Sonora: Und ewig lebt die Wüste

Die amerikanische Sonorawüste bedeckt ein Gebiet fast so groß wie Deutschland. Brütende Hitze empfängt die Besucher im Sommer – wer genau hinschaut, erlebt trotzdem eine reiche, perfekt angepasste Flora und Fauna.

Von Douglas H. Chadwick
bilder von George Steinmetz
Foto von George Steinmetz

Wenn die Sonora eine Wüste ist, warum wächst die Vegetation dann hier vielerorts so dicht, dass man kaum durch sie hindurchgehen kann, ohne sich an den Dornen der Pflanzen die Haut aufzureißen? Wenn die Sonnenglut praktisch alles Leben auslöscht, woher kommen dann die vielen Tierspuren im Sand? Die der Halsbandpekaris, der Maultierhirsche oder der Katzenfretten. Und die der Nagetiere, die so zahlreich sind, dass die rund hundert Klapperschlangen pro Quadratkilometer zur Nahrungsbeschaffung nicht auf die Jagd gehen, sondern einfach daliegen und abwarten? Vermutlich braucht dieses Ökosystem nur eine bessere Öffentlichkeitsarbeit.

Es stimmt: Die Sonorawüste trocknet aus und wird immer heißer. Doch ihr Wahrzeichen, der Saguarokaktus mit seinen nach oben ragenden Armen, ist kein Hochsitz für Geier in einem abgestorbenen Ödland. Ganz im Gegenteil: Die säulenförmigen Gewächse sind lebende Wasserspeicher. Wenn es geregnet hat, bilden die meisten von ihnen innerhalb weniger Stunden neue Wurzelfasern, um möglichst viel Feuchtigkeit zu binden. Die Gewebestruktur der Kakteen ähnelt einer Ziehharmonika. Wenn die Pflanze Flüssigkeit aufnimmt, faltet sie sich auf.

Im Mai und Juni, den trockensten Monaten, krönen sich der Saguaro und sein noch größeres südliches Gegenstück, der Cardón-Kandelaberkaktus, mit auffallenden weißen Blüten. Mit ihrem Nektar bieten sie Vögeln, Insekten und vor allem Fledermäusen Nahrung. Im Gegenzug werden sie bestäubt. Aus den Blüten entstehen saftige Früchte, die einer noch größeren Vielzahl an Lebewesen wie Leguanen und Kitfüchsen Nahrung und Feuchtigkeit liefern, bis die Sommergewitter einsetzen. Zum Ruhen und Verdauen ziehen sich die Tiere unter einen der vielen wüstentypischen kleinen Bäume und Sträucher zurück, etwa das Wüsteneisenholz Olneya tesota oder die Honigmesquite Prosopis glandulosa. Die Tiere hinterlassen ihren samenhaltigen Kot genau dort, wo ein Saguaro oder Cardón seine Jugendjahre verbringt: im Schatten einer Ammenpflanze. Wenn also all das Leben hier am seidenen Faden hängt, wie kommt es dann, dass ein Saguaro Jahr für Jahr Millionen Samen produziert und bis zu 250 Jahre alt werden kann?

Der schattige Streifen an der Abbruchkante des arroyo – spanisch für „Wasserlauf “, hier: ein Trockenflussbett – ist ein guter Platz, um sich auszuruhen. Kurz zuvor hat ein Juli-Wolkenbruch zweieinhalb Zentimeter Regen auf den Saguaro National Park in Arizona niedergehen lassen. Das Wasser sickert noch immer in den arroyo und sammelt sich in kleinen Tümpeln, die Carolinatauben, Kaktuszaunkönigen und Hunderten Bienen als Tränke dienen. Und irgendwie haben sich in den Wassergruben zwischen den felsigen Berghängen auch Kaulquappen eingefunden. Indianische Ureinwohner, die vor langer Zeit hier Rast machten, haben Zeichnungen von Menschen und Geistern an den Steinwänden hinterlassen. Fast scheint es, als hielten die Figuren Wache. Sie haben den hier in Kürze stattfindenden Überlebenskampf schon oft mit angesehen.

Bei vielen Fröschen und Kröten dauert die Entwicklung vom Ei bis zum Erwachsenenstadium Monate. Knoblauchkröten gleichen echten Kröten, haben aber glattere Haut, katzenartige Augen, Zähne und einen Fersenhöcker an den Hinterfüßen. Und sie folgen anderen Regeln. Ausgewachsene Tiere leben in einem Dämmerzustand im Wüstenboden, bis sie die Vibrationen des Donners und der Regentropfen spüren. Dann kommen sie hervor und versammeln sich an den Tümpeln. Sie erfüllen die Nacht mit ohrenbetäubenden Chören und paaren sich. Der Nachwuchs verfügt über einen beschleunigten Stoffwechsel. Innerhalb von nur acht Tagen wachsen die Kaulquappen zu Jungkröten heran.

Nun hat der Wettlauf mit der Zeit begonnen: Sie müssen herumhüpfende Luftatmer werden und sich mit Insekten mästen, bevor der arroyo wieder austrocknet. Die Amphibien mit ihrer feuchten Haut haben keine andere Wahl, als sich wieder zu vergraben und auf den nächsten heftigen Niederschlag zu warten. Das kann Monate dauern – aber auch länger als ein Jahr. Haben in einem arroyo ausnahmsweise Rotfleckenkröten gelaicht, die meist an beständigeren Wasserquellen vorkommen, dann sind die Kaulquappen verloren. Waren es Schaufelfuß kröten, so haben sie eine Chance. Jeden Tag wachsen sie ein bisschen weiter. Jeden Tag schrumpfen die Tümpel und verdunsten in der Mittagssonne.

Dieser Kampf betrifft auch die Gila-Krustenechse. «Vor einem Jahr war sie noch dem Tode nah. Nur Haut und Knochen. Ständig war sie auf Nahrungssuche, aber es gab nichts», sagt Jon Davis, der an der Arizona State-Universität studiert. Drei Jahre lang ist er den Echsen mithilfe implantierter Sender und winziger Temperaturschreiber gefolgt. Im Schein unserer Stirnlampen packt er ein 38 Zentimeter langes Exemplar hinter dem Unterkiefer. Das Tier hängt in der Luft wie ein mit rosa und schwarzer Perlenstickerei verzierter Spielzeugdrachen. Es hat einen dicken Bauch, und der zappelnde Schwanz ist prall wie eine Knackwurst. An seinem Maul klebt Fell von einem Kaninchenjungen. Diesem Reptil geht es eindeutig wieder besser. Davis entfernt ein paar Kaktusdornen aus den Zehen des Tiers und steckt es in eine Tasche, um es bei Tageslicht genauer in Augenschein zu nehmen. Am folgenden Morgen untersucht er es – es ist ein Weibchen – mit einem tragbaren Ultraschallgerät. Man tut gut daran, vor einer solchen Arbeit eine Tasse Kaffee zu trinken, um möglichst aufmerksam zu sein. Denn die Gila-Krustenechse und ihre engste Verwandte, die Skorpion-Krustenechse, sind giftig. Ihre Bisse verursachen starke Schmerzen, Schwindel und Schlimmeres. Auf dem Bildschirm erscheint die Blase des Tiers. Sie enthält eine große Menge Wasser – in der Währung des Wüstenökosystems: ein Vermögen. «Gila-Echsen können an einem Tag so viel Wasser trinken, dass ihr Körpergewicht um 20 Prozent zunimmt», sagt Davis.

Die Sonora hat eine Fläche von rund 260000 Quadratkilometern und umfasst die Südostspitze von Kalifornien, den Südwesten von Arizona, rund die Hälfte des mexikanischen Bundesstaats Sonora sowie fast die gesamte Halbinsel Baja California. In einigen Teilen der Wüste fallen nur knapp 7,5 Zentimeter Niederschlag pro Jahr. In anderen hingegen fallen 25 bis 30 Zentimeter. Die im Winter vom Pazifik heranziehenden Unwetter sorgen normalerweise für die Hälfte der jährlichen Regenmenge. Die Winter 2004 und 2005 brachten Rekordniederschläge, die eine mehrjährige Dürreperiode beendeten. Im darauffolgenden Frühjahr leuchtete und duftete die Region wie eine Floristenmesse. Sogar Pflanzen, die jahrzehntelang verschwunden waren, sprossen aus geduldigen Samen.

Dann kam der Sommer. In Tucson stieg die Temperatur an 39 aufeinanderfolgenden Tagen auf mindestens 38 Grad. Die Sonora ist die tiefstgelegene und heißeste der vier großen Wüsten Nordamerikas (neben der Mojave- und der Chihuahuawüste sowie dem Großen Becken). Sie ist außerdem die einzige mit zwei klar unterscheidbaren Regenzeiten. Die Sommerhitze, die über dem Land aufsteigt, zieht feuchte Luft aus dem Golf von Kalifornien und gelegentlich aus dem Golf von Mexiko an. Oft breiten sich nachmittags Gewitterwolken am glutheißen Himmel aus und bringen starke Niederschläge, die plötzliche Überschwemmungen verursachen. Wenn diese Monsununwetter eintreffen, lösen sie einen neuen Pflanzenwachstumszyklus aus.

Das wiederum hat höhere Geburtenraten bei Kaninchen, Nagetieren und Vögeln zur Folge, deren Jungtiere zu den Lieblingsspeisen der Gila-Krustenechse gehören. Manchmal frisst sie an einem Nest so viel, dass ihr Gewicht um die Hälfte zunimmt. Dann zieht sie sich für eine Woche oder länger in ihren Bau zurück. Ein erst vor kurzem im giftigen Speichel der Echse entdecktes Hormon unterstützt offenbar die Regulierung dieses zyklischen Aktivitätsverhaltens. Im Jahr 2005 wurde eine synthetische Version der chemischen Substanz als Medikament zugelassen. Es hat sich als sehr wirkungsvoll bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes erwiesen und könnte gleichzeitig Patienten beim Abnehmen helfen.

Lesen Sie den gesamten Artikel in der Ausgabe 09/2010 oder in der aktuellen iPad-App.

(NG, Heft 9 / 2010, Seite(n) 64)

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