Nach ziemlich genau zwei Jahren war die Jagd zu Ende. Am 15. Juni 1972 stand Kriminalhauptkommissar Erwin Schmidt kurz nach 19 Uhr zum ersten Mal der Frau gegenüber, die seit Ende Mai 1970 zu seinen wichtigsten Zielpersonen gehörte: Ulrike Meinhof (1934–1976). Doch der Leiter des Landesfahndungskommandos Niedersachsen erkannte sie an diesem Donnerstagabend trotzdem nicht.
„Die Frau starrte mich an. Sie trug einen schwarzen Pulli, einen schwarzen Mini-Rock, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe. Sie war blass und dürr, völlig ausgemergelt“, schilderte der 33-jährige Beamte seine erste Begegnung mit der Gesuchten.
Schmidt wusste zunächst überhaupt nicht, wen er vor sich hatte. Für ihn war diese Frau eine „verdächtige Person“, die seine Kollegen und er zu überprüfen hatten. Eine reine Routine-Angelegenheit – wie so oft in den vergangenen Wochen. Denn auf den Schreibtischen der lokalen Sonderkommission Baader-Meinhof in Hannover landeten Hunderte von Hinweisen auf Terrorverdächtige, und seit dem Beginn der Anschlagsserie am 11. Mai 1972 noch einmal mehr.
So auch an diesem Nachmittag: „Es war kurz nach 15.30 Uhr, als bei mir wieder einmal das Telefon klingelte. Das Gespräch war kurz. Der Anrufer machte mich auf zwei verdächtige Personen aufmerksam, die in dem Haus Walsroder Straße 11 draußen in Langenhagen unterschlüpfen wollten.“ Schmidt schickte sofort einen Zivil-Streifenwagen zu dem angegebenen Haus, dessen Besatzung in den kommenden fast drei Stunden den Eingang des Sechs-Familien-Hauses beobachteten. Aber nichts tat sich – bis gegen 18.30 Uhr.
Da entdecken die Zivil-Fahnder eine Frau mit einem deutlich jüngeren Begleiter, die von der Endstation der Straßenbahn am Berliner Platz kamen und kurze Zeit später in das etwa hundert Meter entfernt liegende Mietshaus gingen. Sofort alarmierten die beiden ihren Chef. Auch Schmidt bezog erst einmal einen Beobachtungsposten. Etwa 30 Minuten nach seiner Ankunft verließ der unbekannte junge Mann das Haus, um von einer Telefonzelle aus zu telefonieren. Er warf ein Ein-Mark-Stück in den Schlitz des Automaten, als ihn drei Beamte, alle in Zivil, überwältigten. Der Verdächtige hatte eine großkalibrige Pistole im Hosenbund, die er zu ziehen versuchte. Doch die Beamten waren schneller.
Daraufhin ging Schmidt zusammen mit drei weiteren, erfahrenen Beamten in die zweite Etage des Wohnhauses. Sie hatten ihre Dienstwaffen gezogen. Einer klingelte an der Wohnungstür, hinter der sich die verdächtige Frau aufhalten musste. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sich die Tür sofort öffnen würde: „Offenbar dachte die Frau, ihr Begleiter sei aus der Telefonzelle zurückgekommen.“ Sie starrte die vier bewaffneten Polizisten fassungslos an. „Ich habe sie in diesem Moment nicht als Ulrike Meinhof erkannt“, berichtete Schmidt später der Presse: „Sie sah ganz anders aus, als ich sie von Fahndungsfotos her in Erinnerung hatte. Als wir ihr erklärten, dass sie festgenommen sei, tobte sie los: ,Ihr Scheiß-Bullen! Was wollt ihr?’“
Auf dem engen Flur unter dem schrägen Dach der Wohnung kam es zu einem Handgemenge. Die völlig abgemagerte Frau wehrte sich verzweifelt und entwickelte ungeheure Kräfte: „Nur mit Mühe konnten wir ihr die Hände auf den Rücken drehen und sie fesseln.“ Provisorisch, denn weder Schmidt noch seine Kollegen hatten Handschellen dabei.
Um 19.10 Uhr war die meistgesuchte Frau Deutschlands festgenommen. Ermöglicht hatte diesen Erfolg der Grundschullehrer Fritz Rodewald – er hatte der Polizei den Hinweis gegeben. Der überzeugte Linke, in der sozialistisch orientierten Lehrergewerkschaft GEW der Bundesvorsitzende des Arbeitskreises junge Lehrer, hatte schon mehrfach Deserteuren der US-Armee Unterschlupf gewährt, die auf dem Weg nach Schweden waren. In der Sympathisanten-Szene der RAF galt Rodewald als jemand, der keine Fragen stellte.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1972 stand plötzlich eine ihm unbekannte junge Frau vor seiner Wohnungstür und bat ihn, in den kommenden Tagen ein Pärchen bei sich aufzunehmen. Sie würden am folgenden Tag gegen 18 Uhr kommen. Rodewald sagte zu, wenngleich er Zweifel hatte. Denn natürlich wusste er, dass die deutsche Polizei seit Wochen mit Hochdruck nach Terroristen der RAF fahndete und mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Brigitte Mohnhaupt sowie anderen bereits einige der wichtigsten Köpfe der Linksextremisten verhaftet hatte. Von den ganz bekannten Gesichtern der Bande war eigentlich nur noch Ulrike Meinhof auf freiem Fuß.
Nachdem er wegen seiner Zusage Ärger mit seiner Freundin bekommen hatte, entschloss sich Rodewald, die Polizei zu informieren. Ob er anrief (wie Erwin Schmidt berichtete) oder persönlich zum Landeskriminalamt ging (wie er selbst schrieb) ist unklar. Ebenso, ob er der „Quartiermeisterin“ (es handelte sich um die Terroristin Brigitte Kuhlmann, die 1976 bei einer Flugzeugentführung in Entebbe von israelischen Spezialkräfte erschossen wurde) einen Schlüssel gab, ob er ihr erklärte, wie die „Besucher“ die Tür öffnen könnten – oder ob sich Meinhof gewaltsam Zugang verschaffte.
Jedenfalls brachten ihr Begleiter, ein ehemaliger Prostituierter namens Gerhard Müller, der später zum Kronzeugen gegen die RAF werden sollte, und sie ein ganzes Waffenarsenal mit in die Wohnung: zwei selbst gebastelte Handgranaten, eine 4,5 Kilogramm schwere Bombe, mehrere Pistolen und eine Maschinenpistole. Dazu reichlich Munition, falsche Papiere – und einen Kassiber von Gudrun Ensslin.
Da die festgenommene Ulrike Meinhof sich weigerte, ihre Identität zu bestätigen, und ihre Fingerabdrücke bis dahin nie gesichert worden waren, griff die Polizei zu einer ungewöhnlichen Methode: Gegen ihren Willen (und heftigen Widerstand) wurde ihr Kopf geröntgt. Denn aktenkundig war, dass Ulrike Meinhof seit einer Hirnoperation 1962 fünf Metallklammern im Schädel trug. Auf der Aufnahme waren sie deutlich zu erkennen.
1934 geboren in ein bildungsbürgerliches, bald nationalsozialistisches Elternhaus, wurde Ulrike Meinhof 1940 Halb- und neun Jahre später Vollwaise. Die nur 14 Jahre ältere Renate Riemeck wurde ihre wichtigste Bezugsperson – nun eine linke „Friedensaktivistin“, die aber noch 1941 aus Überzeugung der NSDAP beigetreten war.
Unter ihrem Einfluss politisierte sich Ulrike Meinhof. Ihr Studium wollte sie mit einer Dissertation beenden, die sie aber Ende 1960 abbrach. Da war sie bereits seit zwei Jahren Mitglied der illegalen westdeutschen KPD, einer Untergrundorganisation der SED, und schrieb in linken Blättern. Zum Karrieresprungbrett wurde die Zeitschrift „Konkret“, die Klaus Rainer Röhl in Hamburg herausgab – mit Mitteln der SED und der Stasi. Schnell stieg sie zur Chefredakteurin auf, wurde später Kolumnistin. Als Ehepaar lebten Röhl und Meinhof mit ihren Zwillingstöchtern ein Luxusleben in Hamburg-Blankenese.
Doch sie radikalisierte sich immer mehr. 1968 lernte sie den Kaufhaus-Brandstifter Andreas Baader kennen, einen charismatischen Kleinkriminellen, der sie fortan faszinierte. Am 14. Mai 1970 spielte sie eine entscheidende Rolle bei seiner Befreiung aus der Haft – ein Unbeteiligter wurde lebensgefährlich verletzt. Ulrike Meinhof tauchte ab in die Illegalität. Ziemlich genau zwei Jahre und einen Monat war sie die meistgesuchte Frau Deutschlands, bis sie in Langenhagen bei Hannover endlich der Polizei ins Netz ging.
Um Fritz Rodewald übrigens wurde es nach Meinhofs Festnahme sehr einsam: Seine linken Freunde schmähten ihn unter anderem als „Büttel des Polizeistaats“; Konservative sahen in dem Lehrer weiterhin einen RAF-Sympathisanten. Noch 2006, 34 Jahre nach Meinhofs Festnahme, lehnte ihn ein dem französischen Spiel Boule gewidmeter Club als Mitglied ab – weil er ein „Verräter“ sei. Fritz Rodewald starb 2009 im Alter von 70 Jahren.
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