Der „neue Harrich“ kn�pft sich die Themen Korruption und Rohstoffhandel vor: Im Politthriller „Am Abgrund“ (SWR, WDR, BR, SR / Diwafilm), dem fiktionalen Kernst�ck des ARD-Thementags „#unsereErde“, legen sich eine junge Bloggerin aus Baku und ein deutscher Politiker mit dem aserbaidschanischen Regime und seinen geschmierten Kumpanen im Europarat an. Daniel Harrich (Drehbuch, Regie) liefert wieder relevanten und aktuellen Diskussionsstoff, diesmal zur Energiewende und dem enorm wachsenden Bedarf an kritischen Rohstoffen. Der prominent besetzte Politthriller sorgt f�r solide Spannung, wobei die Protagonisten im Gut-B�se-Schema recht leicht zu verorten sind. Die lobenswerte Aufkl�rung w�re mit weniger Pathos und mehr Mut zu ambivalenten Figuren noch sehenswerter.
Foto: SWR / diwafilm / SchlichtUm Korruption & Rohstoffhandel geht es im neuen Harrich. Der aserbeidschanische Europaratsabgeordnete Tofik Gasimov (Navid Neghaban), Gerd Meineke (Hans-Jochen Wagner), der vom Europarat zur Wahlbeobachtung in Aserbeidschan eingesetzt wurde, und seine zuk�nftige Stieftochter Leyla Kasparjan (Luna Jordan)
Gerade hat sich Aserbaidschans autokratischer Pr�sident Ilham Alijev mit mehr als 90 Prozent Zustimmung wiederw�hlen lassen, da wirken die Szenen in Daniel Harrichs Film „Am Abgrund“ wie ein aktueller Kommentar. Eine junge Frau gibt in Baku ausgef�llte Wahlzettel der eigentlich schon verstorbenen Gro�eltern ab. Und irgendwo auf dem Flur stehen unbeaufsichtigt ein paar gut gef�llte Wahlurnen herum. Aber au�er den von Hans-Jochen Wagner gespielten Wahlbeobachter Gerd Meineke scheint das niemanden zu st�ren. Seine ebenfalls vom Europarat entsandte Kollegin Kerstin Strauch (Johanna Christine Gehlen) geht lieber shoppen. Und Herbert Pfleiderer (Heiner Lauterbach), der Sprecher der wackeren Abordnung, gratuliert vor den Kameras unger�hrt zu einer „gelungenen demokratischen Wahl nach europ�ischen Standards“. Unschwer zu erkennen, dass das europ�isch-aserbaidschanische Netzwerk wie geschmiert funktioniert.
Meineke ist der Typ aufrechter Politiker, der seinen moralischen Kompass noch nicht verloren hat. Ein roter Teppich beim Empfang, ein goldener Stift, attraktiver Damenbesuch im Hotel – Wagner spielt einen Sozialdemokraten aus dem Ruhrgebiet, dem man gerne abnimmt, dass er sich bei solchen Avancen unwohl f�hlt. Seine Heimatstadt Recklinghausen wird auf ebenso ungew�hnliche wie originelle Weise ins Spiel gebracht – durch eine Karnevalssitzung, was �brigens keineswegs geflunkert ist. Sicherheitshalber sieht man sp�ter im nahen Hintergrund den F�rderturm einer ehemaligen Kohlenzeche, als Meineke mit seiner Partnerin Alina Kasparjan (Jasmin Tabatabai) im Garten sitzt. Und der Recklingh�user Martin Brambach hat ein kurzes Heimspiel, als er bei einem Auftritt bei der Karnevalssitzung �ber die Energie-Wende wettert – eine Tirade, die das Publikum auf die Hintergr�nde des Dramas einstimmt. Auch weitere Nebenrollen sind mit Axel Milberg (als Manager) und Sebastian Bezzel (als Politiker) prominent besetzt. Janina Hartwig wiederum wird nach umfangreichen Eins�tzen in popul�ren Serien wie „Um Himmels Willen“ mal als Journalistin ganz anders besetzt.
Foto: SWR / diwafilm / HarrichGef�hrliche Liaison beim Kampf um Demokratie. Valentina Akhmedova (Alina Levshin), Referentin eines aserbeidschanischen Abgeordneten, und die oppositionelle Bloggerin Leyla Kasparjan (Jordan), m�ssen geheimhalten, dass sie ein Paar sind.
Alina floh mit ihrer Tochter einst aus Aserbaidschan, wo das Haus ihrer Familie dem Rohstoffabbau zum Opfer gefallen und ihr Mann ums Leben gekommen war. Mittlerweile ist Tochter Leyla (Luna Jordan) wieder zur�ck in der Heimat. Mit dem regimekritischen Blog „Die Stimme von Aserbaidschan und das Gewissen von Baku“ hat sie sich einen Namen gemacht. Allerdings wurde Leyla gerade verhaftet, weil sie sich Jennifer Lopez vor einem Auftritt im prachtvollen Nationalstadion von Baku mit einer kritischen Frage in den Weg stellen wollte. Die echte J.Lo ist tats�chlich mal in Aserbaidschan aufgetreten – die �l- und Gas-Millionen der ehemaligen Sowjetrepublik in Vorderasien machen es m�glich. Leylas Mut gef�hrdet auch ihre Partnerin: Valentina Akhmedowa (Alina Levshin) ist die Referentin von Tofik Gasimov (Navid Negahban), der die Delegation des Europarats empf�ngt und in diesem Gremium auch das aserbaidschanische Regime vertritt. Gasimov ist, grob gesagt, der Antiheld aus dem Reich des B�sen. Vielleicht um die Sache nicht allzu plump erscheinen zu lassen, wird ihm am Schluss eine Kehrtwende angedichtet, die aus ziemlich heiterem Himmel kommt. Meineke, der der hochschwangeren Alina etwas unromantisch im B�ro einen Heiratsantrag macht, setzt sich also auch aus privaten Motiven f�r die Einhaltung der Menschenrechte ein. Und tats�chlich wird Leyla aus der Haft entlassen. Gasimov erteilt ihr sogar die Erlaubnis weiter zu bloggen, „aber kein Wort mehr �ber Politik. Mach was �ber Haarpflege“.
Foto: SWR / diwafilm / WieslerUnternehmer Konrad G�nther (Axel Milberg) hat den Eindruck, dass der Abgeordnete Meineke (Hans-Jochen Wagner) sich dem aserbeidschanischen Vertreter Gasimov (Navid Negahban) gegen�ber ungeschickt verh�lt. Etwas starres Gut-B�se-Schema
Die eindringliche Inszenierung von Daniel Harrich l�sst keinen Zweifel an der Gewaltbereitschaft des Regimes, das seine Gegner �berwacht, bedroht und ins Gef�ngnis wirft. Umso zynischer wirkt das Verhalten der Abgeordneten Pfleiderer und Strauch, die sich hofieren lassen und den Auftrag zur Wahlbeobachtung als Lustreise begreifen. Axel Milberg wiederum spielt Konrad G�nther, den Manager eines deutschen Unternehmens, das mit dem staatlichen Energiekonzern aus Aserbaidschan Gesch�fte macht. G�nther gibt �ffentlich salbungsvoll den Vork�mpfer des europ�ischen „Green Deal“, w�hrend Menschen f�r den Rohstoff-Abbau zwangsumgesiedelt werden. „Wir k�nnen unsere westlichen Demokratien nicht einfach so exportieren“, wischt er Meinekes Bedenken vom Tisch.
Zwar sind Figuren und Dialoge wieder recht plakativ geraten, aber die permanente Drohkulisse und die halb private, halb politische Mission Meinekes bieten soliden Thrillerstoff. Mit Valentinas Hilfe hat Leyla geheime Unterlagen gesammelt, die ihr k�nftiger Stiefvater au�er Landes bringen soll. „Am Abgrund“ erz�hlt im Vergleich mit dem letzten Harrich-Film („Bis zum letzten Tropfen“), der sich der drohenden Wasserknappheit widmete, spannungsreicher und dramaturgisch �berzeugender. Stark auch das heftige Finale, das immerhin der populistischen Schlussfolgerung entgegenwirkt, dass die europ�ischen Demokratien hoffnungslos korrupt und verrottet seien. Die Europa-Hymne passt wiederum zu dem Pathos, das durch Harrichs Filme weht. Weniger w�re mehr und w�rde den Anspruch, ein breites Publikum erreichen zu wollen, keineswegs unterlaufen.
Foto: SWR / diwafilm / WieslerStrippenzieher: Herbert Pfleiderer (Heiner Lauterbach), Vizepr�sident im Europarat
Die Bez�ge zur Realit�t sind offenkundig: Im Gegensatz zum Film wurde der aserbaidschanischen Delegation vom Europarat gerade die Akkreditierung entzogen. Und die Generalstaatsanwaltschaft M�nchen hat Anklage gegen zwei ehemalige Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU wegen Bestechlichkeit erhoben. Sie sollen gegen Entlohnung aus Baku f�r die Interessen Aserbaidschans gearbeitet haben. Die Fiktion schlie�t die Korruptions-Aff�re au�erdem mit der aktuellen Debatte um die Energiewende kurz. Aserbaidschan ist nun angeblich nicht nur wegen der reichen Gas- und �lvorkommen, sondern nach der Eroberung von Karabach auch wegen kritischer Rohstoffe, die f�r die Produktion von E-Autos und Smartphones von gro�er Bedeutung sind, ein wichtiger Handelspartner.
Die Fiktion schlie�t die Korruptions-Aff�re au�erdem mit der aktuellen Debatte um die Energiewende kurz. Aserbaidschan ist nun angeblich nicht nur wegen der reichen Gas- und �lvorkommen, sondern nach der Eroberung von Karabach auch wegen kritischer Rohstoffe, die f�r die Produktion von E-Autos und Smartphones von gro�er Bedeutung sind, ein wichtiger Handelspartner. Harrichs begleitende Dokumentation beziehungsweise die dreiteilige Doku-Reihe (ebenfalls ab 1. M�rz in der Mediathek) will diese These offenbar untermauern, wie der Ank�ndigung des Senders zu entnehmen ist: „Exklusive Recherchen zeigen, wie das Netzwerk aus Korruption und Gef�lligkeiten daf�r genutzt wird, Krieg und Vertreibung zu rechtfertigen. Als Gegenleistung stellt Aserbaidschan den Zugang zu hei� umk�mpften, kritischen Rohstoffen in Aussicht. Und europ�ische Unternehmen greifen gerne zu. Der Preis daf�r: Menschenrechtsverletzungen und eine hemmungslose Zerst�rung der Natur, im Namen der EU-Politik ,Green Deal'.“ Dar�ber muss geredet werden, insofern kann man dem „neuen Harrich“ trotz mancher Schw�chen bei der fiktionalen Zuspitzung nur lauten Widerhall in Politik und Gesellschaft w�nschen. (Text-Stand: 15.2.2024)
Foto: SWR / diwafilm / HarrichGasimov (Navid Neghaban) macht Leyla (Luna Jordan) klar, dass sie mit politischer Berichterstattung und Agitation aufh�ren soll, sonst drohe ihr erneut das Gef�ngnis.
Thomas Gehringer, freiberuflicher Journalist aus K�ln, schreibt f�r epd medien, den "Tagesspiegel" und andere regionale Tageszeitungen, Mitglied in Jurys und Nominierungskommissionen des Grimme-Preises.