„Der Nationalismus ist besessen von Macht und Maskulinität“

Interview

Der syrische Historiker, Politikwissenschaftler und Journalist Karam Nachar ist Mitbegründer der Online-Zeitung Al-Jumhuriya. Dort beschäftigt er sich mit gesellschaftlichen Debatten in Syrien, unter anderem mit Frauen- und LGBT-Rechten. Im Interview erklärt er, welchen spezifischen Herausforderungen Minderheiten im syrischen Kontext begegnen und wie es um die syrische Zivilgesellschaft nach mehr als zehn Jahren Krieg bestellt ist.

Karam Nachar sitzt und redet
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Karam Nachar, syrische Historiker, Politikwissenschaftler und Journalist.

Hannah El-Hitami: Wenn man über die Rechte von Minderheiten spricht, welche Besonderheiten ergeben sich dann im Fall Syriens – einem Land, das sich seit mehr als zehn Jahren im Ausnahmezustand befindet?

Karam Nachar: Die größte Bedrohung für Frauen, für LGBT, für jegliche Minderheiten, ist der Krieg. Wenn man fragt, was momentan die größte Herausforderung für Frauen in Aleppo oder Damaskus ist, dann ist das die Tatsache, dass sie keinen Strom, kein Wasser, keinen Treibstoff haben, dass Leute hungern. Der UN-Sicherheitsrat sprach erst vor Kurzem darüber, dass Syrien eine der komplexesten humanitären Katastrophen der modernen Geschichte ist. Und schon vor dem Krieg war die größte Bedrohung der Menschen in diesem Land, dass sie wegen ihrer politischen Ansichten von einem Regime verfolgt werden, das sie verhaftet, verschwinden lässt, foltert und exekutiert. Natürlich sind manche Gruppen vulnerabler als andere, aber ich finde es sehr wichtig intersektional zu denken. Wenn die gesamte Bevölkerung aufgrund eines historischen Konflikts dezimiert wird, dann muss man glaube ich sagen, dass die Herausforderungen für Minderheiten die gleichen sind wie für alle anderen.

Diktatoren nutzen Minderheiten gerne, um ihre eigene Position zu festigen. Die Bedrohung durch Islamisten hat auch Assad genutzt, um sein Regime als einzige Alternative darzustellen.

Wegen der ethnischen und religiösen Vielfalt in Ländern wie Syrien, Irak oder dem Libanon gibt es in diesen Ländern Regierungen, die sich als Beschützer der Minderheiten präsentieren. Anders als al-Sisi, Erdogan oder Hitler, die die Stimme der Mehrheit sein wollen oder wollten, gibt sich Assad als Beschützer liberaler Freiheiten, also als Beschützer vor der Mehrheit. Nach dem Motto: Wenn wir nicht da sind, kommen die Islamisten. Dabei ist er genauso faschistisch. Natürlich sind Islamisten eine Bedrohung für Frauen, LGBT und andere, aber das Argument kann man nicht nutzen, um Personen ihre Rechte zu entziehen und unvorstellbare Gräueltaten gegen die Gesellschaft zu verüben. Das ist eine Instrumentalisierung persönlicher Freiheiten im Austausch gegen demokratische Teilhabe.

Persönliche Freiheiten werden auch von Regierungen im Globalen Norden genutzt, um in der Region zu intervenieren. Gerade die Rechte von Frauen wurden schon zur Legitimation von Kriegen genutzt. Wie können Feminist:innen in der Region ihre wichtigen Kämpfe ausfechten, ohne rassistische Stereotype des Westens zu reproduzieren?

Das Schöne an der Revolution 2011 war, dass sie den Westen als Referenz für Gut und Böse einen Augenblick lang destabilisiert hat. Wenn wir immer auf Englisch sprechen und den Westen als Publikum sehen, dann sorgen wir uns, dass die Kritik an unseren eigenen Gesellschaften rassistische oder orientalistische Stereotypen bestätigt. Aber das setzt voraus, dass wir ständig darüber nachdenken, wie der Westen uns sieht. 2011 haben wir stattdessen einfach mal miteinander gesprochen. Wir müssen damit aufhören, so viel über Repräsentation nachzudenken, und uns auf Emanzipation in der Region konzentrieren.

Feminist:innen oder LGBT-Aktivist:innen aus Westasien und Nordafrika erinnern oft daran, dass diskriminierende Gesetze und Praktiken noch aus der Kolonialzeit stammen. Was sagen Sie als Historiker dazu?

Ich finde es sinnvoll, in der arabischen und nahöstlichen Geschichte zu graben, um zu zeigen, dass Rassismus, Misogynie und Homophobie keine Altlasten sind, sondern Produkte der jüngeren Geschichte. Vor dem Kolonialismus war der Umgang mit Sexualität extrem divers. Dass die Region jetzt so illiberal und repressiv ist, liegt nicht an einer arabischen Kultur oder Essenz, sondern ist Ergebnis einer modernen Entwicklung nationaler Ideologie. Auch Islamismus ist heutzutage nichts anderes als religiöser Nationalismus. Er hat viel mehr mit der extrem rechten Ideologie des Nationalismus zu tun als zum Beispiel mit dem Islam in Bagdad im 11. Jahrhundert. Ob im kulturellen, ethnischen oder religiösen Sinne, die Idee des Nationalismus fußt auf kultureller Konformität und Einheit. Sie ist feindselig gegenüber Menschen, die anders sind oder nicht dazugehören. Sie ist besessen von Macht und Maskulinität. Diese Ideen bedrohen automatisch Frauen, queere Menschen, behinderte Menschen und alle anderen Minderheiten.

Sie sind Mitbegründer der Online-Zeitung Al-Jumhuriya, die sich als Plattform versteht, auf der Syrer:innen aus ihrer eigenen Sicht über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Revolution berichten – anstatt immer nur das Objekt der Berichterstattung zu sein. Wie ist dieses Projekt entstanden?

Vor 2011 war unsere Region ein politisches Ödland, wo entweder der Westen intervenierte oder korrupte Diktatoren herrschten. Dann kam die Revolution, und sofort fühlten wir, dass unsere Geschichte ihren Lauf wiederaufgenommen hatte, dass politische Beteiligung und kulturelle Kreativität wieder möglich waren. Aus diesem Gefühl entstand Al-Jumhuriya. Wir beobachteten, was im Land passierte, doch wir wollten es auch verarbeiten und Ideen entwickeln, um die Zukunft des Landes mitzugestalten. Wir wollten, dass die Leute aufschreiben, was sie sehen, was sie denken, aber auch was sie erlebt haben, damit die Vergangenheit in einer gemeinsamen Arena zur Diskussion bereitstand.

Al-Jumhuriya hat sein Büro heute in Berlin. Zahlreiche andere syrische Organisationen haben sich in der Diaspora gegründet. Gibt es im Land selbst eigentlich noch eine Zivilgesellschaft?

Es gibt sie schon, aber sie ist auf humanitäre Themen fokussiert. Organisationen kümmern sich um Lebensmittel, Unterkünfte, medizinische Versorgung oder Bildung. Manche sind politische Aktivisten, die ihren Fokus auf Humanitäres gewechselt haben, andere sind pro-Regime. Aber die Organisationen, die zu menschenrechtlichen Themen arbeiten, sind alle außerhalb des Landes. Sie kollaborieren mit Menschen im Land, natürlich unter extremen Sicherheitsvorkehrungen und trotz großer Gefahr für deren persönliche Sicherheit. Auch in den Regionen, die nicht unter Regimekontrolle stehen, gibt es eine aktive Zivilgesellschaft. Dank des digitalen Zeitalters sind wir alle in Kontakt. Doch es gibt auch Interessenskonflikte zwischen den Gruppen in- und außerhalb des Landes. Als 2019 der Caesar Act verabschiedet wurde, waren die Menschen im Exil, die Assad einfach loswerden wollen, extrem dafür. Die Menschen im Land selbst, auch die Regime-Gegner, hatten hingegen große Angst davor. Zurecht, denn ihre Lebensgrundlage war direkt betroffen. Wir versuchen beide Seiten zu Wort kommen zu lassen und eine Debatte zu ermöglichen.

Gibt es denn noch Träume, die alle Syrer:innen miteinander verbinden?

Syrien ist nicht nur materiell vernichtet, sondern auch sehr polarisiert und geteilt. Aber es gibt eine Community in- und außerhalb des Landes, die glaubt, dass Syrien ein wohlhabendes und demokratisches Land werden kann. Dieser Traum vereint alle. 2011 haben wir uns nur darauf konzentriert, Assad loszuwerden. Wir hatten das Gefühl, dass alle, die gegen uns sind, unsere Feinde sind. Jetzt gibt es diese Teilung zwar immer noch. Deutsche wissen, was es bedeutet, wenn ein Unrechtsregime nicht nur auf Unterdrückung basiert, sondern auch auf der Unterstützung von Teilen der Bevölkerung. Damit umzugehen ist schwer. Aber gleichzeitig gibt es eine neue Idee einer gemeinsamen syrischen Identität. So vieles ist auseinandergebrochen und zerstört, aber es muss doch noch eine geteilte Kultur geben, die uns als Menschen zusammenbringt. Sonst wäre ja nichts übrig. Dann wären wir nur noch Syrer, die darauf warten Deutsche oder Türken zu werden. Ich glaube, in den letzten Jahren haben viele Leute sich von der Frage distanziert, was uns spaltet, und wieder mehr danach gefragt, was uns kulturell zusammenbringt. Es haben sich Initiativen gebildet, die das kollektive Gedächtnis Syriens schützen wollen. Da gibt es Dinge, auf die wir stolz sind und die den Menschen eine gewisse Hoffnung geben.

Das Gespräch führte Hannah El-Hitami.