Er sagte nichts und dennoch hatte ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Das war noch gelb“, sagte ich. „Das war rot“, antwortete er. „Nein, nein, Sie wissen doch, in Köln sind die Gelbphasen länger“, verteidigte ich mich, „ich bin da gerade so noch drüber gerutscht.“ Er schüttelte leicht den Kopf. Ich setzte nach: „Aber es war gelb!“ Sein Blick ging weiterhin unbeirrt geradeaus. „Das war rot“, sagte er und schüttelte den Kopf. Ich schaute ihn kurz von der Seite an. Versuchte er da gerade ein Grinsen zu verbergen? Ich war mir nicht sicher.

„Na gut“, sagte ich schließlich etwas trotzig, „dann werde ich das halt nächste Woche beichten!“ – „Gut“, lobte er mich. Jetzt grinste er wie ein schelmischer Vater, der seinen Sohn dazu gebracht hat in den Wasserschlauch zu blicken, um nachzusehen, ob Wasser kommt. Und dann den Hahn aufdreht.

Die Anekdote ist sechs oder sieben Jahre alt, wir waren gerade auf dem Rückweg von einer Beerdigung. Ich hatte mich als Fahrer angeboten, weil das Erzbistum Köln gerade keinen zur Verfügung hatte. Der Name meines Fahrgastes: Weihbischof Dr. Klaus Dick.

Am frühen Nachmittag des 25. Februar 2024, nur zwei Tage vor seinem 96. Geburtstag, hat Weihbischof Dick schließlich das getan, was der Apostel Paulus einst über sich selbst geschrieben hat: „den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt“.

Mit dem Tod von Weihbischof Dick verliert die Kirche in Deutschland ein kölsches Original. Lässt man in katholischen Kreisen seinen Namen fallen, outen sich viele als regelmäßige Besucher des alten, weisen Mannes, um dessen Ratschläge und Seelsorge in Anspruch zu nehmen, teils über Generationen hinweg. „Meine Beichtkinder“, wie Dick sie liebevoll nennt.

Als er vor mehr als zwei Jahrzehnten als Weihbischof in den Ruhestand ging, hatte er bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Als 15-jähriger Luftwaffenhelfer musste er mitansehen, wie seine geliebte Heimatstadt Köln bei den alliierten Bombenangriffen in Flammen aufging. Als junger Priester half er mit beim Wiederaufbau Deutschlands, das sich lange nicht von den Schrecken des Naziterrors und der Frage nach der eigenen, persönlichen Schuld erholen konnte. Als Studentenpfarrer in den wilden 68er Jahren erlebte er die Auflehnung der Jugend gegen die gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen, die nun auch die Relevanz der Kirche in Frage stellten.

Seit den Nachkriegstagen war Dick mit Joseph Ratzinger persönlich befreundet, erlebte gemeinsam mit ihm den Umbruch, der in der Kirche während des Zweiten Vatikanischen Konzils stattfand. Die Freundschaft blieb auch dann bestehen, als Ratzinger zum Stellvertreter Christi auf Erden gewählt wurde. Sie bekam dann eine noch tiefere Dimension, als Benedikt XVI. 2013 entkräftet das Papstamt aufgab und sich – wie Klaus Dick schon Jahre vorher – in den heiligen Unruhestand verabschiedete.

Die beiden telefonierten regelmäßig miteinander.

Als Benedikt XVI. vor einem Jahr starb, schmerzte es Klaus Dick sehr, nicht persönlich bei der Beisetzung in Rom dabei sein zu können. Sein Gesundheitszustand hatte sich zu sehr verschlechtert. Dabei sah es vor vielen Jahren noch so aus, als würde der Weihbischof eher heimgerufen werden als sein päpstlicher Mitbruder. Eine Krebserkrankung drohte Dick damals hinwegzuraffen. Doch der Tumor verschwand über Nacht und kam nicht mehr wieder. Ein Wunder, davon war der Weihbischof überzeugt. Und ein göttlicher Hinweis. Er müsse die Extra-Zeit nutzen, die er geschenkt bekommen habe, meinte er damals. Während andere Ruhestandsgeistliche also Bücher lesen oder schreiben und hier und dort mal bei einem Gottesdienst aushelfen, hatte sich Weihbischof Dick einen Terminplaner zugelegt, auf dem selten eine Seite leer blieb.

Auch von weit her fuhren die Leute nach Köln, junge wie alte, um sich Rat bei ihm zu holen. Er empfing sie in seinem Wohnzimmer, zündete eine Kerze an und machte es sich auf seinem alten Holzstuhl bequem. Immer fröhlich und mitfühlend, doch wenn man ihn in den letzten Jahren nach der aktuellen Lage der Kirche befragte, schwoll die Halsschlagerader an und es konnte passieren, dass sich der sanftmütige Beichtvater in Rage redete. Mehr als einmal sah ich, wie ihn der „heilige Zorn“ übermannte, wenn ich ihn auf das Handeln mancher bischöflicher Mitbrüder ansprach.

Auch wenn er geistig bis zum Schluss hellwach war und nie seinen Schalk verloren hatte, war es sein Körper, der in den letzten Jahren erste Spuren der verrinnenden Zeit zeigte. Irgendwann fiel mir auf, dass seine Hand unaufhörlich zitterte. Er saß immer noch auf seinem Holzstuhl, es kostete ihm sichtbar Mühe, sich aufzurichten, um Gäste zur Tür zu begleiten. Ein paar Mal stürzte er und musste dann für mehrere Tage ins Krankenhaus. Selbst dort empfing er weiter Gäste, gab Rat in Notlagen, hörte Beichte. Das tiefblaue Strahlen seiner Augen bleibt ungebrochen.

Was die meisten seiner Besucher schon vermuteten, diagnostizierte schließlich sein Arzt: Parkinson. Es schien ihn nicht zu erschüttern. Er habe das offenbar schon seit zwei Jahren, sagte er mir kurz nach der Diagnose fröhlich am Telefon. Bislang würde er aber „nichts“ davon merken, schießlich habe er ja noch ein bisschen was zu erledigen. „Der Herr wird mich schon rufen, wenn es soweit ist“, lachte er.

Getreu seinem Wahlspruch hörte er weiter unermüdlich Beichte. „Wir bitten an Christi statt“, hatte er sich damals ins Bischofswappen schreiben lassen. Das Bibelzitat geht weiter mit: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“

Es war daher goldrichtig, dass Bernhard Meuser, der Erfinder des Jugendkatechismus „YOUCAT“, vor mehr als zehn Jahren entschied, dass Weihbischof Dick beim neuen Buchprojekt „YOUCAT Update! Beichten!“ dabei sein muss. Ich durfte den Weihbischof für das Buch interviewen, wir blieben in Kontakt, machten ein Jahr später sogar eine eigene Sendereihe für EWTN zum Thema Beichte – und er wurde mein Beichtvater. Er war einer der ersten, dem ich damals von meiner neuen Freundin erzählte. Er war einer der ersten, dem ich von meinen Heiratsplänen erzählte.

Aber er war auch bereit, Hilfe von anderen anzunehmen. Einmal fuhr ich ihn drei Stunden lang nach Heidelberg, wo er eine Familie besuchte. Die Eltern hatte er einst getraut, deren Kinder getauft. Auf der Rückfahrt betete er das Brevier und schlief dabei ein. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, bis er nach einer Viertelstunde mit einem Ruck plötzlich wieder erwachte, sich kurz umsah, dann eine Seite im Brevier zurückblätterte und unverdrossen weiterbetete.

Und einmal kam es eben zu jener Begebenheit, in der er gebeten wurde, eine Beerdigung außerhalb von Köln durchzuführen. Ein früheres Beichtkind von ihm war verstorben, für ihn war es Ehrensache. Weil das Erzbistum keinen Fahrer frei hatte, rief er mich an. Als wir von jener Beerdigung zurückkamen, fuhren wir gerade auf die große Kirche St. Gereon in Köln zu. Was weder ich noch der Weihbischof damals wussten, war, dass dies die Kirche sein würde, in der ich 2020 meine Frau heiraten würde. Wegen seiner Gesundheitsbeschwerden konnte er bei der Trauung nicht dabei sein, ließ es sich aber nicht nehmen, uns vorher noch die Beichte abzunehmen und den Segen zu spenden.

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Doch von all dem wusste ich nichts, als ich Jahre zuvor auf St. Gereon zusteuerte, den Weihbischof auf dem Beifahrersitz. Bereits von Weitem deutete er auf das große Kreuz, das sich auf dem Dach der Kirche befindet. Ob mir etwas an diesem Kreuz auffiele, fragte er. Ich schaute angestrengt hin. Ich war irritiert, wollte mich nicht blamieren und faselte daher irgendeinen Quatsch von „keltischer Prägung“, „romanischem Stil“, „dreiblättrigen Enden als Zeichen für die Dreifaltigkeit“ und was mir sonst noch so einfiel. Doch der alte Schelm grinste nur. Er ließ mich noch eine Weile zappeln. Dann löste er auf: „Sieht man das denn nicht? Das Kreuz dort oben habe ich damals eingeweiht!“