Opfer oder Heldin? Ein Q&A zum Weltfrauentag
- 05.03.2024
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Am 8. März jährt sich zum 113. Mal der Internationale Weltfrauentag. Eingeführt wurde dieser Jahrestag auf Initiative sozialistischer Organisationen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Damals ging es um den Kampf für das Frauenwahlrecht, die Gleichberechtigung und die Emanzipation.
Seither hat sich in all diesen Bereichen sehr viel verändert – und zwar zum Guten. Frauen und Männer sind heute in allen demokratischen Staaten gesetzlich gleichgestellt; in manchen Bereichen werden Frauen sogar bevorzugt. Oft gehen diese enormen Fortschritte in der Genderdebatte unter oder werden jedenfalls nicht ausreichend gewürdigt. Viel populärer ist es nach wie vor, Frauen in ihrer scheinbaren Opferrolle zu bestätigen. Auch am heurigen Frauentag wird wohl wieder ausgiebig über die Geringschätzung weiblicher Arbeit und den daraus resultierenden Gender Pay Gap geklagt. Wir haben uns angesehen, welche Beschwerden berechtigt sind und wo die Aktivistinnen falsch liegen.
Stimmt es, dass der Gender Pay Gap in Österreich besonders groß ist?
Im internationalen Vergleich steht Österreich tatsächlich nicht sonderlich gut da. Der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen ist bei uns höher als in vielen anderen Ländern (Abbildung 1). Im Jahr 2022 betrug der durchschnittliche Gender Pay Gap in Österreich (ohne öffentlich Bedienstete) 18,4 Prozent, während er etwa in Spanien nur bei etwas mehr als acht Prozent lag und in Luxemburg sogar negativ ausfiel; Frauen verdienten dort also im Schnitt bereits mehr als Männer.
Aber wie so oft gilt: The definition matters. Der Unterschied zwischen den Gehältern lässt sich nämlich zu einem großen Teil erklären – und zwar nicht mit Frauenfeindlichkeit, sondern mit Besonderheiten des heimischen Arbeitsmarkts. Es trifft auch nicht zu, dass die Situation immer gleich schlecht bleibt, wie vielfach beklagt wird. Die Lücke hat sich in allen europäischen Ländern, auch in Österreich, im Zeitverlauf deutlich verkleinert (Abbildung 2).
Was ist bei uns anders?
In Österreich sind 70 Prozent der 15- bis 64-jährigen Frauen erwerbstätig, die Erwerbsquote ist im internationalen Vergleich also relativ hoch. Doch mittlerweile sind mehr als 50 Prozent der Frauen in Teilzeit tätig, bei den Männern sind es nicht einmal 13 Prozent.1 In den von Eurostat verwendeten Daten wird das Arbeitsausmaß nicht berücksichtigt; Voll- und Teilzeitbeschäftigte werden gleich bewertet. Deshalb fällt der Unterschied in den Bruttogehältern zwischen Männern und Frauen besonders hoch aus.
Zieht man zur Berechnung des Gender Pay Gap alle Voll- und Teilzeitbeschäftigten heran und berücksichtigt auch die in der internationalen Definition vernachlässigten Wirtschaftsbereiche, ergibt sich in Österreich eine Gehaltslücke von 34,7 Prozent.2 Vergleicht man dagegen die Gehälter von ganzjährig in Vollzeit Beschäftigten, bleibt ein Gap von nur noch 12,4 Prozent.
Gibt es die „Frauenberufe“ noch?
Selbstverständlich wäre auch dieser deutlich niedrigere Wert ein Grund zur Besorgnis, wenn er tatsächlich vollständig auf Diskriminierung beruhen würde. Doch das ist nicht der Fall. Ein großer Teil der verbleibenden Lücke ist historisch gewachsen und lässt sich durch Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Branchen oder auch zwischen einzelnen Berufen erklären.3 Wirtschaftsbereiche mit besonders hohen Bruttogehältern wie etwa der Energie- oder IT-Sektor sind stark von Männern dominiert. In überwiegend von Frauen gewählten Bereichen – etwa Pflege und Gastronomie – fallen die Gehälter im Schnitt weitaus niedriger aus (Abbildung 3).
An dieser Aufteilung wird sich so schnell auch nichts ändern. Sowohl die Lehrlingsstatistiken wie auch die Erhebungen in weiterführenden Schulen und Studiengängen zeigen klar, dass Mädchen weiterhin stark zu geistes- und sozialwissenschaftlichen Berufen tendieren, während technische Ausbildungen viel seltener in Erwägung gezogen werden (Abbildung 4). Der beliebteste Lehrberuf ist bei Mädchen seit Jahren Einzelhandelskauffrau, bei den Burschen belegen Elektro, Metall- und Kraftfahrzeugtechnik die Spitzenplätze (Abbildung 5).
Allerdings hat die Fokussierung der Frauen auf bestimmte Branchen nicht nur Nachteile: Pflegerinnen, Verkäuferinnen und Servierkräfte verdienen zwar vergleichsweise schlecht, werden in den kommenden Jahren aber viel weniger stark dem Druck durch Automatisierung ausgesetzt sein als Programmierer oder Büroangestellte. Vor Arbeitslosigkeit müssen sich Frauen also sogar weniger fürchten als Männer.
Was versteht man unter Motherhood Pay Gap?
Für das Gehaltsniveau ebenso entscheidend wie die Branche sind Faktoren wie die Berufserfahrung und die aktiv gearbeiteten Jahre. Die Geburt eines Kindes kann deshalb vor allem für die Mutter zum wesentlichsten Einschnitt ihres Berufslebens führen. Denn Kinderbetreuung ist in Österreich (fast) alleinige Frauensache. 96 Prozent der Erwerbstätigen in Elternkarenz sind weiblich.
Ein EU-Vergleich der Beschäftigungsmuster von Eltern mit Kindern unter 14 Jahren zeigt, dass es nur in den Niederlanden noch mehr Familien als in Österreich gibt, in denen nicht beide Elternteile Vollzeit arbeiten. Das klassische Familienbild, wonach nur der Vater seine Karriere ungestört weiterverfolgt, während die Mutter zurücksteckt, ist nach wie vor fest in den Köpfen vieler Österreicher verankert (Abbildung 6).
Junge Väter arbeiten nach der Familiengründung tendenziell mehr und länger als vorher. Viele junge Mütter dagegen kehren nach der Karenz nicht mehr voll ins Berufsleben zurück oder müssen sich mit Positionen zufriedengeben, die weit unter ihren Qualifikationen liegen (Abbildungen 7, 8). Deshalb verdienen Mütter auch lange nach der Elternkarenz deutlich weniger als kinderlose Frauen.
In kaum einem anderen EU-Land ist die „Motherhood Penalty“ größer als in Österreich (Abbildung 9). Das führt zu lebenslangen Erwerbsnachteilen und dementsprechend auch zu niedrigeren Pensionen. Die Gefahr von Altersarmut ist daher für Frauen viel höher als für Männer. 4
Angesichts dieser Fakten sollen wir eher von einem Motherhood Pay Gap sprechen als von einem Gender Pay Gap. Zudem – da Erwerbsaktivität und Weiterbildung entscheidend sind, um sich beruflich ständig weiterzuentwickeln – wird im Zuge der Humankapitaltheorie argumentiert, dass die erwerbsfreie Zeit sich nachhaltig auf die Weiterentwicklung der Kompetenzen und damit auf berufliche Chancen auswirkt.5
Wie groß ist der Gender Gap also tatsächlich?
Auch wenn man alle genannten Faktoren berücksichtigt, verdienen Frauen und Männer in Österreich nicht gleich viel. Der Unterschied ist aber sehr viel kleiner als meistens angenommen und dürfte höchstens wenige Prozent betragen. Hier kann auch Diskriminierung eine Rolle spielen. Doch damit muss man sich nicht abfinden. Politik und Gesellschaft können eine Reihe von Maßnahmen setzen, um den Unterschied noch kleiner zu machen.
Was muss getan werden?
- An den Berufspräferenzen der Frauen wird sich im großen Stil wohl nichts ändern lassen. Aber es bleibt wichtig, Mädchen für technische Berufe zu begeistern und immer wieder Versuche zu unternehmen, sie auch für MINT-Fächer zu gewinnen.6
- Ein starker Hebel ist ein Ausbau der Kinderbetreuung. Nur wenn es flächendeckend – also auch in ländlichen Gebieten – ein hochwertiges Angebot gibt, herrscht wirklich Wahlfreiheit für beide Elternteile. Derzeit schafft es nur Wien, so gut wie allen Kindern umfassende Betreuung anzubieten.
- Wünschenswert wäre auch der Ausbau von ganztägigen Schulformen, in denen die Kinder am Nachmittag nicht nur beaufsichtigt werden, sondern die Zeit effektiv nutzen können – etwa um ihre Hausaufgaben zu erledigen, Unterrichtsdefizite auszugleichen oder Sport zu betreiben.
- Der Karriere-Stolperstein schlechthin für Frauen ist derzeit die Karenz. Zwar steht es natürlich beiden Elternteilen offen, nach der Geburt des Kindes eine Zeit lang daheim zu bleiben, doch genutzt wird diese Möglichkeit fast nur von Müttern. Kürzere Karenzzeiten und eine stärkere Beteiligung von Vätern wären ein wichtiger Beitrag zur Schließung des Pay Gap. Vorstellbar ist etwa folgende Regelung: Jeder Elternteil kann maximal für ein Jahr in Karenz gehen. Nimmt ein Partner dieses Recht nicht in Anspruch, kann es nicht auf den anderen übertragen werden.
- Frauen in Österreich leben durchschnittlich drei Jahre länger als Männer und sind somit mehr als ein Vierteljahrhundert lang in Pension. Warum also den Pensionsantritt nicht ein wenig hinausschieben? Bis zu 36 Monate über das reguläre Antrittsalter hinaus ist das möglich und wird durch kräftige Zuschläge zum Pensionskonto belohnt.
- Außerdem schnappt die Teilzeitfalle vor allem für Frauen zu. Derzeit schlägt die Steuerprogression besonders beim Aufstocken von Teil- auf Vollzeit gnadenlos zu. Für viele zahlt es sich finanziell nicht aus, mehr zu arbeiten – die Vollzeitbeschäftigung verliert zunehmend an Attraktivität. Tatsächlich ist Vollzeitarbeit in kaum einem anderen europäischen Land so unattraktiv wie in Österreich. Durchschnittsverdienende müssen derzeit fast die Hälfte ihres Einkommens an den Staat abgeben.
- Hier könnte die Politik gegensteuern und das Steuersystem so verändern, dass sich Mehrarbeit lohnt. Es braucht vor allem Tarifsenkungen im mittleren und auch im oberen Einkommenssegment. Auch ein Sonderabsetzbetrag für Vollzeitbeschäftigte hätte die Wirkung, Vollzeitarbeit schmackhafter zu machen.
Und wie sieht das Fazit zum Weltfrauentag 2024 aus?
Wie beschrieben hat sich bereits einiges getan. Es gibt aber durchaus noch Spielraum für Verbesserungen. Obwohl ein Gehaltsunterschied von null Prozent allein schon wegen der hierzulande starken Branchenunterschiede unrealistisch ist, können strukturelle Maßnahmen und mehr Alternativen zum traditionellen österreichischen Familienmodell die Gehaltslücke zwischen Frauen und Männern weiter senken.
Letztlich geht es um Selbstermächtigung. Frauen müssen darin bestärkt werden, die ihnen offenstehenden Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen. Derzeit werden zu viele noch daran gehindert, ihr ganzes Potenzial umzusetzen. Das lässt sich ändern, wenn gesellschaftliche Rollenbilder aufgebrochen und die Kinderbetreuung sowie andere familiäre Pflichten fairer aufgeteilt werden.
Es bringt dagegen gar nichts, den Frauen die ewige Opferrolle zuzuschreiben. Das verdeckt reale Handlungsoptionen und führt zu einem “Kampf der Geschlechter”, der niemandem weiterhilft. Frauen sind nicht machtlos. Sie haben es zu einem wesentlichen Teil selbst in der Hand, den Pay Gap weiter zu schließen. Die Politik muss sie dabei unterstützen, ganz abnehmen kann der Staat den Frauen diese Verantwortung aber nicht.
- Teilzeit meint Tätigkeiten mit einem maximalen Arbeitsausmaß von höchstens 35 Wochenstunden in einer regulären Arbeitswoche. ↩︎
- Im internationalen Indikator ausgeschlossen sind die Landwirtschaft (A), private Haushalte (T), öffentliche Verwaltung (O) und exterritoriale Organisationen (X). ↩︎
- Siehe dazu Christl & Köppl-Turyna (2020). ↩︎
- Siehe dazu Cukrowska-Torzewska & Matysiak (2020), Kleven et al. (2018). ↩︎
- Siehe dazu Becker (1985) ↩︎
- In Wien findet beispielsweise jährlich der „Girls Day“ statt, in Oberösterreich gibt es seit 18 Jahren die „Power Girls“. Auf Bundesebene, wurde 2021 zum ersten Mal die „Mint-Girls Challenge“ veranstaltet. ↩︎
Literatur
- Becker, G. S. (1985). Human capital, effort, and the sexual division of labor. Journal of labor economics, 3(1, Part 2), S33-S58. https://www.jstor.org/stable/pdf/2534997.pdf?casa_token=BT-oid1Do3sAAAAA:Ly6ZKJuYnMpZsnw_4eAggco-XiNMdB1C9NLlWpdmqhDTv_tsCjd5Ye3frhn5epVhbtApdg1N_m5eNYH33A5bTeNFFbFaWzjVssISpghaPlqb4bQST3c
- Christl, M., & Köppl–Turyna, M. (2020). Gender wage gap and the role of skills and tasks: evidence from the Austrian PIAAC data set. Applied Economics, 52(2), 113-134. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00036846.2019.1630707
- Cukrowska-Torzewska, E., & Matysiak, A. (2020). The motherhood wage penalty: A meta-analysis. Social science research, 88, 102416. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0049089X20300144
- Kleven, H., Landais, C., Posch, J., Steinhauer, A., & Zweimüller, J. (2019, May). Child penalties across countries: Evidence and explanations. In AEA Papers and Proceedings (Vol. 109, pp. 122-126). 2014 Broadway, Suite 305, Nashville, TN 37203: American Economic Association. https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/pandp.20191078
- Kleven, H., Landais, C., & Leite-Mariante, G. (2023). The child penalty atlas (No. w31649). National Bureau of Economic Research. https://www.nber.org/papers/w31649
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