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Dies ist mein Leben – Interview mit einer „politischen Frau“

WELT-Interview mit einer „politischen Frau“ in der Ausgabe vom 2. April 1946. Heute führt mit Ursula von der Leyen (CDU) eine Frau die EU-Kommission WELT-Interview mit einer „politischen Frau“ in der Ausgabe vom 2. April 1946. Heute führt mit Ursula von der Leyen (CDU) eine Frau die EU-Kommission
WELT-Interview mit einer „politischen Frau“ in der Ausgabe vom 2. April 1946. Heute führt in Ursula von der Leyen (CDU) eine Frau die EU-Kommission
Quelle: PA/dpa; WELT
Mehrmals war Ursula von der Leyen (CDU) „die Erste“: Erst an der Spitze des Verteidigungsministeriums, jetzt als Präsidentin der EU-Kommission. Sie weiß, wie Führungsfrauen diskreditiert werden. Und sagt, warum Europa in der Krise trotz der Impfprobleme stolz sein dürfe.

Die politische Frau, die in der ersten WELT zu Wort kam, war eine „einfache“ Frau. Sie erzählt vom Nationalsozialismus, wie sie von einer Parteigängerin zur Insassin eines Konzentrationslagers wurde. Es geht um „die Darstellung der heutigen menschlichen Wirklichkeit“, so steht es über dem Artikel.

Die Wirklichkeit der Nachkriegszeit hat der CDU-Politiker Ernst Albrecht mitgestaltet, auf europäischer Ebene und auf deutscher. Seine Tochter steht heute an der Spitze der EU-Kommission: Ursula von der Leyen. Und so ist die Geschichte der „politischen Frau“ in der WELT von 2021 eine gänzlich andere als vor 75 Jahren. Eine emanzipatorisch selbstbestimmte.

WELT: Als WELT im Jahr 1946 zum ersten Mal erschien, war Deutschland ein schuldbeladenes Land in Trümmern. Ist bei Ihnen zu Hause über diese Zeit gesprochen worden oder war sie ein Tabu wie damals in vielen deutschen Familien, Frau von der Leyen?

Blättern Sie hier durch alle Seiten der Erstausgabe der WELT vom 2. April 1946

Ursula von der Leyen: Mein Vater war Gott sei Dank einer der Väter, die viel gesprochen und viel erzählt haben. In den letzten zwei Kriegsjahren, als 14-, 15-Jähriger, hat er meinen Großvater – er war Arzt in Bremen – bei seiner Arbeit begleitet. Dort hat er unendlich viel Schauriges gesehen und nach den Bombenangriffen zerfetzte Menschen aus den Kellern geholt. Das hat ihn geprägt.

Was ihn wohl ebenso sehr geprägt hat, ist sein Auslandsjahr in den USA. 1947 hat er ein Stipendium an der Cornell University erhalten. Als er danach nach Deutschland zurückgekehrt ist, war seine tiefe Überzeugung: Es liegt an uns, für Frieden zu sorgen. Und es liegt auch an uns, dass wir wieder Freunde haben und wieder aufgenommen werden in den Kreis der demokratischen Völker. Das war für ihn der europäische Gedanke.

Der frühere niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (1930-2014) und seine Tochter Ursula von der Leyen im Juni 2010
Der frühere niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (1930-2014) und seine Tochter Ursula von der Leyen im Juni 2010
Quelle: pa/dpa/Jochen Lübke

WELT: Ihr Vater hat politische Karriere gemacht, war 14 Jahre lang Ministerpräsident von Niedersachsen. Ihre Mutter war, wie es so schön heißt, die Frau an seiner Seite, die ihm den Rücken freigehalten hat.

von der Leyen: Was ich erinnere, ist, dass sich seinerzeit auch die Ehefrauen bei den Ministerpräsidentenkonferenzen trafen. Und damals gab es noch ein ausgeprägtes Damenprogramm. Meine Mutter wusste um die ihr zugeschriebene Rolle.

WELT: Zur Rollenverteilung in ihrer Ehe hat Ihre Mutter einmal gesagt: „Erstens wollen wir beide immer nur das Beste bringen, ich in der Familie genauso wie er in seiner Regierung. Und deshalb treffen sich abends immer zwei ausgefüllte Menschen.“ Wie wirkt dieser Satz heute auf Sie?

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von der Leyen: Meine Mutter war Journalistin, bevor das erste Kind geboren wurde. Dann kamen nach und nach sieben Kinder. Sie war eine leidenschaftliche Mutter, aber sie hat auch immer mit Sehnsucht von ihrer Zeit als Journalistin gesprochen.

Später, als ich mein erstes Kind bekam und in meinem Beruf als Ärztin weitergearbeitet habe, habe ich bei ihr die Wehmut gesehen, dass das für sie nicht möglich gewesen ist, beides zu sein: Mutter und Journalistin.

WELT: Hat diese Wehmut Ihrer Mutter dazu beigetragen, dass Sie sich entschieden haben, beides zu wollen, eine große Familie und eine eigene Karriere?

von der Leyen: Meine Mutter hat mir oft erzählt, dass ihr von klein auf klargemacht wurde: Egal welche Ausbildung du machst, so wie du heiratest, kümmerst du dich ausschließlich um deine Familie. Mein Großvater ist sehr früh gestorben, die prägende Figur war meine Großmutter.

„Am besten wirst du Volksschullehrerin“, hat sie meiner Mutter mit auf den Weg gegeben. Meine Mutter hat sich trotzdem entschieden, Germanistik und Philosophie zu studieren, und dann noch promoviert.

Gesangsauftritt der Familie Ernst Albrechts in der NDR-Sendung „Aktuelle Schaubude“ im Februar 1976: Heidi Albrecht (2. v. l.) mit der 17-jährigen Tochter Ursula und ihren Söhnen
Gesangsauftritt der Familie Ernst Albrechts in der NDR-Sendung „Aktuelle Schaubude“ im Februar 1976: Heidi Albrecht (2. v. l.) mit der 17-jährigen Tochter Ursula und ihren Söhnen
Quelle: pa/dpa


WELT: In der Psychotherapie gibt es die Idee der Delegation, also dass Eltern ihren Kindern unausgesprochen einen Auftrag mit auf den Weg geben. Wenn Sie von Ihrer Mutter sprechen, klingt das, als hätten Sie genau das schaffen wollen, was Ihre Mutter nicht konnte.

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von der Leyen: Das mag durchaus sein. Also die Leidenschaft meiner Mutter für ihre Familie und den Schmerz, die Journalistin nicht ausleben zu können, das habe ich gespürt. Aber auch mein Vater hat uns immer signalisiert, ihr müsst euer Leben anders gestalten, weil es eine andere Zeit ist. Und obwohl die Zeiten sich schon geändert hatten, gab es immer noch die Ambivalenz gegenüber Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren wollten.

Dieses schlechte Gewissen, das Frauen aufgezwungen wurde und dem auch ich mich als junge Mutter und Ärztin nicht entziehen konnte. Die Sorge, nicht zu genügen, in meiner Familie und in meinem Beruf. Das habe ich erst ablegen können, als wir mit unseren ersten drei Kindern in die USA nach Stanford gezogen sind.

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WELT: Was ist dort passiert?

von der Leyen: Dort habe ich gemerkt, wie befreit das Leben ist, wenn für ganz selbstverständlich genommen wird, dass beide, Mann und Frau, erwerbstätig sind und sich beide, Mann und Frau, um die Kinder kümmern. Schon weil es in den USA genügend Einkommen braucht, um den Kindern später die hohen Gebühren für amerikanische Schulen und Hochschulen zahlen zu können. Statt eines schlechten Gewissens gab es für uns Unterstützung: „You have three children, you’re both medical doctors, great, how can we help you?“

Wie sehr mir und uns als Familie diese gesellschaftliche Haltung Luft unter den Flügeln gegeben hat, das habe ich nie vergessen und mit nach Hause genommen, nach Deutschland. Und so habe ich dann auch als Familienministerin Politik gestaltet, indem ich zum Beispiel das Elterngeld eingeführt habe.

WELT: In Deutschland sind Sie von der Medizin in die Politik gewechselt. Seitdem Angela Merkel (CDU) Kanzlerin ist, haben Sie an ihrem Kabinettstisch gesessen, zuletzt als Verteidigungsministerin. Wie traumatisch war es für eine männergeprägte Militärwelt, eine Frau zur obersten Befehlshaberin zu haben?

von der Leyen: Also die ganz, ganz große Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten hat das ganz unkompliziert aufgenommen. Mein Adjutant zum Beispiel ist ganz praktisch an die Sache rangegangen und hat als erstes die Handtaschenfrage geklärt. Meine Handtaschen durften eine bestimmte Größe nicht überschreiten, damit sie immer in seinen olivgrünen Rucksack passten.

Aber natürlich gab es auch einige wenige, die sich mit der neuen Realität schwergetan haben. Die haben mich auch nach mehr als fünf Jahren noch als „Frau Minister“ angesprochen. Obwohl ich jedes Mal gesagt habe, Frau Ministerin bitte, meine Herren, so viel Zeit muss sein.

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WELT: In Deutschland waren Sie die erste Frau an der Spitze des Verteidigungsministeriums, jetzt sind Sie die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission. Dass das Frausein so hervorgehoben wird, nervt das manchmal?

von der Leyen: Nein, im Gegenteil. Wenn ich zurückdenke, dann hat sich über meine Lebensstrecke für Frauen viel verändert. Als ich geboren wurde, durften Frauen kein eigenes Konto haben und der Ehemann konnte die Arbeitsstelle seiner Frau kündigen, ohne ihr Einverständnis dafür zu brauchen. Als ich Teenager war, war es im DFB noch verboten, dass Frauen Fußball spielen. Und als ich Abi gemacht habe, wurde erst das Schuldprinzip in der Scheidung abgeschafft.

Wir sind weit gekommen, aber es gibt noch viel zu tun. Und solang es immer noch Frauen gibt, die „die ersten“ sind, ist es wichtig, das auch zu benennen. Damit die Erste eine von vielen werden kann. Und deshalb haben wir auch in der Europäischen Kommission ein Kabinett, in dem genau so viele Männer wie Frauen sind. Dafür habe ich hart kämpfen müssen, weil einige Staats- und Regierungschefs keine Frauen als Kommissare schicken wollten.

WELT: Auch wenn die EU erst jetzt eine Frau an der Spitze hat, so gab es in der Nachkriegszeit Frauen, die in der internationalen Politik eine gewichtige Rolle gespielt haben. Golda Meir in Israel, Indira Gandhi in Indien oder Margaret Thatcher in Großbritannien. Gerade Thatcher hat als Premierministerin so geführt, wie es sich heute nur wenige trauen: Sie hat sich für das Notwendige entschieden, auch wenn es nicht populär war. Viele haben sie deshalb kaltherzig genannt.

von der Leyen: Es ist verquer, dass ausgerechnet Maggie Thatcher als kaltherzig beschrieben wurde. Sie folgte ihrem Kompass, was man einem Mann nie vorgeworfen hätte. Und sie war eine leidenschaftliche Vorkämpferin auch für die Rechte der Frauen. Eine Frau als kaltherzig zu beschreiben, ist übrigens eines der klassischen Mittel, um sie zu diskreditieren. Denn man erwartet von Frauen Wärme. Und alleine das spricht schon Bände.

Die „Eiserne Lady“: Margaret Thatcher (1925-2013) regierte Großbritannien von 1979 bis 1990
Die „Eiserne Lady“: Margaret Thatcher (1925-2013) regierte Großbritannien von 1979 bis 1990
Quelle: pa/empics/Tony Harris

WELT: Wenn „kaltherzig“ als Zuschreibung eine Variante ist, um eine Frau zu diskreditieren, ist „Mutti“ dann eine andere Variante?

von der Leyen: Es kommt darauf an, wer es benutzt. Ich habe „Mutti“ nie als despektierlich empfunden, sondern als etwas Liebevolles. In die Kategorie Diskreditierung von Frauen fällt eher die Zuschreibung „ehrgeizig“. Bei Männern würde man sagen: durchsetzungsstark, dominant oder entschlossen. Bei Frauen dominiert die negative Konnotation.

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WELT: Wie oft ist über Sie gesagt worden, Sie seien ehrgeizig?

von der Leyen: Ich weiß nicht, was häufiger war: ehrgeizig oder die Frage, wie schafft sie das überhaupt mit den vielen Kindern? Eine Frage, die suggerieren soll, dass irgendetwas zu kurz kommt, und die man einem männlichen Politiker mit vielen Kindern nie stellen würde.

WELT: Noch zu schaffen ist die Bewältigung der Corona-Krise. Eine Studie hat gezeigt, dass in der ersten Welle Länder mit einer Frau an der Regierungsspitze besser durch die Pandemie gekommen sind.

von der Leyen: Das ist mir zu holzschnittartig, die Pandemiebekämpfung auf die Geschlechterfrage zu reduzieren. Aber wenn wir den Blick auf unser Europa der 27 lenken, dann will ich zwei Punkte herausstellen.

Erstens: Ja, wir haben mit dem Impfen vier Wochen später angefangen als die Briten. Aber inzwischen haben wir aufgeholt und teilweise überholt. Wenn Sie sich die absoluten Zahlen der Impfungen anschauen, dann ist Europa zwar hinter den USA und China, aber vor Indien, vor Russland, vor Großbritannien. Also in dieser etwas kürzeren Zeit im ersten Quartal haben wir viel geleistet. Wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen. Aber da ist jetzt Zug drin, weil sich im zweiten Quartal die Zahl der verfügbaren Dosen verdreifacht.

Und es gibt einen zweiten Punkt, auf den wir stolz sind in Europa. Wir sind von allen demokratisch verfassten Regionen weltweit die einzige, die nicht nur für sich selbst produziert, sondern Dutzende Staaten beliefert, die ja alle ebenso gegen das Virus kämpfen – darunter viele ärmere Länder. Das sollte in der Impfgeschichte auch erzählt werden.

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WELT: Das ist jetzt Ihre Erzählung. Aber zur Impfgeschichte gehört auch, dass die vermeintliche Stärke Europas – 27 Staaten erreichen gemeinsam mehr als jeder Staat einzeln – sich bei der Impfstoffbeschaffung nicht bewahrheitet hat. Vielmehr standen sich 27 Staaten gegenseitig im Weg.

von der Leyen: Wenn wir nicht europäisch gemeinsam vorgegangen wären, auch um den Preis, anfangs etwas langsamer gewesen zu sein als andere, wo würden wir dann heute stehen? Vielleicht vier, fünf Mitgliedsländer hätten Impfstoffe und alle anderen nicht. Ich mag mir nicht vorstellen, was das für eine zerstörerische Kraft im gerade für die deutsche Wirtschaft so wichtigen Binnenmarkt gehabt hätte und für den Zusammenhalt unserer Union.

Und: Wir als Europäer haben mit unseren Investitionen – ein Vertragsvolumen von 36 Milliarden Euro – dafür gesorgt, dass große Impfstoffkapazitäten überhaupt aufgebaut werden konnten. Auf dieser europäischen Produktion fußt übrigens ein großer Teil der britischen Impfstrategie ebenso wie der Erfolg Israels.

Mehr Lieferungen von Corona-Impfstoffen geplant

In den nächsten drei Monaten soll gut dreimal so viel Impfstoff kommen wie seit Jahresbeginn. Das verkündete EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen auf dem EU-Gipfel. Außerdem soll der Export von in der EU hergestellten Corona-Impfstoffen stärker kontrolliert werden.

Quelle: WELT

WELT: Sie haben Großbritannien erwähnt. Deshalb noch mal zur vermeintlichen Stärke der EU: Haben nicht Länder wie die USA, Großbritannien und Israel mit einer klar nationalen Strategie gezeigt, dass in der Krise der Nationalstaat handlungsfähiger ist als eine Staatengemeinschaft?

von der Leyen: Ich glaube, nur auf wichtige, schnelle Effekte zu schauen, ist zu kurzsichtig. Diese Pandemie wird uns noch lange beschäftigen. Um immer neue Mutationen zu verhindern und die Wirtschaft in Gang zu bringen, ist es entscheidend, dafür zu sorgen, dass auch unsere Nachbarn Zugang zu Impfstoffen haben.

WELT: Ihr Stellvertreter Frans Timmermans hat öffentlich Fehler bei der Impfstoffbestellung eingeräumt. Sie sehen das offenbar anders?

von der Leyen: Ich nehme die Kritik an unserem Vorgehen und auch an meiner Person an. Sie ist für mich ein enormer Ansporn, nicht lockerzulassen, auch gegenüber den Pharmafirmen. Biontech/Pfizer und Moderna liefern zuverlässig und berechenbar.

Mit AstraZeneca allerdings haben wir weiterhin einen intensiven Konflikt. Hätte AstraZeneca im ersten Quartal das geliefert, was im Vertrag steht, hätten wir heute schon doppelt so viel Impfstoff an die Impfzentren ausgeliefert.

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WELT: Werden Sie Konsequenzen daraus ziehen, also einen Exportstopp für AstraZeneca, dessen Verimpfung in Deutschland für Jüngere ausgesetzt wurde, verhängen?

von der Leyen: Die Firma weiß genau, dass sie jetzt alles daransetzen muss, den Lieferrückstand gegenüber der EU aufzuholen. Alle zugelassenen Impfstoffe müssen so sicher sein wie möglich, deswegen ist es gut, dass die Europäische Arzneimittelagentur EMA allen auftauchenden Fragen immer sofort und sehr genau nachgeht.

WELT: Während die EU noch mit der akuten Impfstoffbeschaffung beschäftigt ist, bereiten sich Länder wie Großbritannien bereits auf das kommende Jahr vor, für den Fall, dass Impfungen aufgefrischt werden müssen oder gar neue Impfstoffe gebraucht werden, weil Mutanten auf die jetzigen nicht reagieren. Was tut die EU?

von der Leyen: Im Moment kommt es darauf an, möglichst vielen Menschen den vollen Impfschutz zu ermöglichen. Da liegt Großbritannien etwa gleichauf mit der EU. Aber die Vorsorge ist ganz entscheidend. Sie wissen, dass wir den HERA-Inkubator gegründet haben. Nämlich einen Zusammenschluss, in dem wir mit Pharmafirmen, Wissenschaft und europäischer Medizinagentur genau für diese Szenarien Lösungen vorbereiten.

Wir bauen mit EU-Hilfe Strukturen, mit denen wir sehr schnell auf eine Mutante, die nicht mehr auf die Impfstoffe anspricht, reagieren können. Das Zulassungsverfahren haben wir schon erheblich beschleunigt, jetzt stehen wir in Vertragsverhandlungen mit der Industrie. Ziel ist, die Kapazitäten innerhalb Europas auch für kommende Pandemien zu stärken.

WELT: In Deutschland laufen sich die Parteien für die Bundestagswahl warm. Wir haben viel über Frauen in der ersten Reihe gesprochen. Gibt es Ihnen zu denken, dass die Grünen die Einzigen sein werden, die eine Frau als Kanzlerkandidatin ins Rennen schicken könnten?

von der Leyen: Auch wenn ich die erste Frau an der Spitze der EU bin, halte ich mich an die goldene Regel, die für meine männlichen Vorgänger gegolten hat. Nämlich, dass ich mich als Präsidentin der EU-Kommission nicht in die Parteipolitik der Mitgliedsländer einmische.

WELT: Dann aus EU-Perspektive: Die CDU und CSU haben sich stets als proeuropäische Parteien verstanden. Wie dramatisch wäre es, wenn für die Union in Deutschland als große europäische Institution die Umfrage-Rutschpartie weitergeht, aktuell liegt sie bei 25 Prozent?

von der Leyen: Das Schöne an der Parteienlandschaft in Deutschland ist, dass es ein einigendes Element unter den demokratischen Parteien der Mitte gibt: Das Wissen um die Bedeutung der europäischen Gemeinsamkeit für Deutschlands Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand.

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