Politik braucht Menschen - Theo Waigel zum 80. Geburtstag - Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler

Politik braucht Menschen – Theo Waigel zum 80. Geburtstag

Europasymposium der CSU
München, 29. April 2019



Nach zwei wunderschönen Wochen im Chiemgau freue ich mich, vor der Rückkehr nach Berlin noch einmal in München Zwischenstopp zu machen. Und ich habe auch eine spitzbübische Freude daran, dass ich als Schwabe, der seinen Zweitwohnsitz in Bayern hat, heute über jemanden sprechen darf, der von dort herkommt, wo Schwaben sich mit Bayern küsst.

Theo Waigel feiert seinen 80. Geburtstag, zumindest wenn man in reinen Menschenjahren rechnet. Du selbst, lieber Theo, berechnest ja deine neun Jahre Zeit als Bundesfinanzminister in Hundejahren, also mal sieben. Das heißt, du bist heute 71 + 9 mal 7 Jahre alt, also 134. Und da sind die Alterungsprozesse, die man als CSU-Vorsitzender mitmacht, noch gar nicht mit einberechnet! In diesem Sinne: Gut siehst du aus, lieber Theo – herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Vor genau dreißig Jahren hat sich mein Schicksal mit dem von Theo Waigel gekreuzt, und seitdem hat Theo nicht nur Deutschlands, sondern auch meinen Weg verändert. Ich war Abteilungsleiter unter Bundesfinanzminister Stoltenberg, und habe dort viel gelernt. Nachdem Waigel am 21. April 1989 neuer Minister geworden war, machte er mich nach einigen Monaten des gegenseitigen Beschnupperns zu seinem Staatssekretär. Weder Theo Waigel noch ich ahnten, was schon sehr bald auf uns zukommen würde.

Minister Waigel brachte eine gewisse süddeutsche Jovialität ins Bundesfinanzministerium. Sein Lachen hallte oft durch den Flur der Leitungsebene des BMF in Bonn. Mir, der ich mich damals noch als recht knochentrockenen Ökonom empfand, fiel schnell auf, dass dieser philosophisch angehauchte Jurist jemand war, der sowohl über den Tellerrand als auch in die Ferne blicken konnte. Ich erinnere mich an unsere ersten Gespräche, in denen es nicht nur um Finanzpolitik ging, sondern auch um Geschichte, um Europa, um die Grundfragen von Politik. Neugierde ist eine wichtige Tugend ganz besonders für neue Minister – nichts schlimmer als ein Politiker, der schon alles zu wissen glaubt – und da hatte uns Theo Waigel mit seinem Wissensdurst und seinem Interesse alle angenehm überrascht. Er war kein Buchhalter und kein Zahlenknecht, sondern ein echter Gestalter, der die großen politischen Zusammenhänge sah – für einen Bundesfinanzminister, der relevant sein will, keine schlechte Voraussetzung.

Nur wenige Monate nachdem wir an der Spitze des Finanzministeriums unsere Arbeit aufgenommen hatten, gerieten wir mitten ins Auge des großen Sturmes, der nach dem Mauerfall durch Deutschland und Europa fegte: Deutsch-deutsche Währungsunion, deutsche Vereinigung, Abzug der sowjetischen Truppen, Maastrichter Vertrag über die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Das waren harte Jahre, die den Finanzminister und sein Team weiß Gott bis an die physischen und psychischen Belastungsgrenzen brachte. Tragfähige Entscheidungen kann man in solchen Extremsituationen nur treffen, wenn man einen klaren Kompass hat, fast schon einen Instinkt für das Richtige. Theo Waigel besitzt diesen Kompass, diesen Instinkt für das Richtige. Es war deshalb ein Glücksfall für Deutschland, dass wir in dieser Zeit Theo Waigel hatten. Für ihn waren sowohl die Wiedervereinigung als auch die Einführung des Euro noch im Jahrhundert der zwei Weltkriege historische Friedenprojekte für ein neues Europa. Ich erinnere mich an ein recht frühes Gespräch mit ihm, da sagte er mir: „Herr Köhler, da werden wir viel Arbeit bekommen. Aber wir müssen das machen.“ Und dann erzählte er mir seine persönliche Geschichte, wie sein Vater im ersten Weltkrieg gekämpft hatte, wie sein älterer Bruder 18jährig im zweiten Weltkrieg gefallen war. Aus dieser tiefen persönlichen Erfahrung entwickelte er, wie auch Helmut Kohl, eine ungeheure politische Kraft und Orientierung für Europa.

Aus heutiger Sicht wirken viele der europäischen Errungenschaften selbstverständlich. Das waren sie aber keinesfalls. Ganz im Gegenteil, gerade in der CSU hat Theo Waigel damals massiv Gegenwind bekommen, die Idee des Euros wurde als „Esperantogeld“ verspottet, und die Wiedervereinigung war nicht überall beliebt. Später, als die Kosten der Wiedervereinigung immer deutlicher wurden, musste der Finanzminister auch ein mediales negatives Trommelfeuer ertragen. Mir ringt es bis heute großen Respekt ab, dass Theo Waigel das nicht nur ausgestanden hat, nie die Nerven verlor, sondern dabei stets konstruktiv und zuversichtlich geblieben ist. Die Verantwortung, die er spürte, die Vision die er hatte, die innere Kraft, aus der er schöpfte, sie haben in dieser historischen Phase gestaltende Politik möglich gemacht, die mehr war als nur Reaktion. Natürlich war und ist auch der Waigel ein Fuchs, ein ganz und gar gewiefter Politiker, der weiß, dass man manchmal auch Haken schlagen muss, um ans Ziel zu kommen. Aber der Kompass war immer klar. Undenkbar, dass er in bestimmten Grundfragen seine politische Strategie an den Meinungsumfragen ausgerichtet hätte.

Übrigens: Wenn ich mir heute so manches Gerede darüber anhöre, was man damals nicht alles hätte besser machen können, welche „Konstruktionsfehler“ man hätte vermeiden müssen bei der Währungsunion, dann frage ich mich schon, ob das nicht alles ein bisschen wohlfeil ist. Ja, wir kannten die Risiken, ja, wir mussten Unmögliches möglich machen, und nicht jeder Kompromiss war aus technischer Sicht der Beste – aber ich bin verdammt froh, dass wir Politiker wie Theo Waigel hatten, die inmitten des immensen Zeitdrucks, der Komplexität, der Kakophonie der öffentlichen Meinung, Mut zur Zukunft gezeigt haben. Übrigens bin ich davon überzeugt – wenn Sie mir dieses Urteil erlauben – dass Theo Waigel mit seinem Mut in diesen Jahren auch die Zukunft der CSU als bundes- und europaweit relevante Partei gesichert hat.

Theo Waigel ist es dabei immer gelungen, politische Standfestigkeit mit menschlicher Großzügigkeit zu verbinden. All die harten Verhandlungen, die nach dem Fall der Mauer aufgenommen werden mussten, führte er nicht zuletzt dank seiner Menschlichkeit zum Erfolg. Mit seiner Fähigkeit, der anderen Seite konstruktiv und respektvoll, oft mit Humor, zu begegnen und ihren Hoffnungen und Erwartungen nicht einfach frontal entgegenzutreten, vermochte er es auch in den schwierigsten Situationen Brücken zu bauen. Er sah den anderen immer als Mensch, und blieb selbst immer als Mensch erkennbar. Er hatte auch bei gegensätzlichen Interessen stets die dauerhafte Zusammenarbeit im Blick: Ihn interessierte nicht der kurzfristige Deal, sondern die langfristige Lösung. Das Duo Finanzminister Waigel und Staatssekretär Köhler funktionierte dabei gelegentlich nach dem Prinzip „Good cop – bad cop“: natürlich war Theo Waigel der Gute, und ich musste das Krokodil spielen. Ich war und bin ihm dankbar, dass er dabei immer ein großes Vertrauen in mich hatte und immer genau wusste, wann er seinen Unterhändler laufen lassen musste.

Sowohl Bundeskanzler Kohl als auch Bundesfinanzminister Waigel hatten mir etwa für die Verhandlungen über den Abzug der Sowjetischen Truppen eingeschärft, mit der Roten Armee stets respektvoll umzugehen. Ich glaube, dass es nicht zuletzt dieser Einstellung zu verdanken ist, dass der Truppenabzug inmitten einer fragilen globalen Umbruchssituation gelungen ist – ohne, dass ein einziger Schuss fiel. Aus der Perspektive von heute erscheint mir das immer mehr wie ein Wunder, und ohne Theo Waigel und seine Politik des Respektes hätte es dieses Wunder nicht gegeben.

Dass seine große innere Überzeugung, jedem Menschen mit Anstand zu begegnen, in der Politik auch manchmal als Schwäche wahrgenommen und ausgenutzt wurde, das zählt in meinen Augen zu den tragischen Aspekten seines politischen Lebens. In deiner großartigen Rede zu deiner Ernennung zum Ehrensenator an der Hochschule für Philosophie in München hast du gesagt, lieber Theo, dass dich ein Satz lange begleitet hat: „Jedes Leben ist ein tragisches Leben“. Mir sind unsere Gespräche auf den Rückflügen von G7 und europäischen Finanzministertreffen in Erinnerung, wo du über das Leben eines Politikers reflektiert hast, über Verletzungen, die dir in der Politik zugefügt wurden, auch in deiner eigenen Partei.

Ich frage mich immer wieder, welchen Platz unsere menschlichen Verletzlichkeiten in der Politik haben können, haben dürfen. Ich glaube, dass Zweifel, auch Unvollkommenheit der politisch Handelnden sogar Voraussetzungen sind für gute Politik, weil sie Quelle von Empathie sind – und ohne Empathie kann keine Demokratie funktionieren. Wer möchte schon von Soziopathen regiert werden? Oder, das ist vielleicht die aktuellere Frage: Wer möchte von Algorithmen regiert werden? Aus der vollen menschlichen Erfahrung heraus Politik machen zu können, Politik von Menschen für Menschen, in all ihrer Krummholzigkeit und all ihrer Resilienz, das ist ein Geschenk und keine Schwäche.

Um dieses Geschenk annehmen zu können braucht unsere Demokratie aber einen Grundkonsens. Theo Waigel würde diesen Grundkonsens wohl „Anstand“ nennen – den politischen Gegner oder den innerparteilichen Rivalen immer noch als Menschen zu sehen und zu behandeln. Dieser Konsens ist brüchig geworden. Es ist ja zum Beispiel in einigen Kreisen (besonders rechts der Mitte) en vogue, diese Grundidee des Anstands als vermeintliche „politische Korrektheit“ lächerlich zu machen. Warum aber nun die Anarchie, das „anything goes“ in der politischen Kultur ausgerechnet eine konservative Tugend geworden sein soll, das erschließt sich mir nicht wirklich. Natürlich hemmen Denkverbote die politische Phantasie, aber dennoch darf, muss es im Umgang miteinander auch Tabus, auch Grenzen geben. Michel Foucault schrieb, dass der Mensch „nicht mit der Freiheit, sondern mit der Grenze und der Scheidelinie des Unübertretbaren beginnt“. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel. Theo Waigel war da immer grundanständig. Nicht immer wurde ihm das entlohnt. Die Unerbittlichkeit, Gehässigkeit jedenfalls, die auch heute immer mehr unseren politischen Diskurs vergiftet, der Grenzübertritt als bewusste politische Methode – wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, dass die Anstandslosigkeit im Umgang miteinander irgendwann auch zur Anstandslosigkeit im politischen Handeln führt.

Dabei brauchen wir doch das Gegenteil: In einer Welt, die diverser und komplexer ist als jemals zuvor, brauchen wir dringend die Fähigkeit, die Perspektiven auch der anderen zu sehen, und unsere eigene Unvollkommenheit nicht als Makel, sondern als Ausgangspunkt für Dialog und gegenseitiges Lernen zu verstehen. In einer Welt, die zunehmend nach einer Logik der Entgrenzung in allen Lebensbereichen funktioniert, müssen wir den Wert der Selbstbegrenzung im politischen Sprechen und Handeln wieder neu erkennen. In einer Welt, in der die Rüpel Chaos stiften, müssen diejenigen, die Ordnung wollen, umso anständiger sein. In deiner Ehrensenatorenrede zitierst du, Theo, Joseph Bernhart’s Wort aus dessen Werk „Der christliche Staatsmann“. Er schreibt: „Wir sind geschaffen die Ordnung der Dinge zu erkennen, und uns selbst in Ordnung zu bringen.“ Und du fügst dem hinzu: „besser kann man den sittlichen Auftrag des Politischen nicht formulieren“. Ich stimme dir hier zu.

Die Ordnung der Dinge zu erkennen und uns selbst in Ordnung zu bringen: besser kann man auch das Programm nicht formulieren, das sich die Europäische Union vorzunehmen hat in diesen turbulenten Zeiten. Wir werden ja gleich eine Diskussion aus berufenem Munde zu Europa hören, deshalb möchte ich an dieser Stelle nicht viel dazu sagen. Nur dies: Das europäische Lebenswerk von Theo Waigel hat eine immense Dringlichkeit bekommen, weit über unseren Kontinent hinaus. Was wäre in der heutigen Welt los, gäbe es Europa nicht, so unvollkommen es auch ist? Europa bedeutet über viele Jahrhunderte erkämpfte Werte, Europa bedeutet Anstand, Europa ist der Glaube, dass es sehr wohl möglich ist, Ordnung ins Chaos zu bringen! Die Erfahrung Europas, wie diese Werte, wie dieser Glaube entstanden sind, sie ist gerade in der heutigen Welt des Umbruchs von unschätzbarem Wert. Wir haben der Welt viel zu geben, und wir sollten stolz darauf sein! Und übrigens merken wir ja in diesen auseinanderfallenden Zeiten auch, wie wichtig die gemeinsame Währung ist, für die Theo Waigel so gekämpft hat: Weil die europäische. Jugend sie längst als Teil ihrer Identität entdeckt hat, weil sie uns Europäern Gewicht gibt, weil diese Währung ein Anker für Multilateralismus ist, und, ja, weil sie den politischen Missbrauch von Währungsdominanz etwas entgegen setzen kann. Es ist gut, dass sich die CSU wieder klar als Europapartei ausgewiesen hat.

Meine Damen und Herren,

bevor ich zum Schluss komme, möchte ich meinen Hut vor einer Person ziehen, die nicht Theo heißt, aber vielleicht ein Schlüssel für die Erklärung des Phänomens Theo Waigels ist: Irene Epple-Waigel. Wenn ich an dich denke, Irene, habe ich immer das Bild unseres ersten gemeinsamen Skiausflugs vor Augen. Ich gurkte da irgendwie auf den Brettern rum, während Irene über der Piste schwebte. Wie sie Eleganz mit Zielstrebigkeit, Energie mit Einfühlungsvermögen verbindet, das ist einzigartig. Für Theo Waigel ist sie damit eine Kraft, eine Partnerin, die ihm immer wieder geholfen hat, die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen. Liebe Irene, du bist kein lauter Mensch, aber ein starker. Danke, dass du da warst; danke, dass du da bist.

Lieber Theo,

du hast Übermenschliches geleistet und bist dabei doch immer Mensch geblieben.

Bayern, deine Heimat, hat dir viel zu verdanken. Deutschland, dein Vaterland, hat dir viel zu verdanken. Und Europa, unsere Zukunft, hat dir viel zu verdanken. Ich hoffe, dass du einen Hauch dieser Dankbarkeit heute verspürst.

Und ich hoffe, dass du uns mit deinem Rückgrat, deinem Kompass, deinem Humor und deinem Anstand noch lange erhalten bleibst. Wir brauchen deine Stimme. In Bayern, in Deutschland und in Europa.

Ich wünsche dir viel Freude am Älterwerden – möge jedes Jahr ein volles, erfülltes Menschenjahr sein.

Ad multos annos!