Berlin. Die eigene Bilanz des Innenministeriums von Erfolgen in diesem Jahr ist lang. Doch für den Minister fällt die Bilanz anders aus.

Schon seit 2014 macht sich Thomas de Maizière Sorgen, dass die Flüchtlingsfrage sich verschärfen könnte. Als der Fall eintritt und er als Krisenmanager gefragt ist, wird der CDU-Mann gleichwohl von den Ereignissen überrollt. Ihm fehlen eine Blaupause, völlige Handlungsfreiheit und das Glück des Tüchtigen. In den entscheidenden Tagen ist er krank.

Karl Ernst Thomas de Maizière (61) ist das Gesicht zur Krise. Darin liest man Besorgnis, Anstrengung, Überraschung, Zerrissenheit. Wie es am 4. September in ihm aussieht, könnte nur seine Frau beschreiben. An dem Tag fällt im Kanzleramt die Entscheidung, die Flüchtlinge einreisen zu lassen, die in Ungarn festsitzen. Der für Sicherheit zuständige Minister liegt im Bett mit einer schweren Bronchitis.

Es ist der Tag des Kontrollverlusts, auch seines eigenen. Dabei lässt sich seine Bilanz ansonsten sehen. Auf sieben eng beschriebene Seiten listet das Ministerium den Ausstoß eines Jahres auf, eine Vielzahl von Gesetzen, darunter wichtige Weichenstellungen, Verordnungen, Maßnahmen. Das Jahr hatte mit „Charlie Hebdo“ begonnen und endet mit „Paris II“, wie Experten den zweiten Anschlag nennen. Zwölf Monate Arbeit an der Grenze der Belastbarkeit. Der Krankenstand im Ministerium ist spürbar gestiegen.

Schon sein Vater stellte sich in den Dienst des Staates

Als Innenminister schont er weder sich noch andere, fordert dem Haus viel ab, greift durch, setzt um. Fleiß kann man dem Ressortchef nicht absprechen, ebenso wenig wie Pflichtbewusstsein oder Loyalität. Mit den Tugenden ist er, sagen wir mal: familiär vorbelastet. De Maizière stammt aus einer protestantischen Großfamilie, Hugenotten, die Spuren in der deutschen Geschichte hinterlassen haben. Schon sein Vater stellt sich als Generalinspekteur der Bundeswehr in den Dienst des Staates. Als der Sohn Verteidigungsminister wird, verkörpert er den Slogan der Truppe: „Wir. Dienen. Deutschland.“

Eine „lose Kanone“ nennen ihn die Grünen. Er sei „besser als sein Ruf“, hält Rainer Wendt von der Polizeigewerkschaft dagegen. Man kommt bei der Bewertung immer auf jenen 4. September zurück, den Tag, an dem die Kanzlerin Gesetz und Ordnung außer Kraft setzt. Für viele ist es ein Rechtsbruch, gut gemeint zwar, aber: Rechtsbruch bleibt Rechtsbruch.

Vergleich mit Vorgängern wirkt ungünstig

Im Ministerium, einem Hort der Juristen und das Verfassungsressort, sind viele entsetzt. „Das war für alle schwer erträglich“, erzählt ein Kenner des Hauses. Der Ärger wirkt bis heute in vielen Behörden fort. Der amtierende Minister kennt die Stimmung, mochte sie womöglich nachempfinden, aber er schweigt.

Es sind die Septembertage, an denen man sich fragt, wie hätte es ein Otto Schily gemacht? Oder ein Wolfgang Schäuble? Vollblutpolitiker mit Instinkt, Härte, mit Strahlkraft. De Maizière weiß, dass der direkte Vergleich für ihn nicht schmeichelhaft ausfällt und dass viele ihn für eine Büroklammer halten. Dem eigenen Karikaturbild kommt er frappierend nahe. Mehrmals liegt er mit Prognosen über die Zahl der Flüchtlinge daneben und muss sie auf Druck der Länder korrigieren. Er lässt den Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, auch zu lange gewähren; bis das Peter-Prinzip auf die Spitze getrieben ist. Eine Woche nach der Grenzöffnung überzeugt de Maizière die Koalitionsspitzen davon, temporär Kontrollen wieder einzuführen und Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsstaaten zurückzuweisen. Wenig später lässt er die zweite Maßnahme fallen, weil es im eigenen Haus Vorbehalte gibt. Stop and Go, so geht es voran. Kein Wunder, dass die Kanzlerin ihren Amtschef Peter Altmaier (CDU) zum Koordinator der Flüchtlingspolitik macht. Sie ist jetzt Chefsache, und de Maizières Stern beginnt zu sinken.

Merkel und er kennen sich seit 25 Jahren. Die Vertrautheit hindert sie freilich nicht daran, ihre Linie in der Flüchtlingspolitik durchzuziehen. Dazu kommen die Bundesländer, die auf ihre Zuständigkeiten pochen und schließlich die Sicherheitsbehörden – viele Kraftzentren und zwischen allen Stühlen: der Innenminister.

Auf die Frage, ob die Öffnung der Grenze ein Fehler gewesen sei, stützt er Merkel im „Spiegel“: „Die Entscheidung war in einer Ausnahmesituation humanitär geboten.“ In der Talkshow bei Maybrit Illner, in der Livesituation, räumt er später ein, „außer Kontrolle geraten ist es mit der Entscheidung, dass man aus Ungarn die Menschen nach Deutschland holt“.

„Ein Teil meiner Antwort würde Sie nur verunsichern“

Noch einmal rutscht ihm die unpolierte Wahrheit durch, diesmal nach der Absage eines Länderspiels in Hannover: „Ich möchte mich zu den genauen Hintergründen zu den Hinweisen nicht äußern. Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Das ist unfreiwillig komisch, in den sozialen Medien entfacht er einen Shitstorm, Spott und Hohn: „Wurde die WM in Deutschland gekauft? Dazu sage ich nichts. Ein Teil meiner Antwort würde Sie nur verunsichern.“

Verwirrung stiftet er auch in der Koalition. Im Herbst ordnet er an, für syrische Flüchtlinge zur Einzelfallprüfung zurückzukehren. Das hat zur Folge, dass viele von ihnen nur noch subsidiären Schutz bekommen werden. Für diesen Personenkreis verhandeln die Spitzen der Koalition aber gerade darüber, den Familienzuzug einzuschränken. De Maizière wird dazugebeten, vergisst aber, die Runde über seine Anordnung zu informieren. Es sind solche Episoden, die seine Kritiker darin bestärken, dass ihm politisches Gespür fehlt, so sehr man ihn wegen seiner ruhigen Art auch schätzt.

Die Ironie der Geschichte ist, dass er aus dem kollektiven Missverständnis gestärkt hervorgeht. „Thomas de Maizière hat recht“, erklärt CSU-Chef Horst Seehofer. „Wir müssen wieder nach dem Gesetz handeln und den Flüchtlingsstatus jedes Syrers genau prüfen.“ Ähnlich äußern sich andere Unionsgranden. Sie bestärken ihn, die Flüchtlingspolitik neu zu ordnen. Für ihn ist es die Chance, 2016 einem guten Vorsatz gerecht zu werden: Weniger rudern, mehr steuern. Es war oft anders herum.