Seltene Erkrankungen sind für Akut- und Notfallmediziner*Innen und auch für Intensivmediziner*Innen in einer Akutsituation eine Herausforderung, insbesondere wenn die Erkrankung noch nicht diagnostiziert wurde. In einer Annäherung an eine Definition seltener Erkrankungen wurde 2015 vorgeschlagen, eine Krankheitsprävalenz von 40–50 Fällen/100.000 Einwohnern als Grundlage für die Charakterisierung als seltene Erkrankung zugrunde zu legen [1]. Im Jahr 1999 definierte das Europäische Parlament eine Krankheit als selten, wenn < 1/2000 Menschen in der europäischen Bevölkerung betroffen ist.

Bezüglich der Diagnostik seltener Erkrankungen in der Notfallmedizin sind Besonderheiten zu beachten

Das bedeutet, dass Notfallkliniken, die häufig Einzugsgebiete mit deutlich mehr als 100.000 Einwohnern haben, immer wieder Patienten mit seltenen Erkrankungen behandeln müssen. Das ist Notfallmediziner*Innen bewusst und es gibt beträchtliche Unsicherheit bei den Behandlungsteams, welche Strategien geeignet sind, seltene Krankheiten bestmöglich zu detektieren und zu behandeln. In einer Umfrage unter chinesischen Notfallmedizinern wurde eine spezifische Berücksichtigung von seltenen Erkrankungen in der Weiterbildung gewünscht [2]. Es ist sicherlich von großem Nutzen, gerade die seltenen Erkrankungen zu kennen, die in ihrer Manifestation so akut und massiv auftreten, dass wahrscheinlich notfallmedizinische Hilfe aufgesucht wird, wie es z. B. bei der akuten hepatischen Porphyrie der Fall ist. Deswegen werden in der vorliegenden Ausgabe einige seltene Erkrankungen mit besonderer akutmedizinischer Relevanz dargestellt.

Bezüglich der Diagnostik seltener Erkrankungen in der Notfallmedizin sind einige Besonderheiten zu beachten. Gerade in bedrohlichen Situationen ohne pathognomonische diagnostische Zeichen wird es sehr schwierig bis unmöglich sein, eine seltene Erkrankung zu erkennen und zu diagnostizieren. Weil die zeitkritischen Erstmaßnahmen in der Akutmedizin ohnehin primär symptomorientiert sind, ist eine sofortige exakte Diagnose meist nicht erforderlich. Bei einem hereditären Angioödem mit lebensgefährlicher Bedrohung der Atemwege steht z. B. die Atemwegssicherung in der ersten Phase im Vordergrund, lange bevor möglicherweise spezifische Medikamente helfen und ihre Wirkung entfalten können. Aber auch über die standardisierten Notfallinterventionen hinaus können die Notfallmediziner*Innen den weiteren diagnostischen und therapeutischen Ablauf bei noch nicht gestellter Diagnose auch bei noch unentdeckten seltenen Erkrankungen günstig beeinflussen.

Zweifel als Komponente des diagnostischen Prozesses

Im diagnostischen Ablauf sammelt die Akutmedizinerin in der Anamnese und körperlichen Untersuchung Informationen über das vorliegende Krankheitsbild. Oft entsteht aus anamnestischen Daten und klinischen Zeichen ein Muster, das auf dem Boden bereits erworbenen Wissens und Erfahrungen dann eine Zuordnung zu einer diagnostischen Kategorie erlaubt. Dieses heuristische Vorgehen ist stark abhängig von der Fähigkeit, Zeichen und Symptome zu erfassen, sowie dem Wissens- und Erfahrungsschatz, mit dem die neu gewonnenen Erkenntnisse abgeglichen werden können. Zu beachten sind auch psychologische Phänomene in der Diagnosefindung wie z. B. das Vorliegen eines subjektiven Bias, der dazu führen kann, Informationen auszublenden, die nicht in das Bild einer vermuteten, bevorzugten Diagnose passen.

Für die Detektion seltener Erkrankungen ist es deswegen erforderlich, besonders die Befunde zu würdigen, die nicht in ein Muster zu passen scheinen und an einer favorisierten Diagnose zweifeln lassen. Dieses Prinzip liegt der Empfehlung auf der ersten Seite des „Oxford Handbook of Emergency Medicine“ zugrunde, wo empfohlen wird: „Always follow nagging questions“. Immer nagenden Fragen zu folgen bedeutet, Zweifel als einen wichtigen Bestandteil der Diagnosefindung zu betrachten. Bei der Detektion von Informationen, die nicht zu einer vermuteten häufigen Diagnose passen, werden in Zukunft IT-Diagnoseunterstützungssysteme helfen können, auf Muster hinzuweisen, die zu einer seltenen Erkrankung passen könnten.

Auch wenn in der Notfallsituation oft nicht die Zeit bleibt, eine endgültige diagnostische Klärung herbeizuführen, ist es wichtig, gerade die Befunde zu erwähnen und weiterzugeben, die vermeintlich nicht zur Arbeitsdiagnose passen. Diese Informationsweitergabe bezüglich diagnostischer Unsicherheit erlaubt in der Folge ein gezieltes weiteres Vorgehen. Umgekehrt ist es wichtig, dass die notfallmedizinischen Abteilungen immer informiert werden, wenn sich im stationären Aufenthalt herausstellt, dass die Symptomatik einer seltenen, nichtentdeckten Erkrankung zu der Aufnahme geführt hat. Auf diese Weise entsteht ein lernendes System, das hilft, die diagnostischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

Wir hoffen, mit der Darstellung einiger besonders relevanter Krankheitsentitäten dazu beitragen zu können, die notfallmedizinische Versorgung seltener Krankheiten zu verbessern. Unser Dank gilt den Autoren und unsere Hoffnung ist, dass die Leser diese Ausgabe mit Gewinn lesen.

Prof. Dr. C. Dodt, Prof. Dr. H.-J. Busch