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Geschichte Vernichtungslager

Wie Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß seine Strafe erhielt

Der Krakauer Untersuchungsrichter Jan Sehn war die treibende Kraft hinter den Prozessen gegen NS-Täter in Polen 1946 bis 1949. Später unterstützte er den Frankfurter Auschwitzprozess. Der Historiker Filip Gańczak hat ihm eine Biografie gewidmet.
Leitender Redakteur Geschichte
Hinrichtung von Rudolf Höss in Auschwitz am 16. April 1947 Hinrichtung von Rudolf Höss in Auschwitz am 16. April 1947
Die Hinrichtung von Rudolf Höß in Auschwitz am 16. April 1947
Quelle: Stanisław Dąbrowiecki / IPN-Archiv
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Sogar der Täter selbst hatte jede Vorstellung über die Dimension seiner Verbrechen verloren. Als am Vormittag des 15. April 1946 der frühere Kommandant des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß, als Zeuge vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stand, bestätigte er, dass „jedes Wort einer eidesstattlichen Erklärung von ihm selbst, die vor Gericht verlesen wurde, wahr sei“, berichtete WELT.

Höß, nach dem Eindruck des Berichterstatters „ein kleiner, untersetzter Mann mit schmalen Augen“, bekannte sich damit zu Ungeheuerlichkeiten. Denn nach einer vorherigen Vernehmung hatte er eine allerdings gekürzte Zusammenfassung mit seiner Unterschrift beglaubigt: „Ich leitete das Lager Auschwitz vom l. Mai 1940 bis zum 1. Dezember 1943 und schätze, dass mindestens zweieinhalb Millionen Menschen durch Vergasung oder Verbrennung umgekommen sind und ausgerottet wurden. Mindestens eine weitere halbe Million starb durch Hunger und Krankheit, was eine Gesamtzahl von drei Millionen Toten ausmacht. Diese Zahl stellt ungefähr 70 bis 80 Prozent aller Personen dar, die als Gefangene nach Auschwitz geschickt wurden.“

Der berüchtigte Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz (Polen), Rudolf Höss (M), Mitte der 40er Jahre auf dem Flugplatz in Nürnberg. Er wird zusammen mit einer Gruppe Offiziere nach Polen ausgeliefert. [dpabilderarchiv]
Rudolf Höß im Mai 1946 in Nürnberg
Quelle: picture-alliance / dpa

Wenige Tage später allerdings notierte Höß eigenhändig, dass die Schätzung von 2,5 Millionen Opfern der Mordfabrik im deutsch besetzten Ostoberschlesien die Zahl sei, die der Deportations-Experte Adolf Eichmann ihm gegenüber gemacht hatte. Der ehemalige Auschwitz-Kommandant erinnerte sich nun an deutlich niedrigere Zahlen, insgesamt 1,125 Millionen – als ob das besser wäre und nicht nur eine Spur weniger monströs.

Sechs Wochen nach der Aussage in Nürnberg wurde Höß über Berlin nach Warschau geflogen, damit ihm in dem Land der Prozess gemacht werden konnte, in dem der Tatort seiner ungeheuerlichen Untaten lag. Gedrängt darauf hatte der Krakauer Jurist Jan Sehn (1909 bis 1965). „Im Einklang mit den Prinzipien der Kriminalistik vier- und fünfteilt er sich, um in aller Eile die größtmögliche Menge an Beweismaterial sicherzustellen“, erinnerte sich später ein langjähriger Mitarbeiter an seinen Chef.

Fraglos war Jan Sehn die treibende Kraft der NS-Prozesse in Polen. Er bereitete als Untersuchungsrichter, eine im deutschen Rechtswesen so nicht übliche Funktion, neben dem Verfahren gegen Höß 1947 auch die Verhandlung gegen den Kommandanten des KZ Plaszow Amon Göth vor, heute vor allem bekannt als Gegenspieler von Oskar Schindler in Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“. Ferner den großen Krakauer Auschwitz-Prozess 1947, in dem von 40 Angeklagten 39 schuldig gesprochen wurden, das Verfahren gegen Josef Bühler, den Staatssekretär in der Verwaltung des „Generalgouvernements“, wie Zentralpolen während deutscher Besatzung hieß.

Jan Sehn in der Uniform der Polnischen Militärmission zur Untersuchung der deutschen Kriegsverbrechen, 1946
Jan Sehn 1946 in der Uniform der Militärkommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen
Quelle: IPN

Der Warschauer Historiker Filip Gańczak hat Sehn eine Biografie gewidmet, die auch auf Deutsch erschienen ist (Wallstein-Verlag Göttigen. 238 S., 26 Euro). Der Mitarbeiter der polnischen Aufarbeitungsbehörde IPN (Instytut Pamięci Narodowej), die gleichermaßen Anklagen vorbereitet, wie historische Forschung betreibt, schildert darin Leben und Arbeit jenes Mannes, ohne den es weitaus weniger Wissen über Auschwitz gäbe. Für die Bundesrepublik wichtig ist Sehn, weil er in engem Austausch mit Hessens Generalstaatsanwalt Fritz Bauer den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess vorbereitete.

Welcher von diesen Prozessen am wichtigsten war, lässt sich seriös kaum beurteilen – jeder für sich hatte seine eigene Bedeutung. Am 11. März 1947 jedenfalls begann in Warschau das Verfahren gegen Höß. Schon im Januar hatte das oberste Gericht entschieden: „Vor dem Tribunal wird nur der Lagerkommandant Rudolf Höß stehen. Der Prozess gegen etwa hundert Angehörige des Lagerpersonals wird zu einem späteren Termin vor dem Bezirksgericht in Krakau stattfinden.“

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Am 21. Februar 1947 hatte der Leitende Staatsanwalt den Untersuchungsrichter Sehn gebeten, sämtliche für die Anklage relevanten Beweise rasch vorzulegen. „Was Sehn zusammengetragen hat, ist schon imponierend, doch fügt er immer weitere Ergänzungen hinzu“, schreibt Gańczak.

Die Anklage stützte sich im Wesentlichen auf Sehns Material. Höß wurde vorgeworfen, als Kommandant von Auschwitz für die unmenschlichen Bedingungen dort verantwortlich gewesen zu sein, für Quälereien an zahllosen Häftlingen und eine unbekannte Anzahl von Morden. Ein eigener Abschnitt in der Anklageschrift behandelte seine Rolle beim Massenmord in den Gaskammern von Birkenau. Weitere Vorwürfe betrafen die Organisation von Sklavenarbeit zwecks Ausbeutung und den Raub des Eigentums der Deportierten.

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Rudolf Höß 1944 in der Nähe von Auschwitz. Er kehrte auf seinen früheren Posten zurück, um die Mordaktion an Ungarns Juden zu organisieren
Quelle: USHMM
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Natürlich wusste Höß um seine aussichtslose Lage; für seine Verbrechen konnte es nur die Höchststrafe geben. Er verzichtete angesichts der eindeutigen Beweislage auf eine wirkliche Verteidigung und bemühte sich lediglich, zur Anklageschrift und zu Aussagen von Zeugen kleinere Berichtigungen anzubringen.

Tatsächlich hatte Sehn einen Fehler begangen: Er hielt fest an seiner Festlegung von Ende September 1946, in Auschwitz seien „nicht weniger als vier Millionen Menschen“ mit Gas ermordet und eingeäschert worden. Also die von Höß in Nürnberg genannten 2,5 Millionen 1940 bis 1943 und noch einmal anderthalb Millionen 1944 während der Massendeportationen ungarischer Juden.

In den Verhören, die Sehn mit Höß im Zuge seiner Untersuchungen führte, sprach der ehemalige KZ-Kommandant von „Millionen Menschen“, die vergast worden seien – genauer könne er sich nicht erinnern. Erst im Prozess sagte er dann aus, die Zahl habe nicht höher als anderthalb Millionen gelegen, also etwa dem Wert, den er in seiner handschriftlichen Notiz von Ende April 1946 genannt hatte.

Warsaw, March 11, 1947. Pictured: a trial of Rudolf Hoess before the Supreme Court. bb/gr PAP
Rudolf Höß am 11. März 1947 bei der Eröffnung seines Prozesses in Warschau
Quelle: picture-alliance / PAP

War das bewusste Verwirrungstaktik? Wollte Höß so die Glaubwürdigkeit der Anklage hintertreiben? Dass der Streit um die Opferzahl am Urteil nichts ändern würde, war klar. Ebenso wenig wie der kurze Anflug von Reue, als er einräumte, „dass ich einen falschen Weg eingeschlagen habe. Durch meine Teilnahme an den von mir beschriebenen Aktionen der Organisation, der ich angehörte, wurde ich mitschuldig an dem Bösen, das diese Organisation belastet.“ Diese verquaste Formulierung kommentierte Jan Sehn: „In allen Äußerungen von Höß aber fehlt das Eingeständnis seiner persönlichen Schuld.“

Das Urteil konnte nicht wirklich überraschen: Am 2. April 1947 sprachen die Richter Rudolf Höß schuldig im Sinne der Anklage und verhängten die Höchststrafe: Hinrichtung. Natürlich machte Polens Staatspräsident Bolesław Bierut, ein übler Stalinist, keinen Gebrauch von seinem Recht auf Begnadigung, und so kehrte Rudolf Höß am Morgen des 16. April 1947 zum letzten Mal nach Auschwitz zurück.

Jan Sehn, obwohl selbst ein Gegner der Todesstrafe, war anwesend an diesem Morgen. Seine Mitarbeiterin Krystyna Szymanska erinnerte sich an die Vorbereitung für die Hinrichtung von Höß: „Man hatte einen Galgen für ihn gebaut, der so aussah, wie die Galgen im Lager ausgesehen hatten. Man wollte ihn nicht an einem der Galgen aufhängen, an denen vorher die Häftlinge gehenkt worden waren.“

Jan Sehn in Auschwitz I 1964
Jan Sehn (1.v.l.) beim Ortstermin in Auschwitz 1964
Quelle: IPN

Die letzten Augenblicke im Leben des Massenmörders Rudolf Höß verfolgte sie nicht mit eigenen Augen: „Ich habe gesehen, wie er zur Hinrichtungsstätte ging. Ich lief dann ans andere Ende des Lagers – ich konnte das nicht sehen. Aus den Berichten von Augenzeugen weiß ich, dass der Verurteilte diesen Weg bis zum letzten Moment völlig ruhig zurückgelegt hat.“ Tatsächlich verhielt sich der ehemalige KZ-Kommandant vollkommen ruhig und äußerte auch keinen letzten Wunsch, wie der Staatsanwalt bestätigte, der die Vollstreckung des Urteils beaufsichtigte.

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Im Abschiedsbrief an seine Frau hatte Höß geschrieben: „Was Menschlichkeit ist, habe ich erst hier in den polnischen Gefängnissen kennengelernt. Mir, der ich als Kommandant von Auschwitz dem polnischen Volk so viel Schaden und Leid zugefügt habe, wurde ein menschliches Verständnis entgegengebracht, das mich oft und oft tief beschämte.“ Der Historiker Filip Gańczak schließt: „Es ist anzunehmen, dass diese Worte sich auch auf Jan Sehn bezogen.“

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Dieser Artikel wurde erstmals im März 2023 veröffentlicht.

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