„Spurlos in Marseille“ (Degeto / Lailaps Pictures) erz�hlt die oft gesehene Geschichte eines Familienvaters, der �ber sich hinauswachsen muss, um seine Lieben zu besch�tzen: Als auf dem Weg in den Urlaub seine Frau verschwindet, muss sich Hausmann Bruno (Fabian Busch) mit m�chtigen Gegnern anlegen. Die Handlung erinnert mitunter verbl�ffend an die ebenfalls von der ARD-Tochter Degeto in Auftrag gegebene Charlotte-Link-Verfilmung „Die Entscheidung“, aber Roland Suso Richter hat daraus einen fesselnden Thriller gemacht, der vor allem visuell beeindruckt. Das Zusammenspiel von Kamera, Schnitt und Musik funktioniert �hnlich gut wie in seinem herausragenden letzten „Z�rich-Krimi“ („Borchert und die t�dliche Falle“). Entt�uschend ist allerdings der Schluss: Wenn die Degeto keine Fortsetzung in Auftrag gibt, endet die Geschichte ziemlich unbefriedigend.
Foto: Degeto / Roland Suso RichterHitchcock-Motiv. Bruno (Fabian Busch) kann allein Aliya (Sabrina Amali) vertrauen.
„Der Mann, der zuviel wusste“ oder auch „Zur falschen Zeit am falschen Ort“: „Spurlos in Marseille erz�hlt die klassische Hitchcock-Geschichte vom unbescholtenen B�rger, der Zeuge eines Verbrechens wird, fortan als M�rder gilt und nicht nur von den Gangstern, sondern auch von der Polizei gejagt wird. Fabian Busch ist eine ausgezeichnete Besetzung f�r derartige Rollen: Bruno Bassmann, ehedem Bootsbauer, nun Hausmann, muss weit �ber sich hinauswachsen, um seine Frau zu retten. Ihr gilt der Titel: Auf dem Weg in den s�dfranz�sischen Urlaub legt das Ehepaar einen Zwischenstopp in Marseille ein; Katja (Jeanne Tremsal) will sich mit einem ehemaligen Studienkollegen treffen. Als sie nicht zur�ckkehrt und die Aussage eines Kellners nahelegt, dass sie entf�hrt worden ist, wendet sich Bruno erst an die Polizei, dann ans deutsche Konsulat, aber beide k�nnen nicht viel ausrichten. Durch Zufall findet er raus, worum es geht: Seine Frau arbeitet f�r die Deutsche Allgemeine Zentralbank in Frankfurt und hat brisante Daten entwendet, die sie dem befreundeten Journalisten �bergeben wollte; Bruno findet den Mann kurz drauf tot in dessen Badewanne.
Foto: Degeto / Roland Suso RichterEntf�hrt. Katja (Jeanne Tremsal) arbeitet als IT-Expertin bei einer Frankfurter Bank.
Die Handlung des Drehbuchs von Gernot Kr�� erinnert verbl�ffend an die im Januar 2020 ausgestrahlte Charlotte-Link-Verfilmung „Die Entscheidung“. In dem nicht minder fesselnden Thriller spielt Felix Klare einen Familienvater, der gemeinsam mit einer Streunerin ohne eigenes Verschulden in ein Verbrechen verwickelt wird; das ungleiche Duo ger�t ebenfalls in Marseille ins Visier einer skrupellosen Organisation. Hier wie dort gibt es einen Stick mit belastendem Material, hinter dem die Verbrecher her sind. Die Rolle der jungen Komplizin wird in „Spurlos in Marseille“ von Sabrina Amali gespielt: Die schlechtgelaunte Taxifahrerin Aliya kann Bruno eigentlich nicht leiden, weil sie ihn f�r einen „schei�e deutsche B�rokratie-Spie�er“ h�lt, aber sie ist der einzige Mensch in Marseille, dem er vertrauen kann; au�erdem verliebt sie sich ein bisschen in ihn. Mit ihrer Hilfe findet Bruno raus, wer mutma�lich hinter Katjas Entf�hrung steckt: Die Spur f�hrt zu einem tunesischen Ex-Politiker, der enorme Summen unterschlagen und au�er Landes geschafft hat. Der lange Arm des Mannes reicht offenbar bis nach Frankfurt, denn auch die Wohnung der Bassmanns ist durchsucht worden.
Foto: Degeto / Roland Suso RichterRegisseur Roland Suso Richter und Kameramann Max Knauer sorgen daf�r, dass sich die archetypische Genre-Geschichte auch optisch sehen lassen kann. Busch & Amali
Regisseur Roland Suso Richter hat viele gro�e Filme �ber wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse gedreht, allen voran „Der Tunnel“ (2001), „Dresden“ (2006), „Mogadischu“ (2008) und „Die Spiegel-Aff�re“ (2014). Zuletzt hat er im Auftrag der ARD-Tochter Degeto den „Z�rich-Krimi“ auf ein h�heres Niveau gehoben. F�r diese Reihe ist mit „Borchert und die t�dliche Falle“ (2020) auch einer der besten Thriller dieses Jahres entstanden. Handwerklich sind sich die beiden Filme sehr �hnlich, zumal Richter erneut Max Knauer an seiner Seite hatte, der auch bei Richters gleichfalls sehenswertem Polit-Thriller „Jagd durch Prag“ (2018) aus der Degeto-Reihe „Die Diplomatin“ f�r die Bildgestaltung verantwortlich war; der Regisseur und der Kameramann erg�nzen sich offenbar kongenial. Eine Verfolgungsjagd �ber die D�cher von Marseille mag nicht so spektakul�r aussehen wie in einem Actionspektakel aus Hollywood, aber Bruno Bassmann ist ja auch nicht Jason Bourne. Davon abgesehen funktioniert das Zusammenspiel von Kamera, Schnitt und Musik �hnlich gut wie in dem „Z�rich-Krimi“. Viele Perspektivwechsel sorgen f�r eine enorme Handlungsdichte, h�ufige Schauplatzwechsel lassen den Film �berdurchschnittlich aufw�ndig wirken. Es gibt ohnehin hierzulande nicht viele Regisseure, deren Inszenierungen eine vergleichbare visuelle Kraft entfalten. Auch die Hochspannungsmusik von Arash Safaian, der schon bei dem Thriller „Der 7. Tag“ (2017) f�r Richter gearbeitet hat, ist fast zu gro� f�r handels�bliche TV-Lautsprecher.
Foto: Degeto / Roland Suso RichterEin unbescholtener Mann wei� zu viel und ger�t zwischen die Fronten. Fabian Busch
F�r den Autor ist „Spurlos in Marseille“ dagegen ein recht ungew�hnlicher Stoff. Kr��s Regiedeb�t war 1992 der Kinderkrimi „Die Distel“. Nach langer Pause folgten „Mein vergessenes Leben“ (2015, Buch und Regie), ein bewegendes Demenzdrama mit Robert Atzorn; „Sch�ne heile Welt“ (2019, Buch und Regie), eine sehenswerte Tragikom�die mit Richy M�ller als dauern�rgeliger Langzeitarbeitsloser, der sein Herz f�r einen kleinen Fl�chtling entdeckt; und schlie�lich „Wackersdorf“ (nur Buch, 2020), ein filmisches Denkmal f�r den aufm�pfigen Landrat, der den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in der Oberpfalz verhindert hat. Mit seinem j�ngsten Drehbuch hat Kr�� einen zwar nicht herausragenden, aber dank Richters Inszenierung fesselnden Thriller geschrieben. Dass nicht alle Wendungend er Handlung so �berraschend sind wie vom Autor geplant, ist nicht zuletzt eine Frage der Besetzung; so ist zum Beispiel schon fr�h klar, wer der eigentliche Schurke der Geschichte ist.
Soundtrack: Issam („Trap Boldi“), Booba („Elephant“, „Centurion“), Sanfara („Sikou Sikou“), Acid Arab feat. Sofiane Saidi („La Hafia”), M83 („Wait”)
Davon abgesehen ist die Auswahl der Schauspieler nahezu perfekt, zumal Richter auch f�r die Nebenfiguren markante Mitwirkende gewinnen konnte, allen voran Gitta Schweigh�fer als Gro�mutter. Jeanne Tremsal hat schon in Richters „Dipomatin“-Episode� „B�ses Spiel“ gezeigt, dass sie jenseits etwa des „Herzkinos“ im ZDF viel zu selten in gr��eren Rollen besetzt wird. Sabrina Amali wiederum, Schweizerin mit marokkanischen Wurzeln, hat bereits in einigen deutschen TV-Produktionen mitgespielt; ihre bislang pr�gnanteste Rolle war die einer jungen Polizistin, die in dem ZDF-Krimi „Gegen die Angst“ (2019) in ein Loyalit�tsdilemma ger�t. Vorz�glich gef�hrt ist auch Lea Weinkauf als Brunos Tochter. Anders als die Charlotte-Link-Adaption „Die Entscheidung“ wird „Spurlos in Marseille“ au�erdem dem Schauplatz gerecht: Brunos Hilflosigkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass er kein Franz�sisch kann; wenn sich Aliya auf Arabisch mit ihrer nordafrikanischen Familie unterh�lt, versteht er ohnehin kein Wort. Mit Bruno redet die Taxifahrerin allerdings Deutsch; daf�r bietet der Film eine ebenso schl�ssige Erkl�rung wie f�r ihre Antipathie gegen sein Heimatland. Sorgf�ltig ausgew�hlter franz�sisch-arabischer Ethno-Rap vermittelt das passende Lebensgef�hl, und Zeit f�r sch�ne Bilder haben Richter und Knauer auch noch gefunden. Seltsam nur, dass die Fahndung der Polizei nach Bruno irgendwann �berhaupt keine Rolle mehr spielt; er rasiert sich nicht mal den Vollbart ab, um sich von seinem Phantombild zu unterscheiden. Entt�uschend ist auch der Schluss: Wenn die Degeto keine Fortsetzung in Auftrag gibt, endet die Geschichte ziemlich unbefriedigend. (Text-Stand: 25.8.2020)
Foto: Degeto / Roland Suso RichterDas gute Auge von Regisseur Roland Suso Richter zeigt sich auch bei den Pressefotos zu seinen Filmen, die er in der Regel selber macht. Fabian Busch und Sabrina Amali
Tilmann P. Gangloff ist seit 1985 freiberuflicher Fernseh- und Filmkritiker f�r Tageszeitungen und Fachzeitschriften, seit 1990 regelm��iges Mitglied der Jury f�r den Grimme-Preis sowie Mitglied diverser anderer Fernsehpreisjurys.