Frieder Günther
Ein schwacher Bundespräsident?
Amtsverständnis und Amtsführung von Theodor Heuss
1 Vorgeschichte
Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am 8. Mai
1949 herrschte unter Staatsrechtlern allgemeine Unsicherheit, wie sich die neue Kompetenzaufteilung zwischen den Verfassungsorganen in der Praxis auswirken würde. Diese Unsicherheit bezog sich vor allem auf die Beziehung zwischen dem künftigen Bundeskanzler als
Regierungschef und dem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt. Klar war, dass der Verfassungsgeber die Kompetenzen des Bundespräsidenten im Vergleich zum Reichspräsidenten
der Weimarer Republik deutlich reduziert hatte. Dennoch war es für die Staatsrechtler kaum
vorstellbar, dass der Bundespräsident damit auch auf seine Funktion als leitender Staatsmann, der an der obersten Regierungsgewalt beteiligt war, verzichten würde. War somit ein
Dualismus zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef vorprogrammiert, der, wenn der
Konflikt eskalieren sollte, zu einer Blockade der Regierungsgeschäfte führen musste?1
Diese Frage schien vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation von 1949 besonders brisant: In den zerstörten Städten der Westzonen prägten Hunger, materielle Entbehrungen und Arbeitslosigkeit immer noch den Alltag. Dieses Problem wurde verstärkt durch
den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Osten, die zumindest notdürftig versorgt werden
mussten. Die Wirtschaft des Landes lag danieder, so dass die Gedanken der Menschen von
Orientierungslosigkeit, Apathie und politischem Desinteresse geprägt waren, auch weil sich
die Besatzungsmächte weiterhin die wichtigsten politischen Entscheidungen vorbehielten.
Und nicht zuletzt schien sich am Horizont die Gefahr eines Dritten Weltkriegs abzuzeichnen,
da sich der erstmals auf einer globalen Ebene ausgetragene Konflikt zwischen den USA und
der Sowjetunion immer weiter zuspitzte, wie zuletzt die Berlin-Blockade von 1948/49 auf
drastische Weise vor Augen geführt hatte.2 Vor diesem Hintergrund gingen die Staatsrechtler
davon aus, dass eine Regierungskrise, mit der man auch nach den deprimierenden Erfahrungen mit den Präsidialkabinetten in den letzten Jahren der Weimarer Republik fest rechnete,
schnell einen systemsprengenden Charakter bekommen konnte und das soeben erst errichtete
parlamentarische Regierungssystem von Grund auf in Frage stellen würde.
In dieser Situation blieb den Staatsrechtlern, die das Grundgesetz stützen wollten, eigentlich nur, darauf zu verweisen, „dass in dem heutigen Verfassungssystem das Bundespräsidentenamt als seinen Träger eine Persönlichkeit von besonderem Format voraussetzt, wenn
1
2
Vgl. Weber, Werner: Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz (1949), in: Ders., Spannungen und Kräfte
im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 7-38, hier S. 29-35; Nawiasky, Hans: Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart/Köln 1950, S. 114-116; von Mangoldt, Hermann: Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, Berlin/Frankfurt am Main 1953, S. 295-298.
Vgl. z. B. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 15-44, 119-140, 199-217; Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 21-43.
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die mit ihm verbundenen Aufgaben voll erfüllt werden sollen.“3 Zu den wenigen Personen,
denen man so etwas zutraute, wurde seit November 1948 der damals 64-jährige FDP-Parteivorsitzende Theodor Heuss gezählt,4 schien er doch aufgrund seines Persönlichkeitsprofils
und seiner Biographie mit die beste Gewähr dafür zu bieten, das neu geschaffene Amt mit
Bedacht und in enger Abstimmung mit dem Bundeskanzler durch die bevorstehenden politischen Unwägbarkeiten zu führen.
Vier Eigenschaften zeichneten Heuss für dieses Amt besonders aus.5 Erstens war er Bildungsbürger durch und durch. Schon durch sein äußeres Auftreten mit Hut, Spazierstock,
Anzug, Zigarre und Württemberger Rotwein gab er sich als guter Bürger zu erkennen. Zudem versprachen seine stets gelehrt wirkenden, schlagkräftigen, humorvollen, sachlich interessierten und zuweilen auch belehrenden Äußerungen eine umfassende Bildung. In einer
Zeit, die nach den Erfahrungen mit der „deutschen Katastrophe“ von einem allgemeinen
Sinnverlust und von Orientierungslosigkeit geprägt war, schien folglich eine Person seines
Schlages die beste Gewähr dafür zu bieten, die allgemein verbreitete Sehnsucht nach Traditionsstiftung und geistiger Orientierung bedienen zu können. Dies spiegelte sich deutlich in
seiner Biographie: So hatte Heuss sein Studium der Nationalökonomie mit der Promotion
abgeschlossen, seit seinem Berufseinstieg mit 21 Jahren hatte er unablässig für die unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften als Journalist gearbeitet, er hatte fachliche Bücher
verfasst und herausgegeben, darunter umfangreiche historische Biographien und hatte sich in
der Weimarer Zeit für die damals ganz neue politische Erwachsenenbildung engagiert. Gewissermaßen als Krönung dieser Gelehrtenkarriere war ihm 1948 aufgrund seiner Tätigkeit
als Dozent für politische Wissenschaften von der Technischen Hochschule Stuttgart der Professorentitel verliehen worden. Damit verkörperte er das, was zur Basis des neuen Staates
werden sollte: deutsche Bildung auf der Grundlage einer als unbelastet angesehenen Tradition in scharfer Abgrenzung vom Nationalsozialismus.
Zweitens war Heuss natürlich Politiker. Er hatte sich schon als Jugendlicher dem linksliberalen, charismatischen Politiker Friedrich Naumann angeschlossen, hatte diesen bei Wahlkämpfen unterstützt und blieb dessen politischen Idealen auch nach dessen Tod im Jahr 1919
verbunden. 1924 schaffte er selbst zum ersten Mal als Kandidat der Deutschen Demokratischen Partei den Sprung in den Reichstag, dem er mit Unterbrechungen bis 1933 angehörte.
Nach Kriegsende gehörte Heuss zu jener Generation älterer Männer, die sich für die Politik
reaktivieren ließen, da unbelastete Jüngere kaum zur Verfügung standen. Folglich war er in
den Jahren 1945 und 1946 Kultusminister des Landes Württemberg-Baden, übernahm wichtige Leitungsämter in den wiedergegründeten liberalen Parteien und gehörte als FDP-Vorsitzender der drei Westzonen dem Parlamentarischen Rat an. Heuss zeichnete sich somit dadurch aus, dass er den politischen Betrieb genau kannte und über die Parteigrenzen hinweg
über enge Kontakte verfügte. Vor allem aber sprach für ihn, dass er zeitlebens für die politischen Prinzipien gekämpft hatte, die die Weimarer Republik zumindest in den ersten Jahren
geprägt hatten, die der Nationalsozialismus bekämpft hatte und auf die man nun wieder die
Bundesrepublik als westlichen Teilstaat aufbauen wollte: Demokratie, Toleranz, Rechtsstaat3
4
5
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Von Mangoldt, Grundgesetz (Fn. 1), S. 298.
In diesem Sinne bereits Der Tagesspiegel, 23.10.1948. Vgl. hierzu Heuss an Max Rademacher, 1.11.1948, in:
Heuss, Theodor, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945-1949, hg. und bearb. v. Ernst Wolfgang Becker, München 2007, S. 418-420.
Zur Biographie von Theodor Heuss vgl. vor allem Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011; zudem Hertfelder, Thomas / Ketterle, Christiane (Hg.): Theodor Heuss. Publizist – Politiker – Präsident. Begleitband zur ständigen Ausstellung im Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart 2003;
Hamm-Brücher, Hildegard / Rudolph, Hermann: Theodor Heuss. Eine Bildbiographie, Stuttgart 1983. – Besonders auf die erste Darstellung greife ich im Weiteren immer wieder zurück.
lichkeit sowie politische und marktwirtschaftliche Freiheit bei gleichzeitiger moderater sozialer Orientierung.
Drittens war er ein erfahrener Redner,6 der sein Publikum zu fesseln wusste. Seine ausschweifenden, häufig mit persönlichen Anekdoten angereicherten, zuweilen humorvoll improvisierten, stets in tiefem Bass und mit schwäbischem Akzent vorgetragenen Reden fanden
immer wieder weiten Anklang. Dabei war sich Heuss nicht zu schade, durch künstlerische,
fachliche und historische Exkurse seinen Hörern ein breites Wissen mit auf den Weg zu geben. Die Themen, zu denen er sprach, waren seit jeher selten tagespolitischer Natur gewesen,
sondern er bevorzugte es selbst bei Wahlkampf- oder Parteiveranstaltungen, den Reden eine
allgemein-politische oder überzeitliche Pointe zu geben, so dass ihm häufig auch politische
Gegner Beifall zollen konnten. Insofern haftete ihm im Kreis der „Vollblutpolitiker“ durchaus etwas Unkonventionelles und, wenn man so will, Profilloses an.
Viertens galt Heuss durch die Zeit des Nationalsozialismus als kaum belastet. Auch wenn
er dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 als Abgeordneter im Reichstag zugestimmt
hatte, musste er noch im Jahr 1933 auf alle seine öffentlichen Ämter verzichten, schließlich
war er als entschiedener Demokrat den Nationalsozialisten grundsätzlich verdächtig. Von
nun an war er bis 1945 gezwungen, als Journalist und Publizist eine Art Nischenexistenz zu
führen. Heuss konnte somit als ein Staatsoberhaupt präsentiert werden, das den Bruch mit
der jüngsten unheilvollen Geschichte auf überzeugende Weise symbolisierte.
Es wäre allerdings verfehlt, aus diesen persönlichen Qualitäten zu schließen, dass Heuss’
Wahl zum Bundespräsidenten nur noch ein bloßer formaler Akt war, der sich geradezu aufgedrängt hätte. Vielmehr bedurfte es letztlich der Initiative und des Machtkalküls des einflussreichen CDU-Parteivorsitzenden in der britischen Zone, Konrad Adenauer. Auf der berühmten Rhöndorfer Konferenz vom 21. August 1949 7 verkündete Adenauer vor den versammelten Honoratioren von CDU und CSU, dass er selbst Bundeskanzler werden wolle
und, um dies zu erreichen, eine kleine Koalition mit der FDP und der Deutschen Partei anstrebe. Hier kam nun Theodor Heuss ins Spiel. Die Wahl des FDP-Vorsitzenden zum Staatsoberhaupt sollte die FDP an die Union binden und die Koalition für die Zukunft absichern.
Adenauer hatte ihn im Parlamentarischen Rat persönlich kennen und schätzen gelernt,8 da
Heuss aufgrund seiner nüchternen, ausgleichenden, vermittelnden und überparteilichen Art
immer wieder Kompromisse bei unüberbrückbar erscheinenden Meinungsverschiedenheiten
über die politischen Lager hinweg ermöglicht hatte. Außerdem ging der zielstrebige Machtpolitiker Adenauer wohl davon aus, dass ihm Heuss im politischen Tagesgeschäft kaum gefährlich werden würde, da diesen politische Detailfragen im Grunde wenig interessierten. Bei
den politischen Grundüberzeugungen wusste er sich mit Heuss weitgehend einig. Bereits an
dieser Stelle vor der Bundespräsidentenwahl wurde also eine Rollenverteilung zwischen
Heuss und Adenauer für die nächsten zehn Jahre antizipiert, wobei Heuss von vornherein in
ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis geriet, da er sein Amt, wie er genau wusste,9 letztlich
Adenauer verdankte. Adenauers Plan sollte denn auch aufgehen. Heuss wurde am 12. Sep6
7
8
9
Vgl. hierzu Baumgärtner, Ulrich: Reden nach Hitler. Theodor Heuss – Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2001.
Vgl. hierzu Adenauer, Konrad: Erinnerungen 1945-1953, 6. Aufl., Stuttgart 1987, S. 223-230; Schwarz, HansPeter: Adenauer, Band 1: Der Aufstieg. 1876-1952, München 1994, S. 624-626; Görtemaker, Geschichte (Fn. 2),
S. 86-89.
Vgl. hierzu die Würdigung von Heuss’ Rolle im Parlamentarischen Rat durch Adenauer, in: Bott, Hans / Leins,
Hermann (Hg.), Begegnungen mit Theodor Heuss, Tübingen 1954, S. 157-161.
Vgl. Heuss an Adenauer, 9.4.1959, in: Heuss, Theodor / Adenauer, Konrad, Unserem Vaterlande zugute. Der
Briefwechsel 1948-1963, bearb. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1989, S. 273-275, 278, hier S. 278: „[...] ich
empfing es [das Amt] sozusagen aus Ihrer Hand [...].“
107
tember 1949 im zweiten Wahlgang von der Bundesversammlung zum ersten Bundespräsidenten gewählt, und Adenauer folgte ihm drei Tage später mit der Mehrheit von einer Stimme als Bundeskanzler nach.
Die Frage, welches Selbstverständnis Heuss als Bundespräsident vor dem Hintergrund
dieser Vorgeschichte entwickelte, soll in den folgenden Ausführungen zunächst beantwortet
werden. Außerdem gilt es nach seinem Verhältnis zu den übrigen Verfassungsorganen zu
fragen, wobei hierbei die Beziehung zu seinem direkten Konkurrenten in der Exekutive, dem
Bundeskanzler, im Mittelpunkt steht.
2 Theodor Heuss’ repräsentatives Amtsverständnis
Heuss entwickelte ein Amtsverständnis, bei dem nicht politisches Entscheiden, sondern die
Repräsentation des Staates nach innen und außen, also sein symbolisches Handeln, im Mittelpunkt stand. Er selbst nannte dies die „Sphären des Metapolitischen“,10 die in die unterschiedlichen Teile der Bevölkerung hineinwirken und diese wieder mit ihrem Staat versöhnen sollten. Dabei war sein Selbstverständnis das eines obersten Erziehers, der das Volk von
den Vorteilen der neuen parlamentarischen Staatsform, einer weltoffenen und staatstreuen
Gesinnung, einer gelassenen und zufriedenen Grundeinstellung sowie eines solidarischen
Miteinanders überzeugen wollte.11 Erreichen wollte er dies, indem er zum einen an vorhandene Traditionen der Deutschen, die sich aus seiner Sicht in der Vergangenheit bewährt hatten, anknüpfte und sie vergegenwärtigte und indem er zum anderen, dort wo sie sich nicht
bewährt hatten oder gar von den Nationalsozialisten missbraucht worden waren, neue,
gleichsam bundesdeutsche Traditionen stiftete. Dabei standen ihm im Wesentlichen vier verschiedene Kompetenz- und Tätigkeitsbereiche zur Verfügung, die er in diesem Sinn für sich
nutzte.
Dies war zum einen seine Zuständigkeit für Symbole des Bundes. Hier ist zunächst die
Stiftung von Orden zu nennen, um so Leistungen der Bürger anzuerkennen und zu belohnen.
Heuss sah darin ein Mittel, um das „Danken-Können“ des Staates sichtbar zu machen und
auf diese Weise die Beziehungen zwischen dem Staat und der Gesellschaft enger zu gestalten.12 So rief er schon 1950 das Silberne Lorbeerblatt ins Leben als höchste Auszeichnung
für sportliche und anfangs auch musikalische Leistungen. Ein Jahr später stiftete er das Bundesverdienstkreuz, um damit Personen, die sich um das politische, wirtschaftliche, geistige
und soziale Leben ihres Gemeinwesens besonders verdient gemacht hatten, auszuzeichnen.
Nicht zuletzt belebte er im Jahr 1952 den Orden Pour le Mérite wieder, der 1842 vom preußischen König für herausragende Wissenschaftler und Künstler geschaffen worden war. Sowohl an der Auswahl der Ordensmitglieder als auch an ihren zweimal jährlich stattfindenden
Treffen nahm er regen Anteil, spiegelte sich hier doch die für Heuss so wichtige Verbindung
von Geist und Politik wider. Er wollte durch sein Engagement dabei mithelfen, dass sich
auch Intellektuelle – im Gegensatz zur Weimarer Republik – in ihren neuen Staat integriert
10
11
12
108
So z. B. in Heuss an Adenauer, 9.4.1959, in: Heuss / Adenauer, Vaterlande (Fn. 9), S. 273-275, 278, hier
S. 275.
Ernst Wolfgang Becker bezeichnet dementsprechend Heuss für die Jahre von 1945 bis 1949 als einen „Erzieher zur Demokratie“; vgl. Becker, Ernst Wolfgang: Theodor Heuss als Erzieher zur Demokratie. Briefe 19451949, in: Heuss, Erzieher (Fn. 4), S. 15-55.
Vgl. Kruip, Gudrun: Der Bundespräsident 1949-1959, in: Hertfelder / Ketterle, Heuss (Fn. 5), S. 149-185, hier
S. 159 f.
fühlten und zugleich das Volk einen gewissen Stolz auf seine geistige und künstlerische Elite
entwickelte.
Zudem versuchte Heuss, eine neue Nationalhymne durchzusetzen, da er das „Lied der
Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben zu jenen Nationalsymbolen zählte, die durch
den Nationalsozialismus gänzlich diskreditiert worden seien. An dieser Stelle mache „der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatengeschichte“ eine „neue Symbolgebung“ notwendig, „damit wir vor der geschichtlichen Tragik unseres Schicksals mit zugleich reinem und
freiem Herzen, in klarer Nüchternheit des Erkennens der Lage bestehen.“13 Folglich beauftragte er den befreundeten Dichter Rudolf Alexander Schröder, eine neue Nationalhymne zu
dichten. An die Stelle eines aus seiner Sicht nicht mehr zeitgemäßen nationalistischen Pathos
wollte er ein letztlich entpolitisiertes „Pathos der Nüchternheit“ setzen. Dass er sich damit in
der öffentlichen Auseinandersetzung nicht durchsetzen konnte, erschien ihm im Nachhinein,
nach Ablauf seiner beiden Amtszeiten, als seine größte Niederlage als Bundespräsident. 14
Indem der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher die neue „Hymne an Deutschland“ gar als
„schwäbisch-pietistischen Nationalchoral“ titulierte, setzte dieser einen endgültigen Schlussstrich unter eine einjährige Debatte. Wie sehr Heuss diesen Bereich der Symbolpolitik aber
trotzdem als seine ureigenste Kompetenz ansah, zeigt sich darin, mit welchem Nachdruck er
es Adenauer untersagte, ihm bei der Festsetzung der Nationalhymne in irgendeiner Weise zuvorzukommen. Heuss verzichtete auf eine feierliche Proklamation, wartete aber bis zum Mai
1952, als er in einem Schreiben an Adenauer resigniert der Bitte der Bundesregierung nachkam und die dritte Strophe des „Liedes der Deutschen“ zur Nationalhymne erklärte.15
Doch Heuss’ Symbolpolitik ging über solche konkreten, von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Maßnahmen weit hinaus. Beispielsweise engagierte er sich immer wieder für eine ansprechende und zeitgemäße Gestaltung von Briefmarken oder von Uniformen der Bundeswehr, indem er dem Bundespostminister bzw. dem Bundesverteidigungsminister konkrete
Vorschläge machte. Ebenso setzte er sich für den Wiederaufbau und die Erweiterung des
Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg ein, dessen Verwaltungsrat er auch als Bundespräsident angehörte und leitete. Dies alles war Teil seines Bemühens, dem Staat neue, mit
dem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen im Einlang stehende Ausdrucksformen zu
geben und zugleich einen scharfen symbolischen Bruch mit der Zeit des Nationalsozialismus
zu vollziehen.
Der zweite Bereich, den Heuss als Bundespräsident intensiv für sich nutzte, war seine
Kompetenz, Reden zu halten. Mit 775 solchen Auftritten erzielte er in den zehn Jahren seiner
Amtszeit zweifellos seine größte Wirkung. Hier sprach das Staatsoberhaupt in seiner Rolle
als politischer Professor, der seinem Volk Orientierung und Bildung vermitteln und zugleich
zu einer allgemeinen „Entkrampfung“ beitragen wollte. Für welche Themen setzte er sich
hierbei besonders ein? Erstens, da er Adenauers Politik der Westorientierung mittrug, plädierte er für eine Aussöhnung mit den früheren Kriegsgegnern im Ausland und für eine möglichst enge politische Anbindung an das westliche Bündnis unter Führung der USA. Zweitens bekundete er stets seine Solidarität mit den Menschen in der DDR, schließlich fühlte er
sich auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verpflichtet und verstand sich
zugleich als das einzige Staatsoberhaupt aller Deutschen, das durch freie Wahlen legitimiert
war. Drittens stemmte er sich gegen den Trend seiner Zeit, über die jüngste Vergangenheit
möglichst rasch den Mantel des Schweigens zu breiten. So führte er in einer Aufsehen erre13
14
15
Heuss an Adenauer, 2.5.1952, in: Heuss / Adenauer, Vaterlande (Fn. 9), S. 112 f., hier S. 112.
Vgl. Heuss an Felix Messerschmidt, 19.1.1960, in: Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus (hinfort
SBTH), Politischer Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 249 (= Bundesarchiv Koblenz, hinfort BArch).
Vgl. Heuss an Adenauer, 12.1.1952/2.5.1952, in: Heuss / Adenauer, Vaterlande (Fn. 9), S. 99-102, 112 f.
109
genden Ansprache zur Einweihung eines Mahnmals im KZ Bergen-Belsen am 30. November
1952 aus, dass „die volle Grausamkeit der [nationalsozialistischen] Verbrechen“ endlich zur
Kenntnis genommen werden müsse und niemals wieder vergessen werden dürfe, denn die
Opfer könnten „nie vergessen, was ihnen angetan wurde“. Allen Leugnern der Mitwisserschaft am Völkermord rief er zu: „Wir haben von den Dingen gewusst.“16 Im Gegenzug engagierte er sich für eine rasche Aussöhnung mit dem jungen Staat Israel, für die Rückkehr
von Emigranten nach Deutschland und für eine Ehrung der konservativen Widerstandskreise,
die am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt gewesen waren – dies alles waren Themen,
die in den 1950er Jahren überaus umstritten waren.
Dennoch sollte die Zeitbedingtheit dieser Positionen nicht übersehen werden. So hatte
Heuss’ politische Grundhaltung mit einem heutigen pluralistischen Demokratieverständnis,
bei der einer kontroversen politischen Auseinandersetzung eine zentrale Bedeutung zukommt
und eine kritische Öffentlichkeit als etwas grundsätzlich Positives bewertet wird, wenig gemein. Sein Denken blieb primär an einem starken Staat orientiert, der nach außen geschlossen auftreten und primär auf das Wohl der Nation im internationalen Machtgefüge ausgerichtet sein sollte. Außerdem vermied es Heuss bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ganz bewusst, die Frage nach der persönlichen Schuld des Einzelnen zu stellen oder
die Verstrickung weiter Bevölkerungskreise in nationalsozialistische Verbrechen zu benennen. Befremdlich ist nicht zuletzt sein wiederholter Einsatz für die Begnadigung und vorzeitige Haftentlassung von ehemaligen Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern, darunter der
frühere Außenminister Konstantin von Neurath, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt
Ernst von Weizsäcker und der SS-Einsatzgruppenleiter Martin Sandberger.
Der dritte Bereich, der Heuss als Tätigkeitsfeld zur Verfügung stand, war sein Briefwechsel mit der Bevölkerung.17 Als leidenschaftlicher Briefschreiber ließ er es sich nicht nehmen,
von den mehreren Hundert Schreiben, die täglich im Bundespräsidialamt eingingen, zahlreiche Briefe, die er für wichtig hielt, selbst zu beantworten. Egal ob es sich dabei um klassische Ergebenheitsadressen, Angriffe gegen seine Person, allgemeine Stellungnahmen zur Tagespolitik, Dankesbekundungen, Schilderungen von handfesten Notlagen oder Alltagssorgen
handelte – Heuss war sich nicht zu schade, selbst eine Antwort zu diktieren, obwohl er häufig formal gar nicht zuständig war. So wurde er als Landesvater eigenen Zuschnitts, der sich
um das Wohl seines Volkes sorgte und kümmerte, greifbar. Dass er hierbei auch Sehnsüchte
der Nachkriegsgesellschaft nach einer vertrauenserweckenden und überparteilichen Vaterfigur bediente, wird in der damals populären Bezeichnung „Papa Heuss“ deutlich, die er selbst
aber als verniedlichende Verkitschung ablehnte.
Eine neue Herausforderung – und das war Heuss’ vierter Bereich der Symbolpolitik –
stellten in seiner zweiten Amtszeit von 1954 an die offiziellen Staatsbesuche im Ausland sowie die Besuche ausländischer Staatsoberhäupter in der Bundesrepublik dar.18 Vor allem bei
den Besuchen von Heuss in Griechenland (1956), der Türkei (1957), Italien (1957), im Vatikan (1957), Kanada (1958), den USA (1958) und Großbritannien (1958) galt es nämlich
nicht nur, das eigene Volk für die Form der Außendarstellung zu gewinnen, sondern nach
Jahren der Besetzung und der außenpolitischen Abstinenz die Aussöhnung Deutschlands mit
16
17
18
110
Heuss, Theodor: Das Mahnmal, in: Dahrendorf, Ralf / Vogt, Martin (Hg.), Theodor Heuss. Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden, Tübingen 1984, S. 407-411, hier S. 407 f.
Vgl. hierzu Heuss, Theodor: Hochverehrter Herr Bundespräsident! Der Briefwechsel mit der Bevölkerung
1949-1959, hg. u. bearb. v. Wolfram Werner, München 2010.
Vgl. Günther, Frieder: Heuss auf Reisen. Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten
Bundespräsidenten, Stuttgart 2006; Manning, Till: Staatliche Repräsentation und außenpolitische Handlungsspielräume. Mit Bundespräsident Heuss auf Staatsbesuch, Saarbrücken 2007.
dem Ausland voranzubringen. Dabei sollte ein neues Bild von der jungen Bundesrepublik als
wirtschaftlich, aber zunehmend auch politisch wichtige westeuropäische Macht den Menschen vor Augen geführt werden. Heuss versuchte dies zu erreichen, indem er sich als Repräsentant eines „anderen Deutschland“ präsentierte, das seine Lektion aus der deutschen Geschichte gelernt hatte und vorbehaltlos zu Versöhnungsgesten bereit war. Beispielsweise legte er am 20. November 1957 an den Fosse Ardeatine unweit von Rom, dem Ort wo die SS
1944 Hunderte italienische Geiseln getötet hatte, einen Kranz nieder und fand so in den italienischen und bundesdeutschen Medien ein durchweg positives Echo. Zu solchem Erfolg
trug auch bei, dass Heuss auf seinen Auslandsreisen stets als bescheidener und sich betont
zivilistisch gebender deutscher Bildungsbürger auftrat, der mit dem jahrhundertealten Austausch zwischen den Kulturen vertraut war und sich gleichsam als historische Person in dieser Geschichte selbst verortete. Zudem betonte er immer wieder, dass er durch die zahlreichen Besichtigungen und einzelnen Reisen, die er ins offizielle Besuchsprogramm einbauen
ließ, sein Wissen über das besuchte Land erweitern wollte. Abgesehen vom letzten Staatsbesuch in Großbritannien, als erstmals Kritik an Heuss geäußert wurde,19 fand er auf diese
Weise zunächst in den ausländischen Medien eine durchweg positive Resonanz. So entstand
anschließend zu Hause der Eindruck, dass er mit seiner humorvollen, gebildeten und zurückhaltenden Art das Bild eines gänzlich gewandelten Deutschland erfolgreich vermittelte und
damit ein Maximum an positiver symbolischer Wirkung erzielte. Die Staatsbesuche gaben
somit den Bundesbürgern das Gefühl, nach Jahren der „Außer-Ordentlichkeit“ (Martin Broszat) zur Normalität zurückzukehren, da ihr Staat offensichtlich wieder zu einem vollwertigen
und allseits geschätzten Mitglied der internationalen Gemeinschaft aufgestiegen war.
3 Die Beziehung des Bundespräsidenten zu den übrigen Verfassungsorganen
Mit den soeben aufgeführten vier Bereichen der Symbolpolitik erzielte Heuss also seine primäre Wirkung als Bundespräsident, was sein institutioneller Gegenspieler, Bundeskanzler
Adenauer, durchaus zu schätzen wusste. Während er selbst durch konkrete Entscheidungen
die Politik voranbrachte, sicherte Heuss die Grundzüge dieser Politik symbolisch ab. Das
hatte zur Folge, dass Adenauer sich in diesen Bereich der Symbolpolitik kaum einmischte
und Heuss weitgehend freie Hand ließ. Gleichzeitig erwartete Adenauer aber auch – und das
ist die Kehrseite dieser Rollenaufteilung –, dass sich Heuss aus der Tagespolitik heraushielt,
obwohl eine solche Zurückhaltung sich aus verfassungsrechtlicher Sicht für den Bundespräsidenten als leitenden Staatsmann keinesfalls von selbst verstand. Es ist jedoch für Heuss’
Amtsverständnis charakteristisch, dass er sich beim institutionellen Aushandlungsprozess um
den Umfang der exekutiven Kompetenzen Adenauers Machtanspruch weitgehend unterordnete.20
So wollte Heuss als frisch gewählter Bundespräsident, da er von einem Mitspracherecht
bei der Besetzung von Ministerposten ausging, Einblick in die Liste der Kabinettsmitglieder
19
20
Vgl. hierzu Günther, Frieder: Misslungene Aussöhnung? Der Staatsbesuch von Theodor Heuss in Großbritannien im Oktober 1958, Stuttgart 2004; Günther, Heuss (Fn. 18), S. 147-160.
Vgl. hierzu Pikart, Eberhard: Theodor Heuss und Konrad Adenauer. Die Rolle des Bundespräsidenten in der
Kanzlerdemokratie, Stuttgart/Zürich 1976, S. 77-114; Manning, Repräsentation (Fn. 18), S. 37-46; Günther,
Heuss (Fn. 18), S. 25-32; Baring, Arnulf: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München/Wien 1969, S. 169-171; Scheuner, Ulrich: Das Amt des
Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, Tübingen 1966, S. 30-46.
111
nehmen, noch bevor er Adenauer als neuen Bundeskanzler vorschlug. Dies lehnte Adenauer
jedoch ab, da er aufgrund seiner Richtlinienkompetenz die alleinige Kompetenz zur Auswahl
der Bundesminister beanspruchte, woraufhin Heuss wiederum nicht weiter insistierte. Auch
später kam es nie zu einer förmlichen Unterrichtung über bevorstehende Kabinettsbildungen
durch den Bundeskanzler. Trotzdem bestand Heuss darauf, dass er auf die Ernennung der
Bundesminister durchaus Einfluss nehmen könne, womit er in einem Fall auch Erfolg hatte,
als er durch sein Veto die Wiederberufung des liberalen Provokateurs Thomas Dehler als
Bundesjustizminister verhinderte.21 Als Heuss um die Jahreswende 1949/50 den Wunsch
äußerte, hin und wieder an Kabinettssitzungen der Bundesregierung teilzunehmen, wies Adenauer dies erneut weit von sich, da dies weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung
der Bundesregierung vorgesehen sei. Auch hier beugte sich Heuss den Vorstellungen des
Kanzlers ohne größere Gegenwehr. Im Gegenzug sicherte Adenauer dem Bundespräsidenten
aber immerhin zu, dass an dessen Stelle der Chef des Bundespräsidialamtes an den Ministerrunden teilnehmen dürfe. Nicht zuletzt ließ sich Heuss von seiner ursprünglichen Intention,
entsprechend der deutschen Verfassungstradition den militärischen Oberbefehl selbst zu beanspruchen, abbringen und ordnete sich den Vorstellungen des Bundeskanzlers unter: Der
Oberbefehl über die Bundeswehr sollte in Friedenszeiten dem Bundesverteidigungsminister
und in Kriegszeiten dem Bundeskanzler zukommen.
Heuss hatte also einen maßgeblichen Anteil daran, dass sich die unter dem Grundgesetz
historisch einmalige Form der Kanzlerdemokratie, die von einer besonders umfassenden
Machtkonzentration in den Händen des Bundeskanzlers Adenauer bestimmt war,22 herausbilden konnte. Er ging einer Kraftprobe mit Adenauer bewusst aus dem Weg, da dies in seinen Augen das „fragwürdige Staatsunternehmen ‚Bundesrepublik‘, nach dem was die Deutschen erlebt haben, gefährdet“ hätte.23 Außerdem stimmte er mit Adenauer in den Grundzügen der Politik überein: Antikommunismus, Westbindung, Wiedervereinigung und Wiederbewaffnung sowie behutsame Fortentwicklung des Sozialstaats waren alles politische Zielsetzungen, die er mit dem Bundeskanzler teilte. Wenn er sich zu Grundsatzfragen einmal äußerte, dann tat er dies meist in mehrseitigen und langatmigen Gedankenskizzen, die er als
Briefe oder Memoranden den jeweils Zuständigen zukommen ließ, „wobei er freilich“, wie
Arnulf Baring zu Recht ausführt, „beim Bundeskanzler immer wieder erleben musste, dass
sie wenig beachtet abgelegt wurden.“24 Darüber hinaus verfügte Heuss – zumal in der Außenpolitik – kaum über detailliertere politische Zielsetzungen. Wie wenig er geneigt war, in
die Tagespolitik gestaltend einzugreifen, wird anhand des Briefwechsels und der Aufzeichnungen der regelmäßig stattfindenden Gespräche zwischen Adenauer und Heuss besonders
deutlich.25 Heuss verstand sich hierbei als mitdenkender Ratgeber, der aber kaum eigene
Akzente setzte. Wenn überhaupt, so intervenierte er in die Personalpolitik, da er die Wiederberufung von Personen, die durch die Zeit des Nationalsozialismus belastet waren, oder die
Abstellung altgedienter Politiker in das Auswärtige Amt verhindern wollte – ohne dass hierbei allerdings von ihm eine generelle richtungsweisende Kontrolle ausging. Als Ersatz
schlug er häufig Personen aus seinem eigenen Umkreis vor, mit deren Grundüberzeugungen
er übereinstimmte und bei denen er folglich die Ämter in guten Händen wusste.
21
22
23
24
25
112
Vgl. speziell hierzu Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997,
S. 222-234.
Vgl. hierzu Doering-Manteuffel, Anselm: Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie, in: Der Staat 1/1991, S. 118.
Heuss an Adenauer, 9.4.1959, in: Heuss / Adenauer, Vaterlande (Fn. 9), S. 273-275, 278, hier S. 275.
Baring, Außenpolitik (Fn. 20), S. 173.
Vgl. Heuss / Adenauer, Vaterlande (Fn. 9); Adenauer, Konrad / Heuss, Theodor: Unter vier Augen. Gespräche
aus den Gründerjahren 1949-1959, bearb. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1997.
Dass die Kompetenzen des Bundespräsidenten weiter reichten, als Heuss sie während
seiner Amtszeit genutzt hatte, wurde in der sogenannten „Präsidentschaftsposse“ von Adenauer im Frühjahr 195926 deutlich. Um seinen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte längerfristig zu sichern, liebäugelte der alternde Adenauer kurzzeitig mit dem Gedanken, als Nachfolger von Heuss zu kandidieren und die Befugnisse des Amtes – im Gegensatz zu Heuss –
nun exzessiv auszulegen. Vor allem an Kabinettssitzung wollte er als neuer Bundespräsident
teilnehmen und damit direkten Einfluss auf die Regierungsgeschäfte nehmen. Besonders auf
Heuss musste diese Ankündigung verletzend wirken, hatte er sich doch mit Rücksicht auf
das Wohl des Staates dem Machtanspruch Adenauers untergeordnet, gewann nun aber den
Eindruck, als würde Adenauer ihm dieses Verhalten als Schwäche auslegen. Im weiteren
Verlauf der Auseinandersetzung sah Adenauer jedoch rasch ein, dass sein Plan in der breiten
Öffentlichkeit auf heftigen Widerspruch stieß und sich auf diese Weise die Kanzlerkandidatur seines parteiinternen Gegners Ludwig Erhard förmlich aufdrängte. Folglich nahm er von
seiner Ankündigung rasch Abstand und setzte seine Kanzlerschaft fort. Dennoch machte die
angestoßene Debatte deutlich, dass eine Kompetenzerweiterung des Bundespräsidenten auf
der Grundlage des Grundgesetzes, etwa im Bereich der Außenpolitik, durchaus möglich erschien27 – selbst wenn diese Kompetenzerweiterung nicht soweit reichen konnte, wie Adenauer sich das zunächst erhofft hatte.
Abschließend ist noch zu klären, welche Beziehung Heuss zu den übrigen Verfassungsorganen, also primär zum Bundestag und zum Bundesverfassungsgericht, entwickelte. Zunächst lehnte es der Bundestag ab, dem Bundespräsidenten im Plenarsaal so wie dem
Reichspräsidenten im Reichtag einen herausgehobenen Platz zur Verfügung zu stellen oder
ihm zu bestimmten Anlässen ein Rederecht zu geben, womit man auch hier seine Einflussmöglichkeiten deutlich beschränkte.28 Einmal verweigerte Heuss im Jahr 1951 einem vom
Bundestag verabschiedeten Gesetz die Unterschrift, da es vom Bundesrat für zustimmungsbedürftig angesehen wurde, und bat das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage um ein
Gutachten, was damals noch auf der Grundlage von § 97 II des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht möglich war. Das Gericht teilte die Bedenken und bestätigte, dass der
Bundesrat zustimmen müsse.29 Bereits hier wird deutlich, dass sich Heuss im politischen
Prozess neben dem Bundesverfassungsgericht durchaus als zweiten „Hüter der Verfassung“
verstand.30 Dieses Selbstverständnis sollte erneut hervortreten, als er bei der Auseinandersetzung um die Ratifizierung des Vertrages über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und um einen damit zusammenhängenden deutschen Wehrbeitrag das
Bundesverfassungsgericht im Juni 1952 noch einmal um ein Gutachten anrief. Auf diese
Weise wollte er in der äußerst kontroversen Auseinandersetzung, bei der das Bundesverfassungsgericht in der Gefahr stand, von den Parteien zu ihren jeweiligen Zwecken instrumentalisiert zu werden, vermitteln. Am 9. Dezember 1952 zog Heuss seinen Antrag auf ein Gutachten aber zurück, nachdem das Bundesverfassungsgericht am Morgen desselben Tages
verkündet hatte, dem Gutachtenverfahren Vorrang sowie bindenden Charakter für künftige
Entscheidungen der Senate beizumessen. Während Heuss stets die Unabhängigkeit seiner
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Vgl. hierzu vor allem Schwarz, Hans-Peter: Adenauer, Band 2: Der Staatsmann. 1952-1967, München 1994,
S. 502-526.
Vgl. z. B. auch Dönhoff, Marion Gräfin: Konrad Adenauer. Des Kanzlers großer Entschluß zur richtigen Stunde, in: Die Zeit, 10.4.1959.
Vgl. Pikart, Heuss (Fn. 20), S. 78.
Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts,
Band 1, Tübingen 1952, S. 76-80.
So ausdrücklich Heuss, Theodor: „Hüter der Verfassung“, in: Dahrendorf / Vogt, Heuss (Fn. 16), S. 412-414,
hier S. 413.
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Entscheidung verteidigte, da er generell eine „justizförmige Politik“ vermeiden wollte, wurde ihm von politischen Gegnern sogleich vorgeworfen, er habe sich hier für die Ziele der
Bundesregierung instrumentalisieren lassen. Adenauer hatte nämlich am Nachmittag bzw.
Abend desselben Tages bei mindestens zwei Gesprächen – teilweise zusammen mit einigen
Kabinettskollegen – versucht, Heuss zur Rücknahme seines Gutachtenantrages zu bewegen.31 Dieser Vorwurf der Parteilichkeit war nicht ganz von der Hand zu weisen, tendierte
Heuss doch generell dazu, sein Mittleramt als Staatsoberhaupt so zu verstehen, dass er einen
mäßigenden und ausgleichenden Einfluss primär auf die SPD oder auch die Gewerkschaften
im Sinne der politischen Ziele der Bundesregierung, die er selbst für richtig hielt, auszuüben
habe.32
Es bleibt also festzuhalten, dass es unangemessen wäre, Heuss als gänzlich unpolitischen
Bundespräsidenten anzusehen. Wenn er sich auch aus der Tagespolitik heraushielt, setzte er
doch durchaus politische Akzente, das zeigen schon die immer wieder provozierenden Themen seiner Reden. Im Jahr 1958 geriet er damit auch mit Adenauer aneinander, weil er sich
in seiner Neujahrsansprache auf einen Gedanken des US-amerikanischen Diplomaten und
Publizisten George F. Kennan berufen hatte.33 Da dieser kurz vorher für Aufsehen gesorgt
hatte, indem er von den Supermächten mehr außenpolitische Flexibilität gefordert hatte, sah
Adenauer hierin einen unzulässigen Eingriff in die etablierte Arbeitsteilung. Adenauer protestierte gegen die mit ihm nicht abgestimmte politische Stellungnahme energisch, was sich
Heuss in dieser Situation aber verbat. Auf eine Zensur durch Adenauer hätte er sich nie eingelassen.34
4 Fazit: Ein prägender und erfolgreicher Bundespräsident
Mit seinem repräsentativen Amtsverständnis und seiner generell im Hinblick auf die Tagespolitik zurückhaltenden Amtsführung reagierte Theodor Heuss auf die krisenhafte politische
Ausgangssituation der neu geschaffenen Bundesrepublik. Indem er sich auf den symbolischen Bereich seines Amtes konzentrierte, trug er dazu bei, dass sich die Menschen wieder
mit ihrem Staat anfreundeten und zugleich eine Regierungskrise vermieden wurde, mit der
die Staatsrechtler aufgrund der unsicheren Verfassungslage in den ersten Jahren nach der
Teilstaatsgründung noch fest rechneten. Gewissermaßen der Preis hierfür war, dass Heuss
darauf verzichtete, öffentliche Auseinandersetzungen oder gesellschaftliche Konflikte, die
die 1950er Jahre prägten, auf der institutionalisierten Ebene zwischen Regierungschef und
Staatsoberhaupt auszutragen.
Doch trotz dieser in machtpolitischer Hinsicht „schwachen“ Amtsführung von Heuss
prägte er sein Amt wie kein Zweiter. Dies wird bereits anhand einer Umfrage des Instituts
für Demoskopie Allensbach deutlich, das im Juli 1959 wissen wollte, welche Eigenschaften
ein guter Bundespräsident haben sollte. Dabei äußerte sich die Mehrheit der Befragten genau
in der Weise, wie Heuss nach außen aufgetreten war: An erster Stelle sollte der Bundespräsi31
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Vgl. Baring, Außenpolitik (Fn. 20), S. 221-249; Pikart, Heuss (Fn. 20), S. 100-113.
In diesem Sinne z. B. auch Heuss an Willi Richter, 22.3.1959, in: SBTH, Bundespräsidialamt, Amtszeit Heuss,
B 122, 5056 (= BArch).
Vgl. Heuss, Theodor: „Die Politik ist das Schicksal“, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 3.1.1958, S. 1 f.
Vgl. Adenauer an Heuss, 2.1.1958, in: Heuss / Adenauer, Vaterlande (Fn. 9), S. 198; Heuss an Adenauer,
3.1.1958, in: ebd., S. 198 f.
dent also politisch neutral sein und über den Parteien stehen, er sollte das Ausland kennen
sowie geistreich, väterlich, weise, humorvoll und vor allem ein guter Redner sein.35 Das
heißt, das Amt wurde nun überwiegend im Sinne der Amtsführung von Heuss gedeutet.
Folglich sahen sich auch seine Amtsnachfolger gezwungen, an sein repräsentatives Amtsverständnis anzuknüpfen. Als Erster musste sogleich Heinrich Lübke einsehen, dass sich sein
Anspruch, sich nicht mit der von seinem Vorgänger praktizierten Zurückhaltung in der Tagespolitik begnügen zu wollen, kaum durchführen ließ. Er trat mit dem erklärten Ziel an, als
politischer Bundespräsident in Erscheinung zu treten, und sollte damit letztlich auf der ganzen Linie scheitern.36 Heuss’ Amtsführung hatte nämlich eine rechtlich relevante Verfassungspraxis geschaffen, die nun auch Lübke deutliche Grenzen auferlegte. Es gehört zu den
Eigentümlichkeiten der Geschichte, dass damit eine historische Ausnahmesituation, nämlich
die fragile und krisenhafte Ausganglage der neugegründeten Bundesrepublik zu Beginn der
1950er Jahre eine solche Wirkung entfaltete, dass sie auch die Verfassungspraxis eines etablierten und weitgehend krisenfesten Staatsgebildes, nachdem die Anfangsphase längst vorüber war, über Jahrzehnte prägte. Dass diese prägende Wirkung von Heuss bis in die Gegenwart anhält, zeigt sich beispielsweise darin, dass der neunte Bundespräsident Horst Köhler Theodor Heuss ausdrücklich zu seinem Vorbild erklärte.37
Heuss agierte somit als Bundespräsident überaus erfolgreich. Mit seiner auf die symbolische Repräsentation ausgerichteten Amtsführung und seinem betont ungezwungenen und
bildungsbürgerlichen Auftreten traf er die Bedürfnisse der bundesdeutschen Bevölkerung. Er
wirkte in einem hohen Maße integrierend, indem er durch Anknüpfung an die deutsche Nationalgeschichte Tradition stiftete und zugleich einen Bruch mit dem Nationalsozialismus
vollzog. Dies kam bereits durch die große Zustimmung zum Ausdruck, die er bei seiner
Wiederwahl am 17. Juli 1954 durch die Bundesversammlung spüren durfte. Auf ihn entfielen
über 85 % der abgegebenen Stimmen. Als sich das Ende seiner zweiten Amtszeit näherte,
wurde sogar überlegt, das Grundgesetz zu ändern, um ihm eine dritte Amtszeit zu ermöglichen. Diese Initiative wurde aber nicht weiterverfolgt, auch weil er selbst sie als eine „glatte
Verlegenheitslösung“ bezeichnete.38 Während sich im August 1950 nur 42 % der Befragten
mit der Amtsführung von Heuss einverstanden erklärt hatten, gaben im Juli 1959 bei der bereits erwähnten Meinungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 84 % an, dass
ihnen Heuss als Bundespräsident gut bzw. ausgezeichnet gefalle.39 Bei dieser Zustimmungsquote am Ende von Heuss’ Amtszeit handelt es sich um einen Spitzenwert, der nur äußerst
selten wieder von einem aktiven deutschen Politiker erreicht wurde.
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Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach am Bodensee: Die Stimmung im Bundesgebiet. Bilanz für Professor
Heuss, 11.8.1959, in: SBTH, Bundespräsidialamt, Amtszeit Heuss, B 122, 253b (= BArch).
Vgl. Morsey, Rudolf: Heinrich Lübke. Eine politische Biographie, Paderborn u. a. 1996, insbesondere S. 588.
Vgl. Köhler, Horst: „Der unvergleichliche Bundespräsident“. Ansprache zum 125. Geburtstag von Bundespräsident Theodor Heuss in Brackenheim, 31.1.2009, in: Ders., Reden und Interviews, Band 5: 1.7.2008 - 30.6.
2009, S. 289-294, hier S. 292 f.
Heuss, Theodor: „Bemerkungen zur Bundespräsidenten-Frage“, Ende Dezember 1958/10.1.1959, in: Heuss /
Adenauer, Vaterlande (Fn. 9), 262-269, hier S. 264.
Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach am Bodensee: Die Stimmung im Bundesgebiet. Bilanz für Professor
Heuss, 11.8.1959, in: SBTH, Bundespräsidialamt, Amtszeit Heuss, B 122, 253b (= BArch).
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