternhaus war von Politik, speziell von Außenpolitik geprägt. Weizsäcker ist mit Politik, mit Diplomatie aufgewachsen, und man spürte aus allen seinen Äußerungen das diplomatische Gefühl dafür, was der Adressat verstehen kann und heraushören wird. Er war diplomatisch auch im Sinne des Verbindlichen, Verbindenden. Vielleicht hätte er sich auf alle Fälle politisch engagiert. Faktisch war es aber die „schicksalhafte Beziehung zwischen Physik und Politik,“Footnote 2 also die Entwicklung der Kernwaffen, die ihn moralisch genötigt hat, sich in die Politik einzumischen.

Seine zweite Wurzel ist das, was er Religion nennt: Zunächst prägte ihn wohl die Familientradition, u.a. die Frömmigkeit seiner Mutter, sein Urgroßvater Carl Heinrich Weizsäcker war Theologieprofessor in Tübingen. Sodann war für ihn ein Erlebnis wegweisend, das er öfter geschildert hat, seine Flucht aus der Feier seines zwölften Geburtstags in die sternklare Nacht: „In der unaussprechlichen Herrlichkeit des Sternenhimmels war irgendwie Gott gegenwärtig. Zugleich aber wußte ich, daß Sterne Gaskugeln sind, aus Atomen bestehend, die den Gesetzen der Physik gehorchen. […] Wäre es möglich, auch in den Gesetzen der Physik einen Abglanz Gottes zu finden?“Footnote 3 – Er schildert außerdem, wie ihn als Zwölfjährigen die Lektüre der Bergpredigt tief erschüttert hat; diese Erschütterung hat ihn sein ganzes Leben begleitet.

Daß er schließlich die Physik zu seinem Lebensberuf wählte, hängt außer mit Heisenbergs Rat auch mit dieser Naturfrömmigkeit zusammen, mit der „unaussprechlichen Herrlichkeit des Sternenhimmels“. Darin eifert er Kepler nach; ebenso wie Kepler möchte er Gott in der Natur erkennen. – Weizsäcker wurde einer der ersten Fachleute in Kernphysik, fand das „Tröpfchenmodell“ des Atomkerns und den „Kohlenstoffzyklus“, der die Energieerzeugung in den Sternen beschreibt. Diesen Prozeß entdeckte er etwa zugleich mit Hans Bethe; Bethe blieb dabei, arbeitete weiter daran und bekam dafür 1967 den Nobelpreis. – Aus einem ganz anderen Gebiet stammt eine weitere große Leistung in der Physik: Er nahm eine Theorie der Planeten-Entstehung wieder auf, die von Kant 1755 und ähnlich von P.S. de Laplace 1796 vorgeschlagen worden war. Aus seiner Beschäftigung mit modernen Theorien der Turbulenz war er in der Lage, diese Kant-Laplacesche Theorie auf der Höhe der zeitgenössischen Physik neu zu formulieren. – Weizsäcker war, das sieht man daran, nach seiner ursprünglichen Sozialisation in der gelehrten Welt Naturwissenschaftler. Unter Naturwissenschaftlern fühlte er sich zu Hause, und offenbar hatte er auch in der Zeit seiner Philosophie-Professur in Hamburg, die er die glücklichste seines Lebens nannte, das Bedürfnis nach Anschluß an die Physik – hier speziell auch nach Gesprächen mit Heisenberg. Er verbrachte jeden Sommer einige Wochen in Heisenbergs Institut in München. Seine Arbeitsmethode war oft, Gespräche zu führen, darin sein Vorbild Platon nachahmend – wenn auch nicht immer in der Form des „sokratischen Gesprächs“. Darin glichen beide ihrem großen Lehrer Niels Bohr. Bohr hatte als Physiker entscheidend zur Entwicklung der Quantenmechanik beigetragen, hatte vor allem einen Schülerkreis um sich versammelt, zu dem an hervorragender Stelle Heisenberg und Weizsäcker gehörten. In diesem Kreis ist eigentlich die ganze quantenmechanische Physik und ihre Interpretation entstanden, dank Bohrs Gabe, anzuregen und nachzufragen. Bohr hat das Institut, das der dänische Staat ihm bezahlt hat, schon architektonisch ganz auf das Gespräch ausgerichtet, u.a. dadurch, daß er selbst mit im Haus wohnte. Weizsäcker schreibt, er habe bei Bohr vom ersten Augenblick an den Eindruck gehabt: „Ich habe zum ersten mal einen Physiker gesehen. Er leidet am Denken“ – nämlich einen Physiker, wie er ihn sich vorstellte. Er schildert Bohr, sehr zugewandt und lebendig, als den „Sokrates“ in diesem Kreis von hochbegabten Physikern.Footnote 4

2 Philosophie

In dem erwähnten Vortrag fährt er fortFootnote 5: „Es ist dann als viertes hinzugekommen, als ich schon etwas älter wurde, die Erkenntnis, daß der Zusammenhang von all diesem einen Namen hat unter den Menschen, nämlich den Namen Philosophie – und insofern kommt als viertes, aber deutlich abgesetzt gegen die drei elementaren Erlebnisweisen, die Philosophie dazu.“ – Ganz nebenbei finden wir hier einen Hinweis auf die Person Carl Friedrich von Weizsäcker. Ich habe zitiert: „…daß der Zusammenhang von all diesem einen Namen hat unter den Menschen…“: Eine leicht ironisierende Distanzierung von „den Menschen“, durchaus mit dem nötigen Selbstbewußtsein. Er gehörte doch noch der inzwischen wohl ausgestorbenen Spezies „Deutscher Professor“ an.

Weizsäcker war einer der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts – eine Feststellung, die man offenbar ausdrücklich formulieren muß. Denn bei Physikern galt er zwar als Philosoph, aber bei den meisten Philosophen allenfalls als großer Physiker. Und das ist ganz verständlich, denn er paßte schon 1957 nicht in den Rahmen der akademischen Philosophie in Deutschland, und seine Philosophie läßt sich bis heute keiner der bestehenden Schulen oder Strömungen zuordnen. Anders als vor allem die „analytischen“ Philosophen sieht Weisäcker die Philosophie nicht als eine Wissenschaft, sondern als ein Fragen nach den Grundlagen – auch jeder Wissenschaft. Das hat sicher bei vielen Kollegen, vor allem in der angelsächsischen Tradition und bei den Jüngeren auf dem europäischen Kontinent, zu Mißverständnissen geführt. Er hat das in seiner „Selbstdarstellung“ reflektiert und trägt damit einen interessanten Aspekt zur Wissenschaftstheorie bei: “Man wird mir vielleicht verzeihen, daß ich […] die empiristische Wissenschaftstheorie, die sich zu meinen Lebzeiten entwickelte, nur peripher zur Kenntnis genommen habe. Sie war mir solange nicht interessant, als sie nicht erkannt hatte, daß Humes Problem in ihrem Kontext unlösbar bleibt. Auch Popper ist nur an den Rand der Probleme gelangt, die Einstein und Bohr klar vor Augen standen, z. B. daß die Begriffe, in denen wir simple empirische Sätze formulieren, nur im Zusammenhang einer Theorie überhaupt einen klaren Sinn haben. Den wichtigsten Durchbruch hat m. E. Th. S. Kuhn geleistet, mit dem ich mich bei dem einzigen Gespräch, das ich mit ihm hatte, sowohl über Galilei wie über Einstein und Bohr spontan verstand. Ich möchte seine Wendung zur Wissenschaftsgeschichte so interpretieren: Wenn empiristische Wissenschaftstheorie selbst empirische Wissenschaft ist, muß sie ihren Begriff von Wissenschaft empirisch, d.h. historisch-deskriptiv gewinnen. In der historischen Deskription aber hat nicht Kuhn mit seinem an sich höchst lehrreichen Begriff der Paradigmen den harten Kern der ,wissenschaftlichen Revolutionen‘ bezeichnet, sondern, schon ein Jahrzehnt vor Kuhn, Heisenberg mit dem Begriff der abgeschlossenen Theorien. Gemeinsam ist beiden die Erkenntnis, daß es in der geschichtlichen Entwicklung eine Folge von Plateaus gibt, auf denen sich dann ,normale Wissenschaft‘ entwickeln kann, bis zur nächsten Krise. Mit vollem Recht vergleicht Kuhn diese Plateaus den Spezies in der Darwinschen Evolutionstheorie. Hier zeigt sich wieder die Strukturidentität einer wissenschaftstheoretischen mit einer inhaltlich-wissenschaftlichen Erkenntnis. Spezies sind Plateaus, weil sie einer ökologischen Nische angepaßt sind. Die ökologische Nische einer abgeschlossenen Theorie ist das, was man in direkter Sprechweise ihre Wahrheit nennt. Und so heißt denn die Kernfrage nach wie vor: Was ist Wahrheit?“Footnote 6

Weizsäcker wird nicht müde zu betonen, daß das Entscheidende an der Philosophie, das sie von allen Wissenschaften unterscheidet, das Weiterfragen ist. Dieses Weiterfragen bedeutet nicht primär, daß jede Antwort nur vorübergehend sein kann. Auch das bedeutet es, aber es bedeutet vor allem, daß keine Frage die letzte Frage gewesen sein kann. Er unterscheidet damit die Philosophie von den Wissenschaften, die jede ihr bestimmtes, abgegrenztes Gebiet haben, und das heißt, jede ihre bestimmten innerhalb der Wissenschaft zulässigen Fragen. Es gibt über diese Fragen hinaus immer noch andere Fragen, die aber gemäß der Definition einer Wissenschaft innerhalb dieser Wissenschaft nicht zulässig sind. Das Bezeichnende an der Philosophie ist, daß eine solche Grenze nicht gezogen wird; jede weitere Frage ist innerhalb der Philosophie zulässig.

Dieses Weiterfragen bedeutet vor allem das Fragen danach, ob wir wissen, was wir mit dem meinen, was wir gerade sagen. Weizsäcker schreibt etwa, nachdem er eine spiritualistische monistische Metaphysik erwähnt hat: „Wenn wir Philosophen sind, muß unsere erste Frage freilich nicht sein, ob wir eine solche Metaphysik glauben wollen. Die Frage muß vielmehr sein, ob wir wissen, was wir meinen, wenn wir eine solche Metaphysik als denkbar behaupten.“Footnote 7 – Das ist die Aufgabe des Sokrates, der seine Gesprächspartner so lange weiter fragt, bis – im Normalfall – sie selbst sehen, daß sie am Anfang nicht wußten, was sie meinten mit dem, was sie sagten. Platon, der uns den Sokrates vorstellt, hat der abendländischen Philosophie darüber hinaus die charakteristische Verbindung mit der Mathematik gegeben, die zu derselben Zeit im selben Kulturraum erfunden worden ist. An der Mathematik faszinierte ihn und seine Schüler die deduktive Klarheit, die Unausweichlichkeit dessen, was man einfach sieht („Theorie“ kommt von griechisch „theorein“: schauen, betrachten). Weizsäcker schreibt dazu: „Die griechische Philosophie hat unserer Kultur die Sprache ihrer Selbstdeutung gegeben. […] Was zeichnet das Volk der Griechen aus? Aktivität, unerschöpfliche Neugier, eine in der Menschheitsgeschichte beispiellose vielseitige Kraft der Gestaltung. Es gibt nicht eine spezifisch griechische Philosophie, sondern Philosophie selbst ist eine Erfindung der Griechen. […] Sie haben, in steter Wechselwirkung mit der von ihren griechischen Zeitgenossen geschaffenen Wissenschaft der deduktiven Mathematik, kontrollierbare Kriterien der Rationalität entstehen lassen, denen unser Begriff von theoretischem Denken überhaupt erst entstammt. Als die griechische Kultur im römischen Reich, im christlichen Abendland aufging, hat sie dies als ihren harten Kern hinterlassen.“Footnote 8

Weizsäcker charakterisiert die Philosophie darüber hinaus als „ihrem Wesen nach nachträglich“, und meint es sowohl autobiographisch wie systematisch. „Philosophie ist der Versuch, nachträglich zu verstehen, was man schon gekonnt hat. Primum vivere deinde philosophari. Das heißt nicht nur: Du mußt erst zu essen haben, dann kannst du erst philosophieren, sondern du mußt erst schon mal etwas gemacht haben, etwas gemeint haben, etwas behauptet haben und dann kannst du dich fragen: was war das denn, was ich da schon längst gekonnt habe?“Footnote 9 Das ist zunächst das Phänomen: Philosophie ist nachträglich. Aber man sieht nachher auch, daß man an das wieder anknüpft, von dem man ursprünglich ausgegangen war. „Philosophie ist, so sehen wir bereits, selbstbezüglich. Historisch gesehen hat diese Selbstbezüglichkeit zwei zusammengehörige Folgen: Philosophie ist wesentlich nachträglich und zugleich doch immer schon vorweg anwesend. Nachträglich stellt sie die Frage nach dem Sinn der schon von der Wissenschaft oder einer herrschenden Meinung gegebenen Antworten und nach dem Sinn der Fragen, die zu diesen Antworten führten. Sie dringt damit aber zu den, oft nicht voll artikulierten, ursprünglichen Fragen vor, die sich, oft unvollkommen, in den später beantworteten Fragen niedergeschlagen haben.“Footnote 10 Wir kommen auf diese selbstbezügliche Struktur unter dem Titel des Kreisgangs wieder zurück.

Die Verbindung zwischen Philosophie und Physik war für Weizsäcker entscheidend. Nachdem ihn zunächst die Natur fasziniert hatte, war ihm klar geworden, daß eigentlich in der Philosophie nach dem Zusammenhang, der ihn interessierte, gefragt wird. Dann hat aber Heisenberg, der elf Jahre ältere Freund und Mentor, ihm klargemacht, daß man im 20. Jahrhundert Philosophie nur machen kann, wenn man die Physik verstanden hat, und daß man die Physik nur versteht, wenn man sich selbst aktiv an ihr beteiligt, und das am besten vor dem 30. Lebensjahr. Die beste Zeit für Philosophie ist dagegen laut Platon nach dem 50. Lebensjahr. – Für Weizsäcker war die Physik nicht nur akademische „Heimat“, sondern zugleich wichtige Quelle für seine philosophischen Überlegungen. Das Gespräch mit Heisenberg ist, solange dieser lebte, nie abgerissen, obwohl Weizsäcker oft gestand, seine mathematische Begabung hätte nicht ausgereicht, Heisenbergs Gedankengängen zu folgen, und Heisenberg ihm oft gesagt hat, die Philosophie wolle er ihm gern überlassen, die sei für ihn, Heisenberg, zu schwer.

3 Das Ganze

Einen guten ersten Einblick in Weizsäckers Philosophie gewinnt man an seiner frühen Vorlesung „Die Geschichte der Natur“, die er 1946 – da war er dann schon über dreißig! – in Göttingen „für Hörer aller Fakultäten“ gehalten hat. Das ist eigentlich eine naturwissenschaftliche Vorlesung: Kosmologie, Erdgeschichte, Evolution auf dem damaligen Stand der Kenntnis. Zugleich ist aber darin alles angelegt, was ihn später beschäftigt hat; man kann die Vorlesung (die sich übrigens seit dem ersten Druck 60 Jahre lang kontinuierlich am Markt gehalten hat) auch als Programm für sein ganzes Denken lesen. – Das wäre dann ein möglicher Zugang zu Weizsäckers Philosophie.

Ich selber kam zu Weizsäcker über eine Vorlesung, die er in ähnlicher Weise im Jahr 1948 in Göttingen gehalten hat: „Der begriffliche Aufbau der theoretischen Physik.“Footnote 11 Als Physik-Diplomand fand ich Anfang der 60er Jahre in der Bibliothek von Heisenbergs Max-Planck-Institut eine maschinenschriftliche Nachschrift dieser Vorlesung. Ich hatte bis dahin schon dreimal bei verschiedenen Dozenten in München, Göttingen und wieder München Vorlesungen über Quantenmechanik gehört und dabei so viel gelernt, daß ich die Übungsarbeiten der Mitstudenten korrigieren konnte; aber ich hatte immer noch den Eindruck, nicht das Geringste verstanden zu haben. Bei der Lektüre dieses Vorlesungsmanuskripts ahnte ich aber plötzlich, daß ich da Schlüssel zum Verständnis würde finden können. Das hat mich dann nach Hamburg zu Weizsäcker geführt. Und als ich zum ersten Vorgespräch in sein Büro kam, war er gerade voll damit beschäftigt, ein Manuskript, das er geschickt bekommen hatte, Seite für Seite zu Papierfliegern zu verarbeiten, die er vom „Philosophenturm“ herab gleiten ließ – das Papier dieses Manuskripts eigene sich dafür ganz besonders! – Ein ermutigender Einstieg in die schwierigen Kletterpfade der Philosophie.

Das „Ganze“, das Weizsäcker angestrebt hat, konnte nicht die Form eines philosophischen Systems haben. Demgemäß kann man auch in seinen Schriften nicht eine einheitliche Darstellung seiner Philosophie erwarten. Er hat aber einmal – in einem Vortrag 1983 – einen Überblick gegeben, den er wie folgt beginnt: „Ich bin in Versuchung geführt worden und bin der Versuchung erlegen, in etwas mehr als einer Stunde den vollen Entwurf einer Philosophie zu skizzieren.“ Der Vortrag trägt den Titel: „Zeit, Physik, Metaphysik“ und gibt damit drei Angelpunkte von Weizsäckers Philosophieren an.Footnote 12

Als philosophische Lehrer hat er sich die ganz Großen herausgesucht: Platon vor allem, von dem er sagt, daß man bei jedem philosophischen Thema immer zurückfragen müsse, wo das herkommt, bis man bei Platon lande; bei Platon gebe es dann eine Chance, die Fragen wirklich zu verstehen. – Der Zweite ist Kant: Unbeirrbar kritisch und genau, und uns darin näher als Platon, daß er schon in unsere naturwissenschaftlich geprägte Zeit gehört. – Der Dritte, das ist nun eine weizsäckersche Spezialität, ist Kepler, der fromme Neuplatoniker, der versucht, in der Physik die Gedanken Gottes nachzudenken – so wie Weizsäcker es auch möchte.

In der Hamburger Zeit hatte sich Weizsäcker zunächst intensiv mit Platon beschäftigt, dann vor allem mit Kant. Eine Frucht der Beschäftigung mit Kant ist die Dissertation von Peter Plaaß über die Einleitung zu Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“. Als ich 1964 nach Hamburg kam, war Plaaß schon erkrankt und ist bald darauf gestorben. Die intensive Beschäftigung mit Kant ging aber noch weiter, und ich bilde mir ein, darin einen neuen und offenen Blick auf Kant gewonnen zu haben. Weizsäcker war durch das Kant-Studium dazu angeregt, die Möglichkeit einer a priori-Begründung der modernen Physik zu untersuchen. Kant war dieser Plan wohl deswegen mißlungen, weil die Newtonsche Mechanik, die er zu begründen unternahm, dafür zu speziell, zu eng war. Die heutige grundlegende Theorie, die Quantenmechanik, ist aber so umfassend und allgemein, daß jetzt ein Versuch analog dem kantischen vielleicht Erfolg haben würde: Evtl. ist die Grundstruktur der Quantenmechanik (die Struktur des Hilbert-Raums) etwas, was jede Theorie haben muß, die überhaupt objektive Naturwissenschaft sein soll. – Mich hat diese Frage sofort fasziniert, aus den Lösungsversuchen wurde meine Dissertation und, mit etwas weiterem Fragebereich, eine Habilitationsschrift.Footnote 13 Es scheint tatsächlich keine andere Struktur zu geben für eine objektive Theorie; aber ein einwandfreier Beweis dafür ist bisher nicht gelungen. – Die Frage würde eigentlich jeden Philosophen reizen, die Arbeit daran hat nur den großen Nachteil, daß sie eine sehr abstrakte Mathematik erfordert. Und damit geht es wie mit anderen Fragen, die Weizsäcker interessierten: Die meisten Philosophen, welche die Faszination der Frage beurteilen können, scheitern an der Mathematik; und die versierten Mathematiker, die das Handwerkszeug beherrschen, können der Frage nicht viel abgewinnen.

Obwohl Schüler großer Philosophen, hat Weizsäcker selbst keine Schule gegründet. Das hätte wohl seinem solistischen Charakter nicht entsprochen, es liegt aber nach meinem Empfinden auch an seiner Philosophie. Denn sein unermüdlicher Versuch, das Ganze im Blick zu behalten, schloß es eigentlich aus, daß er sich, wie es für eine Schule notwendig gewesen wäre, auf ein Thema ganz und gar einließ. Ich erinnere mich an Diskussionen, wo ich ihm doch auch ganz schöne Ergebnisse präsentieren konnte, wo er aber zum Schluß regelmäßig fand, daß man ein solches Ergebnis doch nur dann wirklich verstehen könne, wenn man vom irgendwann vielleicht einmal besser gesehenen Ganzen zurückblicken würde. – Aus seinen Texten spricht, wie wir es auch in Diskussionen erlebt haben, eine ungeheure Anstrengung, bis an die Grenzen des Denkbaren zu gehen. Oft skizziert er dabei auch Entwürfe, von denen er hofft, daß man sie irgendwann würde ausführen können, schlägt kühne Brücken, von denen niemand sagen kann, ob sie tragen werden, immer an der Grenze dessen, was man überhaupt zu sagen oder zu denken wagen kann. Da er sich aber sogar bei Dingen, über welche die meisten Hörer oder Leser recht sicher waren, überaus vorsichtig ausdrückte, bemerkte man die entsprechende Vorsicht bei seinen wagemutigen Brückenschlägen gar nicht besonders – was auch gelegentlich Verwirrung stiften konnte.

Wie ist also das Ganze zu denken? – Weizsäcker begleitet bei dieser Frage immer Platons Parmenides-Dialog. Wenn Eines ist, dann sind es schon zwei, nämlich das Eine und, daß es ist. Moderner würde man vielleicht sagen: sobald man überhaupt etwas sagt (oder denkt), muß man unterscheiden, z.B., was das Gesagte nicht ist; und dann ist es nicht mehr das Ganze. Zugleich kann man aber nichts sagen oder Denken, ohne die Einheit des Begriffs; im platonischen Beispiel: Ein Kreis ist dadurch ein Kreis, daß er an dem einen Kreis teilhat. Weizsäcker hat diese Fragen aus der Sicht der modernen Naturwissenschaft wieder aufgenommen in Aufsätzen wie „Parmenides und die Graugans“ oder „Parmenides und die Quantentheorie“. Wenn wir die Frage nach dem Ganzen stellen, können wir nicht hinter Parmenides zurück.

Zunächst sehen wir, daß bei der Entstehung der abendländischen Philosophie das Ganze der neu entdeckten Mathematik Pate stand, das großartige deduktive System, das zwingende Einsichten in einem großen hierarchischen Ganzen zu organisieren erlaubte. Weizsäcker sagt dazu: „Die Philosophie hatte recht, wenn sie es als Pflicht verstand, das Ganze zu denken. Sie hatte sich aber an ein gedankliches Bild des Ganzen gebunden, das der Geschichte nicht gemäß ist. Das System als Bild des Ganzen entstammt der Metaphysik, d.h. einer Gestalt der Philosophie, welche die Zeit als Abbild der Ewigkeit und das Ewige als erkennbar nach dem Vorbild zeitloser mathematischer Wahrheiten ansah. Die deduktive Mathematik ist der verborgene Stammvater des philosophischen Systems. Hier ist nicht gesehen, daß der Begriff wesentlich in der Zeit ist. Die Folge Hegel, Marx, Nietzsche zeigt eine fortschreitende Vergeschichtlichung des Begriffs. Heidegger hat wohl als erster das spekulative Problem, um das es hier geht, scharf bezeichnet, etwa im Schlußsatz von »Sein und Zeit«: »Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« Es handelt sich bei Heidegger um das wiederum titanische Unternehmen, die Philosophie von dieser Frage her neu zu denken.“Footnote 14 – Mit Heidegger verband ihn der direkte, originale Zugang zu den großen Fragen. Sie kamen dabei von entgegengesetzten Richtungen, und Weizsäcker stellt ganz nüchtern fest: „Ich glaube nicht, daß er die Realität der Physik tief genug zu durchdenken vermocht hat.“Footnote 15 Aber ihr Dialog war doch aus diesem Unterschied heraus sehr fruchtbar. Sie haben sich über Jahrzehnte immer wieder getroffen, Heidegger hat noch in Weizsäckers Hamburger Zeit dreimal einige Tage bei ihm gewohnt und mit ihm (und einigen Mitarbeitern) diskutiert.Footnote 16 Weizsäcker würdigte ihn in einem Gedenkvortrag in Freiburg 1976.Footnote 17

In Weizsäckers Philosophie lassen sich also zwei Grundbausteine ausmachen: Die zentrale Rolle der Zeit, die ein hierarchisches System ausschließt, und anstelle des Systems der „Kreisgang“, in dem die Philosophie fortschreiten soll.

4 Zeit

Einen Aspekt hat die Betonung der Zeit, der in der klassischen Philosophie leicht aus dem Blick geraten ist: Die Zeitabhängigkeit der Philosophie selber. Weizsäcker benennt das mit dem Schlagwort: „Wir philosophieren heute.“ Zwar hat z.B. auch Hegel die Entwicklung der Philosophie bis zu ihm selber gesehen; aber nach seinem Eindruck lief doch die Philosophie auf einen Zustand der Vollendung zu, den sie nun, in Hegels eigener Philosophie, erreicht hat. Weizsäcker sieht das konsequenter, nämlich daß selbstverständlich auch seine eigen Philosophie zeitbedingt ist: Wir sehen bestimmte Dinge, die Platon oder Hegel noch nicht sehen konnten, und unsere Enkel werden neue Dinge sehen können, von denen wir noch nichts wissen.

Noch wichtiger ist aber der inhaltliche Bezug zur Zeitstruktur, also zu dem Unterschied von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Weizsäcker sagt, er habe mit Vergnügen bemerkt, daß auch bei Heidegger die Zeit in diesem Sinn Grundlage von allem Weiteren ist. Er selber ist aber nicht durch das Studium von Philosophen darauf gestoßen, sondern über das physikalische Problem der Reversibilität. Dazu ein kurzer Ausflug in die Physik:

Physiker neigen dazu, den Zeitparameter t in ihren Gleichungen für die objektive Beschreibung der Zeit zu halten, die Gegenwart dagegen, die in den physikalischen Formeln nicht sichtbar ist, für subjektive Zutat, ebenso die Vergangenheit und die Zukunft. In den fundamentalen physikalischen Theorien ist der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft an den Gleichungen nicht festzumachen, denn die sind „reversibel“ in folgendem Sinn: Wenn ein bestimmter Ablauf von Eigenschaften an einem beobachteten Objekt gemäß der Theorie möglich ist, dann ist gemäß derselben Theorie auch der Ablauf in umgekehrter Reihenfolge möglich. Z.B. ist der wirkliche Lauf des Mondes am Firmament nach der Newtonschen Theorie – selbstverständlich – ein möglicher Ablauf. Es wäre aber auch die umgekehrte Reihenfolge der Positionen am Himmel nach der Newtonschen Theorie der Himmelskörper möglich, mit den genau entgegengesetzten Geschwindigkeiten. Da ist also nicht zu sehen, warum die Bewegungsrichtung in die Zukunft prinzipiell anders sein sollte als die in die Vergangenheit.

Alle fundamentalen physikalischen Theorien sind reversibel in diesem Sinne, außer einer, der Thermodynamik, d.h. der Lehre von den Wärmeerscheinungen. Da ist klar, was zuerst ist und was später, so wie im Leben auch: Die Thermodynamik beschreibt z.B., daß ein heißer Kaffee sich abkühlt, wenn man sich nicht um ihn kümmert, daß er aber nie von selber warm wird. – Zunächst entwickelt als Theorie der Dampfmaschine, war die Thermodynamik bald eine sehr allgemeine Theorie, anwendbar auf die verschiedensten Phänomene. Sie erwies sich schließlich als die allgemeine Theorie aller physikalischen Vorgänge, die nicht exakt, sondern nur statistisch beschrieben werden. Die klassische Thermodynamik läßt sich nämlich aufbauen – eine Glanzleistung der Theoretischen Physik des 19. Jahrhunderts – als eine statistische Beschreibung – sehr grob gesagt – der beteiligten Moleküle. So wird etwa der Druck eines Gases gedeutet als die Wirkung des ständigen Aufprasselns der Gasmoleküle auf die Gefäßwände. Die einzelnen Moleküle gehorchen dabei der Klassischen Mechanik; die thermodynamischen Größen sind statistische Mittelwerte, gemittelt über ungeheuere Massen von Molekülen. Hier entsteht nun ein Problem, denn die Klassische Mechanik ist eine reversible Theorie, die Thermodynamik, die aus ihr gefolgert wird, ist aber irreversibel. Wie kann das zusammenpassen? Wenn man alle Bewegungen der Moleküle im einzelnen umkehrt, erhält man wieder eine mechanisch mögliche Gesamtbewegung. Mechanisch ist also der umgekehrte Prozeß durchaus möglich. Bei der aus ihr abgeleiteten thermodynamischen Zustandsänderung ist aber die Umkehrung nicht möglich. Das Problem wird bis heute als das Problem diskutiert wie „die Zeitrichtung“ oder „der Zeitpfeil“ in die Physik hineinkommt: Da die Welt nach diesem Ansatz „objektiv“, d.h. gemäß der reversiblen Mechanik, keine Vorzugsrichtung hat, muß geklärt werden, wie der „subjektive“ Eindruck eines Unterschiedes von Vergangenheit und Zukunft entstehen kann.

Weizsäcker bietet aufgrund seiner Analyse der Zeitlichkeit eine andere Lösung an, die er zuerst 1939 veröffentlicht hat, in dem Aufsatz: „Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft“.Footnote 18 Sein Lösungsvorschlag besteht vor allem in dem Hinweis, daß wir schon vor jeder Physik wissen, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. Wenn wir nun in der Thermodynamik, zusätzlich zur mechanischen Beschreibung der Moleküle, Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen einführen, dann wenden wir ganz selbstverständlich, ohne es überhaupt zu bemerken, Wahrscheinlichkeit nur auf Prognosen an, also auf die Zukunft. Vergangene Ereignisse mit Wahrscheinlichkeiten zu versehen, wäre absurd. Genau an dieser Stelle kommt der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft, also die Irreversibilität, in die Theorie hinein: Der Physiker führt den Unterschied durch seine unterschiedliche Behandlung selbst ein, merkt es aber nicht, und wundert sich am Ende darüber, woher die Irreversibilität kommt.

Ähnlich geht es bei einem verwandten Problem, das seit langem diskutiert wird, dem Begriff der Wahrscheinlichkeit: Kann man den Begriff überhaupt definieren? Ist Wahrscheinlichkeit eine Eigenschaft von physikalischen Objekten? Ist Wahrscheinlichkeit überhaupt objektiv verstehbar? – Auch hier verhilft die Zeitlichkeit zur Lösung, wenn man nämlich Wahrscheinlichkeit als vorausgesagte relative Häufigkeit versteht. Das erklärt den engen Zusammenhang von Wahrscheinlichkeit und relativer Häufigkeit, aber auch den Unterschied zwischen beiden, und es ermöglicht, die „Rechenregeln“ der Wahrscheinlichkeitstheorie zu begründen. Auch die Quantenmechanik läßt sich auf diesem Weg besser verstehen. Sie ist eine verallgemeinerte Wahrscheinlichkeitstheorie; der Unterschied besteht darin, daß diese Wahrscheinlichkeitstheorie auf einer „Quantenlogik“ aufbaut, anstelle der klassischen Aussagenlogik in der üblichen Wahrscheinlichkeitstheorie. Auch hier ist der entscheidende Punkt die Voraussage möglicher Meßergebnisse, also wieder die Zeitstruktur.

Die Analyse der Quantenmechanik hat Weizsäcker auf die oben schon erwähnte Frage geführt, die für Physiker ausgesprochen abenteuerlich wirkt, nämlich ob die Struktur der Quantenmechanik sich nicht verstehen läßt als Formulierung von nichts anderem als den allgemeinen Bedingungen, die wir an jede physikalische Theorie stellen – im Sinn eines Kantschen a priori. Das würde bedeuten, daß jede Theorie notwendig die Struktur der Quantenmechanik haben muß. Auch wenn die Sache mathematisch bisher zu unübersichtlich ist für ein endgültiges Urteil, so ist doch die Frage allein schon faszinierend genug, und man kann bei der Beschäftigung damit viel lernen.

Weizsäcker ist nun noch einen Schritt weiter gegangen und hat eine allgemeine Grundlage auch für die Theorie der Elementarteilchen gesucht, bzw. für die berühmte „Theory of Everything“. Er trifft sich in diesem Versuch z.B. mit Eddington, Einstein oder Heisenberg, nur daß sein Ansatz noch viel abstrakter ist: Seine elementaren Bausteine, die er „Ure“ nennt, sind Atome im strengsten Sinn. Ihr Zustandsraum ist nur zweidimensional, so daß Teile eines Urs schon begrifflich unmöglich sind. Und aus diesen „Uren“ sollte dann alles, eben „everything“, bestehen. Weizsäcker hat sehr intensiv daran gearbeitet, die Konsequenzen dieses Ansatzes zu durchschauen. Aber es scheint einfach zu schwierig zu sein. Holger Lyre hat in gut lesbarer Weise das zusammengetragen, was man darüber bisher weißFootnote 19 – das ist nicht wenig, aber es ist unvollendet, und ich habe nicht den Eindruck, daß es sich leicht vollenden läßt. Hier gilt das verstärkt, was auch für die Physik a priori gilt: Es findet sich kaum jemand, der daran intensiv mitarbeiten kann und will.

Auf die fundamentale Rolle der Zeit kam Weizsäcker also zunächst durch Überlegungen in der Physik. Er hat das aber auch in philosophischen Fragen überall wieder gefunden: Verstehen kann ich die Welt, in der ich (heute) lebe, nur in ihrer Geschichtlichkeit. Weizsäcker bringt das in engen Zusammenhang mit seinem zweiten Grundsatz, dem „Kreisgang“. An vielen Stellen steht bei ihm für diesen Kreisgang das Schlagwort: „Die Natur ist älter als der Mensch, der Mensch ist älter als die Naturwissenschaft“ – in dem „älter“ spielt er wieder an auf die Zeitstruktur.

5 Kreisgang

Dieses Schlagwort deutet einen Kreis insofern an, als er bei der Natur beginnt und bei der Natur wieder endet. Nach Weizsäcker kann man bei einem solchen Kreisgang irgendwo einsteigen; wenn man den Kreis einmal durchlaufen hat, fängt man als ein Anderer mit einem weiteren Durchlaufen an. Eine Möglichkeit, die das Schlagwort andeutet, wäre die, bei der heutigen Naturwissenschaft zu beginnen, weiterzugehen zur Geschichte der Natur als ihrem Gegenstand, von da zur menschlichen Geschichte und weiter zur Geschichte der Naturwissenschaft, womit man, aus einer anderen Perspektive, wieder bei der Naturwissenschaft angelangt ist. Oder ein anderer Kreisgang: Bei einem möglichen Aufbau der Wissenschaft beginnt man bei der Logik, geht weiter zur Physik, von da zur Evolution und zur Biologie und von da vielleicht zu einem biologischen Verständnis von Logik, womit man wieder beim Ausgangspunkt wäre.

Diesen Kreisgang erwähne ich vor allem wegen des letzten Schritts: Weizsäcker hat dazu einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel „Biologische Präliminarien zur Logik“Footnote 20 Er gibt darin Argumente, wie die Struktur der Logik aus biologischen Notwendigkeiten verstanden werden kann. Er bringt etwa die Struktur der Negation, also die eindeutige Entscheidung zwischen Ja und Nein, mit der Notwendigkeit eindeutiger Reaktionen auf Reize zusammen. – Es ist klar, daß man für eine solche Argumentation die Logik schon voraussetzt. Aber es steht ja nichts dagegen, die Voraussetzungen der Logik mit Hilfe der Logik zu untersuchen; das ist einer der Kreisgänge.

Diese Kreisgänge haben oft, oder sogar überwiegend, die Struktur, daß man beim nochmaligen durchlaufen derselben Phase nicht noch einmal das dort Gewußte betrachtet, sondern die Art des Wissens dieses Gewußten. Im Beispiel der Logik ist das klar: Die „Biologischen Präliminarien“ thematisieren nicht etwa die Regeln der Logik selbst, sondern die Frage nach dem Wissen, woher man diese Regeln „weiß“. Ähnlich auch beim ersten Beispiel, bei der Naturwissenschaft allgemein: Zunächst beschreibt man naturwissenschaftlich die Welt. Kommt man nach einem Durchgang des Kreises wieder auf die Naturwissenschaft, dann ist jetzt ihre Geschichte, später evtl. ihre Philosophie thematisiert: Die Frage nach dem Ursprung des Wissens der Naturwissenschaft. Sein großes Abschlußwerk hat Weizsäcker in diesem Sinn „Zeit und Wissen“ genannt. Er verwendet dazu auch das Bild des Gartens, den man auf vielen Pfaden durchstreifen kann – etwa in dem Sammelband zur geschichtlichen Anthropologie „Garten des Menschlichen“.Footnote 21 Beide Bilder kombinierend schreibt er vom „Rundgang“ durch den Garten, dem er einen „Rundritt“ voranstellt,Footnote 22 eingeleitet von dem noch kürzeren „Rundblick“.

6 Politik

Spaziergänge in diesem Garten sind Weizsäcker eine Freude, Physik ist sein Lebenselixier. „Politik hingegen“, schreibt er, „ist die bittere Pflicht des Physikers im Zeitalter der Atombombe.“Footnote 23 Er hatte zunächst gemeint, die Kernphysik sei ein „Orchideenfach“, dem er sich in Ruhe widmen konnte, fernab von jeder Anwendung. Aber gerade dieses Fach bekam plötzlich politisches Schwergewicht: Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs entdeckten Lise Meitner und Otto Hahn die Kernspaltung. Weizsäcker sah sofort, dass die damit verbundene Energieerzeugung politisch höchst brisant werden konnte. Einerseits konnten die Kernreaktionen, wenn man sie beherrschte, sämtliche Energieprobleme der Menschheit lösen, zum Nulltarif, wie man damals dachte. Andererseits – und das war Anfang 1939 höchst aktuell – konnte man mit diesen Kenntnissen Waffen bauen von bisher unvorstellbarer Sprengkraft; wer solche Waffen in die Hand bekäme, würde die Welt beherrschen. Damit holte die Politik Weizsäcker wieder ein, die zur Atemluft der Welt gehört hatte, in der er aufgewachsen war. Der Siebenundzwanzigjährige sah die politischen Möglichkeiten der Kernspaltung sofort und dachte daran – wie er später gestand – sie zur Einflußnahme auf Hitlers Politik zu nutzen: Er und seine kleine Gruppe von Fachleuten könnten, malte er sich aus, ihr Wissen nur unter der Bedingung zur Verfügung stellen, dass Hitler eine „vernünftige“ Politik machte. Später war er aus tiefstem Herzen dankbar, dass er keine Gelegenheit bekommen hatte, diese Pläne in der Realität auszuprobieren. – Der Vater Ernst von Weizsäcker war leitender Beamter im Auswärtigen Amt geworden, er wurde 1938 Staatssekretär unter Ribbentrop. Aus seiner näheren Kenntnis verabscheute er die Nazis. Carl Friedrich führte es nur auf den Einfluß seines Vaters zurück, daß er selber nie der Faszination dieser neuen „Bewegung“ erlag. Der Vater blieb trotz seines Abscheus im Amt und rechtfertigte das, wie so viele, mit der Zuversicht, er könne in seiner Position „Schlimmeres verhüten“. Daß er wenig ausrichten konnte, daß er, im Gegenteil, den Nazis als Feigenblatt gedient hatte, hat er später mit Entsetzen gesehen. – Der Sohn Carl Friedrich schrieb im Rückblick, er selber habe „das Faktum des Nationalsozialismus nicht bewältigt, sondern überlebt.“

Weizsäcker, bei Kriegsende 33-jährig, versuchte, die Situation für sich zu bewältigen, indem er eine Reihe von Sonetten schrieb, eine damals offenbar beliebte Form. Fast vierzig Jahre später hat er einige davon veröffentlicht, eines davon lautet:Footnote 24

Schuld

O bricht denn niemals der Dämonen Kraft?

Sieht niemand denn: die Schuld ist in uns allen?

Wo Unrecht fiel, seh’ ich sich Unrecht ballen,

und Schuldige von Schuldigen bestraft.

Wer Schuld geduldet, ist in ihrer Haft.

Wer Schuld mit Schuld vergilt, ist ihr verfallen.

O wollen wir, der Finsternis Vasallen,

den Himmel nicht, den nur die Liebe schafft?

Ich ließ mit sehendem Aug’ in dunklen Jahren

schweigend geschehn Verbrechen um Verbrechen.

Furchtbare Klugheit, die mir riet Geduld!

Der Zukunft durft’ ich meine Kraft bewahren,

allein um welchen Preis! Das Herz will brechen.

O Zwang, Verstrickung, Säumnis! Schuld, o Schuld!

(In einem ersten Entwurf lautete die viertletzte Zeile, noch persönlicher:

hielt Furcht für Vorsicht, Schwäche für Geduld)

1957 wurde er politisch aktiv. Franz-Josef Strauß strebte eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr an, Adenauer verteidigte diesen Plan als bloße Fortentwicklung der Artillerie. Daraufhin veröffentlichte eine Gruppe, der praktisch alle bekannten Kernphysiker Deutschlands angehörten, einen Aufruf – die „Göttinger Erklärung“ –, in dem es u.a. hieß: „Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“Footnote 25 Die Erklärung war von Weizsäcker maßgeblich initiiert und formuliert. Der letzte zitierte Satz erwies sich als Kern der Erklärung: Die entschiedene Absage aller bekannten Fachleute der Kernphysik an irgendeine Beteiligung an dem Programm.

Weizsäcker betätigte sich weiter politisch im Sinne der Verantwortung, die er für sich empfand als Mit-Verursacher der technischen Möglichkeit, die Menschheit mit einem Schlag auszurotten. Das führte zunächst zur Gründung einer Arbeitsgruppe in Hamburg, die unter Horst Afheldt das Thema „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ untersuchte, später auch das Problem der „Unterentwickelten Länder“, das zum Ende der 60er Jahre ins allgemeine Bewußtsein trat. Im Anschluß an diese Arbeiten wurde 1970 das „Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ (in Starnberg) gegründet, mit einem wesentlich erweiterten Forschungsprogramm. Weizsäcker schrieb zu der Gründung im Rückblick: „Für mich war der Anlaß die Gefährdung der Menschheit durch die Atombombe. Nur weil mich dieses Problem nicht in Ruhe ließ, habe ich eine mich voll befriedigende und ausfüllende Professur für Philosophie aufgegeben, um dieses »Institut für unangenehme Fragestellungen« zu gründen.“Footnote 26 – 1971 wurde das Institut auf die doppelte Größe erweitert durch das Hinzukommen von Jürgen Habermas, der zu den vorhandenen Wissenschaftlern um Weizsäcker, die überwiegend naturwissenschaftlich orientiert waren, soziologischen Sachverstand einbringen sollte.

Weizsäcker hatte das Institut geplant als einen Ort interdisziplinärer Zusammenarbeit, gegliedert in Gruppen mit jeweils einer praktischen Aufgabe, um eine Kerngruppe herum, die sich mit grundlegenderen Aspekten der behandelten Fragen befassen sollte. Die erste Zeit nach der Gründung war ausgefüllt von heroischen Anstrengungen, gemeinsam und interdisziplinär ein entsprechendes Programm auszuarbeiten. Stark geprägt war diese Phase von dem Einfluß der „68er“-Bewegung: Die Mitarbeiter wollten die großen Probleme der Welt lösen mit einer ganz neuen Form von Wissenschaft, in der alle gemeinsam gleichberechtigt über alles entscheiden sollten. Weizsäcker hat das wohlwollend-interessiert begleitet und alle Experimente gegenüber der Max-Planck-Gesellschaft gedeckt – in der Rolle eines aufgeklärten Monarchen, der sich seiner unanfechtbaren Stellung ohnehin gewiß ist. Er selbst schrieb, diskutierte mit allen Mitarbeitern und lernte von ihnen (wie sie von ihm). Ein solches Institut zu „führen“ hätte ihm ohnehin nicht gelegen. Den ursprünglichen „interdisziplinären“ Plan auszuführen, gelang nur sehr ansatzweise; er war eigentlich undurchführbar. Die praktisch unbegrenzten Arbeitsmöglichkeiten im Institut führten alle Beteiligten in einer persönlichen Krise zu der Einsicht, daß es nicht nur die äußeren Bedingungen waren, die bis dahin bei jedem den genialen großen Wurf verhindert hatten. Betrachtet man die Sache aber einigermaßen nüchtern, sieht man doch große Erfolge der Arbeit, die dort unter Weizsäcker stattfand. Es waren gute Leute, in einer Weise zusammengespannt, die anstrengend aber fruchtbar war.Footnote 27

Für Weizsäcker war es eine produktive Zeit. Die Arbeit an den Grundlagenfragen der Physik bezeichnete er als eine Überlebensbedingung für sich selber in diesem Institut. Außerdem arbeitete er an Fragen der Strategie und Außenpolitik, zusammen mit Horst Afheldt: Es erschien eine Reihe von Studien aus dem Institut, u.a. 1976 ein Buch-Tripel von Weizsäcker („Wege in der Gefahr“), Afheldt und den beiden Militärs Guy Brossollet und Emil Spannocchi zu alternativen Verteidigungskonzepten. – Der rote Faden durch alle Überlegungen auf diesem Feld war die Einsicht in die Notwendigkeit, auch die Ängste und Schwächen der anderen Seite – des „Ostblocks“ – wahrzunehmen und zu berücksichtigen.

Trotz dieser produktiven Arbeit an den Strategiefragen – Weizsäcker nannte sie später die hauptsächliche Frucht des Instituts – geriet er in immer größere Verzweifelung angesichts des offenbaren Desinteresses der Öffentlichkeit an dieser Überlebensfrage. Titel wie „Deutlichkeit“ (1978), „Die Zeit drängt“ (1986), „Das Ende der Geduld“ (1987), „Bewußtseinswandel“ (1988) zeugen davon. Er ließ „für sich und seine Familie“ in seinem Garten in Starnberg einen atombombensicheren Bunker bauen. Vielleicht wollte er damit öffentlich machen, als wie konkret er die Gefahr empfand. Schließlich propagierte er mit aller Intensität, deren er fähig war, ein „Friedenkonzil“. Ich habe das damals wie den Griff des Ertrinkenden nach dem Strohhalm empfunden. – Eine entsprechende Versammlung der christlichen Kirchen fand tatsächlich statt. Sie hieß dann nicht Konzil, mit Rücksicht auf die Tradition der kirchlichen Konzilien, sondern „Weltversammlung der Christen“, „Convocation“, und nahm sich nicht nur den Frieden vor, sondern zugleich „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ – was die Wirkungslosigkeit schon vorprogrammierte. Aber das war schon kurz vor der Wende, und danach sah die Strategie der Großmächte ohnehin anders aus.

Die Gruppe um Habermas arbeitete in diesem Institut relativ getrennt von der Weizsäckerschen Gruppe. Es gab Verbindungen, auch Freundschaften zwischen einzelnen Mitarbeitern, aber von den Themen her wenig Zusammenhang. Pointiert könnte man das an den konträren Erwartungen zeigen: Weizsäcker hatte sich zu dem Institut überreden lassen, weil er sich verpflichtet fühlte, seine wissenschaftlichen Möglichkeiten in den praktischen Dienst des Versuchs zu stellen, die großen politischen Problem – allen voran das des drohenden Atomkriegs – zu lösen. Habermas und seine Mitarbeiter wollten, gerade im Gegenteil, sich von der Frankfurter Universität mit ihren frustrierenden politischen Aktionen im Gefolge der „68er“ zurückziehen, um in der Ruhe des fernen Starnberg endlich einmal „ihre theoretischen Defizite auszugleichen“. Den intensivsten Arbeitskontakt hatten dann, wie es schien, die beiden Direktoren untereinander. Es gab im Institut regelmäßig philosophische Kolloquien, die gerade durch den völlig verschiedenen philosophischen Hintergrund von Weizsäcker und Habermas faszinierten, etwa wenn sie über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Wahrheitsbegriffe debattierten.

Neben der so frustrierenden politischen Arbeit dachte und schrieb Weizsäcker in der Institutszeit, und verstärkt nach seiner Emeritierung 1980, über philosophische Fragen. Mit der Unbefangenheit des Naturwissenschaftlers ging er die großen philosophischen Fragen direkt an: Die Rolle der Zeit, Fragen von Objekt und Subjekt, Stichworte wie Macht, Tod, Schönheit. Die Ausführung war oft nur skizzenhaft, anscheinend weit Entferntes miteinander verbindend: Etwa die philosophische Tradition mit der modernen Naturwissenschaft bei Titeln wie „Parmenides und die Graugans“, „Parmenides und die Quantentheorie“, „Möglichkeit und Bewegung bei Aristoteles“, „Kants erste Analogie der Erfahrung und die Erhaltungssätze der Physik“; oder Logik mit Biologie verbindend in dem schon erwähnten besonders anregenden Text „Biologische Präliminarien zur Logik“: Weit entfernt von einer naiven Psychologisierung der Logik zeigt er hier eine Möglichkeit, wie tatsächlich Logik in biologisch beschreibbaren Grundstrukturen menschlichen Daseins wurzeln könnte. – Der Blick auf das Ganze, der Brückenschlag zwischen den beiden „Kulturen“ der Geistes- und Naturwissenschaften, das Verständnis gerade auch für die Sicht der „anderen Seite“, das war seine ureigene Stärke. Das schlug auch durch in der Politik, in Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern ebenso wie im Alltag des Max-Planck-Instituts. Innerhalb des Instituts war er nicht nur mit Abstand der Älteste, sondern auch politisch am „rechten“ Rand des Spektrums; zur gleichen Zeit wurde er aber im Senat der Max-Planck-Gesellschaft als Sprecher dieser „schrecklichen 68er“ angesehen, innerhalb des Senats war er sicher der Links-außen.

Immer wieder tauchen in Weizsäckers Vorträgen und Schriften Hinweise auf seine tiefe Religiosität auf. Sie bezieht sich nicht so sehr auf die Zugehörigkeit zum christlichen, lutherischen Bekenntnis, dem er durch Geburt angehörte. Die nahm er als selbstverständlich, äußerte sich auch gelegentlich zu theologischen Fragen, machte Politik mit seiner Kirchenzugehörigkeit und betonte oft die Kontingenz dieser Zugehörigkeit durch Geburt. Sein religiöses Gefühl bezog sich einerseits auf die wunderbare Welt, auf die seine Naturwissenschaft ihm Blicke gestattete – darin bewußt Kepler folgend –, andererseits zunehmend auf fernöstliche Weisheit und Mystik, welche ihm ein Gegengewicht gegen die westliche Verstandes- und Machtkultur zu bieten schien. Das Motiv der in Europa modisch gewordenen Hinwendung zur östlichen Weisheit nannte er „Stillung eines plötzlich entdeckten spirituellen Durstes.“Footnote 28 Diesem Strang in seinem Leben, der die Gelehrtentätigkeit begleitete, maß er selber große Bedeutung bei. Er erwähnt ihn in seinen Texten immer wieder. Das blieb aber notgedrungen ein Hinweis auf ein Defizit. Akademische Texte gehören naturgemäß zur westlichen Verstandeskultur.

1992 erschien sein dickes Buch „Zeit und Wissen“. Es hatte eine systematisch dargestellte Summe seiner Erkenntnisse werden sollen. Aber es ist wohl richtiger, dass auch dieses Buch wieder ein Garten geworden ist: Viele Texte aus verschiedenen Entstehungszeiten, zwischendurch zusammengefaßt und erläutert durch eigens geschriebene Zusätze. Der Kreisgang, der philosophische Schlüssel Weizsäckers, erlaubt keine systematische, d.h. wohl hierarchische Gliederung. Aber es ist eine Lust, in diesem literarischen Garten zu wandeln.

Als Kind hatte er gemeint, man müßte Gott im Leuchten der Sterne erkennen können, auch wenn man weiß, daß die Sterne glühende Gaskugeln sind. Keplers Religiosität war ihm zeit seines Lebens ein Vorbild. Schließlich erkannte er, daß die Machtförmigkeit der Naturwissenschaft nur überwunden werden kann, indem man diese Naturwissenschaft „zu Ende denkt“. Heisenbergs Forderung an den Abiturienten, wenn er im 20. Jahrhundert philosophieren wolle, müsse er erst Physik machen, hat Weizsäcker voll erfüllt: Er stand an der Spitze der physikalischen Forschung. Von daher kann er mit Autorität seine Forderung stellen, wie die geistige Krise des naturwissenschaftlichen Zeitalters zu lösen sei: „Die Forderung ist also, die Naturwissenschaft selbst besser als bisher zu verstehen:“Footnote 29 die Naturwissenschaft so gut zu verstehen, dass man auch die Bedingungen ihrer Wahrheit sehen lernt, die Vorurteile erkennt, die man hegen müßte, um an ihre Wahrheit unbedingt zu glauben. Dazu gehörte für ihn, dass er die Verantwortung, die aus der Machtförmigkeit seiner Wissenschaft floß, mit allen Kräften wahrnahm. Da hatten die Studenten 1957 mit ihrem Fackelzug ein ganz richtiges Gefühl.

Und die „klassische“ Philosophie? – Er sagt mit gebührendem Selbstbewußtsein: „Ich weiß, wie weit ich noch hinter gründlicher Kenntnis und adäquatem Verständnis Kants und Platons zurückbleibe, aber ich denke mir, wenn ich ihnen auf den Wiesen des Hades begegnete, würden sie mich eines Gespräches würdigen.“Footnote 30

7 Anmerkung der Herausgeber

Was eine Carl Friedrich von Weizsäcker Bibliographie betrifft, so sei zunächst auf den von Georg Süßmann (auf der Grundlage von Vorarbeiten Roland Skottkes) erstellten bibliographischen Anhang in der Festschrift zum 60. Geburtstag verwiesen: Erhard Scheibe und Georg Süßmann (Hrsg.): „Einheit und Vielheit. Festschrift für C. F. v. Weizsäcker zum 60. Geburtstag“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, S. 292–304.

Schon vorher war anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker am 13. Oktober 1963 eine „Bibliographie C. F. von Weizsäcker“ im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, 19. Jahrgang Nr. 68 vom 23. August 1963, S. 1579–1585, erschienen, die von Ursula Hasler erarbeitet wurde.

Für den 1989 im Akademie-Verlag Berlin von Peter Ackermann, Wolfgang Eisenberg, Helge Herwig und Karlheinz Kannegießer herausgegebenen Band: „Erfahrung des Denkens − Wahrnehmung des Ganzen. Carl Friedrich von Weizsäcker als Physiker und Philosoph“ stellte Peter Ackermann eine chronologisch geordnete umfangreiche „Bibliographie der Schriften Carl Friedrich von Weizsäcker“ (a.a.O., S. 211–246) zusammen.

Aus Anlaß des 65. Geburtstages am 28. Juni 1977 erstellte die Starnberger Bibliothek des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt auf 41 Seiten ein Schriftenverzeichnis, dessen bibliographische Ermittlung der Titel und Sammlung der Literatur Margarethe Grabrucker-Breit besorgte, wobei Titelaufnahme und Anlage des Verzeichnisses bei Werner Meiss lag.

Im Auftrag des Vorstandes von „Wissen und Verantwortung. Verein zur Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftung e. V.“ eruierte Maren Dißmann vom Berliner Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft aus Anlaß des 87. Geburtstages von Carl Friedrich von Weizsäcker am 28. Juni 1999 auf 35 Seiten ein „Schriftenverzeichnis Carl Friedrich von Weizsäcker 1978–1998“.

Die beiden letztgenannten Schriftenverzeichnisse führte der Verlag Karsten Worm − Infosoftware zusammen, der eine Ausgabe der Werke Carl Friedrich von Weizsäckers auf CD-ROM unter dem Titel „Weizsäcker im Kontext“ plant. Dieses Gesamtverzeichnis liegt der Bibliographie zu Grunde, die am Ende des vorliegenden Heftes abgedruckt wird. Es wurde allerdings für den Abdruck in dieser Zeitschrift vollständig überarbeitet und auch erweitert: Die aufgenommenen Titel wurden bibliographisch überprüft, aktualisiert und ergänzt; insbesondere sind Kurzreferate von Weizsäckers im „Zentralblatt für Mathematik und ihre Grenzgebiete“ in großer Zahl mit aufgenommen worden. Dagegen wurden Hinweise auf Vortragsveröffentlichungen auf das notwendige Minimum gekürzt. Bei Büchern mit mehreren Auflagen wurden nur die erste und die letzte Auflage genannt. Die Herausgeber danken Michael Anacker und Tobias Schöttler für die diesbezüglichen, umfangreichen Arbeiten.

Ferner möchten wir auf Michael Drieschners Buch: Carl Friedrich von Weizsäcker zur Einführung. Hamburg: Junius 1992 sowie seine Darstellung: Carl Friedrich von Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen und Zeit und Wissen, in: Franco Volpi (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 2., Stuttgart: Kröner 1999, S. 1570–1572 verweisen.