Rhetorik in der Demokratie - Vorlesung des Bundespräsidenten an der Universität Tübingen

Rhetorik in der Demokratie - Vorlesung des Bundespräsidenten an der Universität Tübingen

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Bundespräsident Roman Herzog hielt an der Universität Tübingen am 8. Juli
1997 folgende Vorlesung:


Meine Damen und Herren,


ich gratuliere zunächst einmal zum Doppeljubiläum. Seit 500 Jahren gibt es
Rhetorik in Tübingen und seit 30 Jahren das Seminar für "Allgemeine Rhetorik".
Eine deutsche Singularität, auf die man hier, wie ich als Tübinger
Honorarprofessor weiß, so stolz ist wie auf viele andere Einmaligkeiten am
Neckar.


Die Rhetorik ist die älteste Kommunikationswissenschaft der Welt. Deswegen
hat jeder, der sich dazu äußert, viele berühmte Vorgänger - womöglich noch
berühmtere als Walter Jens und Gert Ueding. Meine Absicht ist es aber nicht,
ihren vielen philosophischen, historischen oder philologischen Deutungen eine
weitere zur Seite zu stellen. Ich möchte zum Thema Rhetorik und Demokratie
vielmehr in sehr pragmatischer und politischer Absicht sprechen. Dabei leitet
mich das Interesse am weiteren Funktionieren unseres
freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Denn Freiheit und Demokratie
brauchen die freie Rede und damit die Beredsamkeit wie die Luft zum Atmen.


Wo keine selbstverständlichen Gewißheiten vorliegen, wo also Entscheidungen
zu treffen sind, die der Zustimmung bedürfen, wo nicht Macht allein
entscheidet oder formale Logik Schlüsse erzwingt, da ist der Ort der Rhetorik.
Wenn das stimmt, dann ist der vornehmste Ort der Rhetorik tatsächlich die
Demokratie. Es ist deshalb kein Zufall, daß sie in der athenischen Demokratie
ihre erste Blüte erlebt hat. Das entscheidungsoffene Wesen der Demokratie und
der Widerstreit der Meinungen in ihr bewirken, daß Demokratie und Beredsamkeit
nicht nur historisch gleichen Ursprungs sind, sondern daß sie notwendigerweise
aufeinander angewiesen bleiben.


Das Thema "Rhetorik in der Demokratie" interessiert mich deshalb nicht nur
persönlich, es interessiert mich auch qua Amt. Wenn der Bundespräsident, wie
ich mich jetzt einmal in der dritten Person nennen will, zu diesem Thema
spricht, dann spricht er in gewisser Weise auch über sich selbst.


Einerseits kann der Bundespräsident, so wie unsere Verfassung sein Amt nun
einmal ausgestaltet hat, wenn überhaupt, nur durch Reden politisch wirken.
Andererseits müßte er aber, ebenfalls streng nach dem Grundgesetz, überhaupt
keine einzige Rede halten, um seine verfassungsmäßigen Aufgaben zu erfüllen.
Ich - um es nun in der ersten Person zu sagen - müßte weder hier, zum Jubiläum
der Rhetorik in Tübingen, reden noch überhaupt irgendwo, und wäre trotzdem
meinen Pflichten nicht untreu. Ich könnte - jetzt ganz extrem gesprochen -
fünf Jahre im Schloß Bellevue oder in der Villa Hammerschmidt sitzen,
Bundeskanzler, Minister und höhere Beamte ernennen, Botschafter empfangen,
Gesetze unterzeichnen, Ordensverleihungen aussprechen, mich durch meinen
Staatssekretär über die Kabinettsitzungen unterrichten lassen und ansonsten
den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Trotzdem ist das Thema der
heutigen Vorlesung in sehr besonderer Weise mein Thema. Ich praktiziere, da
ich fast nichts zu entscheiden habe, sozusagen in reiner Form das Thema der
Vorlesung.


Ich gestehe gern, daß das ambivalent ist. Da ich als Bundespräsident fast
keine Entscheidungskompetenz habe, ist es nicht einmal möglich, mich zur
Verantwortung zu ziehen, falls jemand Vorschläge, die ich mache,
gesetzgeberisch oder sonstwie in die Tat umsetzt. Auf der anderen Seite kann
ich immer, wenn nicht getan wird, was ich vorschlage, darauf verweisen, daß es
besser gewesen wäre, man hätte auf mich gehört.


Trotz dieser Ambivalenzen redet der Bundespräsident. Das war von Anfang an
so. Der erste in der Reihe der Präsidenten der Bundesrepublik, Theodor Heuss,
war es, der allein durch seine Reden dieser Republik einen sehr markanten Stil
gegeben hat. Das war der - mir sehr sympathische - Stil eines selbstbewußten,
aber ohne triumphale Gesten auskommenden Gemeinwesens. Unvergessen bleibt sein
rhetorisch überaus klug gewählter Spruch beim Gelöbnis der ersten
Bundeswehrsoldaten: "Nun siegt mal schön!" Man war seinerzeit über diesen
Ausspruch nicht nur glücklich. Aber Theodor Heuss hatte zumindest den
richtigen Ton getroffen. Indem er zwar das feierliche Gelöbnis der Soldaten
abgenommen, die Zeremonie aber zugleich ironisch abgefedert hat, hat er die
gleichzeitig notwendige und doch schon nach ihrem Selbstverständnis jedem
Militarismus abholde Funktion der Bundeswehr auf den Begriff gebracht.


Theodor Heuss war es übrigens auch, der im Parlamentarischen Rat entgegen
anderen Vorstellungen - man dachte zum Beispiel an ein mehrköpfiges
Direktorium - entschieden für die Bestellung eines Ein-Mann-Staatsoberhauptes im
westdeutschen Teilstaat plädiert hat. Sein Argument war, daß ein Gemeinwesen eine
Repräsentationsfigur braucht, die weder durch ein Kollektiv noch durch eine
abstrakte Struktur ersetzt werden könne. Bevor er daran denken konnte, das Amt
selbst auszufüllen, sprach er in diesem Zusammenhang von einer
gemeinschaftsstiftenden Repräsentanz für die Republik. Als er als erster das
wenig definierte Amt auszufüllen hatte, da tat er es sehr erfolgreich, und das
Mittel seines Erfolges war exakt die von der Verfassung nicht vorgesehene -
allerdings auch nicht ausgeschlossene - Rede. So hat er den Stil der
Bundesrepublik, aber auch den Stil des Präsidentenamtes geprägt. Von dem
Bonus, den er durch seine Art, das Wort zu handhaben, erwarb, von seiner
Rhetorik also, haben alle seine Nachfolger, mich eingeschlossen, profitiert,
auch wenn sie das Amt im übrigen durchaus unterschiedlich interpretiert haben.


Nun wäre es natürlich falsch, den Bundespräsidenten für das einzige Organ
unseres Staates zu halten, das mit dem Mittel der Rede zu arbeiten hat. Das
Gegenteil ist der Fall. Demokratie und Rhetorik sind ganz allgemein
aufeinander angewiesen. Beredsamkeit ohne Demokratie ist entweder - von unten
gesehen - mit Gefängnis- oder gar Lebensgefahr verbunden oder sie erschöpft
sich - von oben gesehen - in Lobhudelei, Vernebelung und Propaganda. Gewiß
kann es auch in anderen Staatsformen faire Unterrichtung und offenes Werben um
die Zustimmung der Betroffenen geben, aber Demokratie ohne Rede und Gegenrede
- und das bedeutet ja Demokratie ohne Rhetorik - wäre eine reine
Gespensterveranstaltung, in der allein noch nach Logos, Lobbymacht und dem Image
von Personen entschieden würde.


Das Amt des Bundespräsidenten zeichnet sich dementsprechend nicht durch seine
besondere Nähe zum Instrument der Rede aus, sondern allenfalls dadurch, daß
der Mangel seiner Entscheidungsbefugnisse die Rede bei ihm überproportional in
den Vordergrund treten läßt, vor allem aber dadurch, was mit diesem Instrument
angestrebt und erreicht werden muß.


Auf die Rede sind - wie könnte es anders sein - auch Regierung und Opposition
angewiesen; wie sollten sie sonst die Wähler von der Richtigkeit ihrer
politischen Positionen überzeugen? Die Eigenart der politischen
Auseinandersetzung bringt es aber fast unausweichlich mit sich, daß sie sich
dabei auf solche Fragen konzentrieren, die im jeweiligen Augenblick zwischen
ihnen umstritten sind und die infolgedessen auch gerade "aktuell" sind. Andere
interessieren in der Regel auch die Medien nicht. Der Bürger zieht daraus
meist den Schluß, "die da oben" seien "immer nur zerstritten" und sie sähen
außerdem über den Tellerrand der nächsten Wahl nicht hinaus.


Ganz anders der Bundespräsident: Er hat solche Fragen zu "thematisieren", die
im Moment nicht Gegenstand der allgemeinen Debatte sind und die infolgedessen
auch den Massenmedien als
nebensächlich erscheinen, und er hat von Zeit zu Zeit ins Bewußtsein zu rufen,
daß es zwischen den politischen Lagern auch breite Zonen der Übereinstimmung
gibt - er hat also, wie man so schön sagt, "das Gemeinsame zu betonen". Auf
das Instrument der Rede sind aber, wie gesagt, in einer Demokratie alle
angewiesen, und damit sind wir beim Wert der Rhetorik als solcher.


Wir sind von Rhetorik umgeben, im politischen Leben, in der Werbung, aber
auch im privatesten Bereich, und sei es nur, daß es darum geht, wohin man mit
seinem Partner in Urlaub fahren soll. Obwohl Beredsamkeit also allgegenwärtig
und überall notwendig ist, wo es um offene Fragen geht, mißtrauen wir ihr. Ich
verschiebe jetzt erst einmal die Frage nach dem spezifisch deutschen Mißtrauen
gegen Rhetorik, das sich unter anderem aus der Erfahrung der maßlosen
Propaganda des Dritten Reiches bis heute erhalten hat. Die Rhetorik sah sich
von allem Anfang an Mißtrauen und Feindschaft ausgesetzt.


Schon in ihrer ersten Blütezeit, in Athen, formulierte Sokrates, der Gegner
der Sophisten, also der Profi-Redenkünstler, den bis heute konstant
wiederholten Verdacht, daß die Redekünstler im tiefsten unmoralisch handelten,
weil sie durch angelernte Techniken "die schwächere Sache zur stärkeren"
machten und somit der Lüge und Täuschung schuldig seien. Schon ganz zu Beginn
wird also der schwerwiegendste Verdacht gegen rhetorische Technik überhaupt
ausgesprochen: Wer sich in öffentlichen oder auch privaten Äußerungen
rhetorischer Künste bedient, steht bald im Ruf, unwahrhaftig zu sein, das
heißt nicht der schlichten Wahrheit die Ehre zu geben.


Auch auf diesen Verdacht werde ich noch zurückkommen. An dieser Stelle nur so
viel: Wer auch nur einen einzigen sokratischen Dialog gelesen hat, der weiß,
mit welchen feinen und kalkulierten rhetorischen Mitteln auch Sokrates - oder
sein Autor Platon - zu arbeiten verstand. Auch die Bekämpfung der Rhetorik ist
also noch einmal eine rhetorische Kunst.


Der Mensch lernt schnell. Er lernt zum Beispiel das, was man "forensische
Rhetorik" nennt. Ich brauche hier nicht weiter zu begründen, warum das Gericht
einer der Ursprungsorte der Rhetorik überhaupt ist. Es liegt einerseits daran,
daß es zwischen jedem Gesetz und jeder diesem Gesetz widersprechenden Tat
einen Spielraum von Unschärfe gibt, und andererseits daran, daß auch die Tat
selbst oft auf verschiedene Weise erklärt und gedeutet werden kann.


Keine menschliche Tat ist eindeutig - und erst recht kein Gesetz. Deswegen
ist jede Anklage der Beginn von rhetorischer Aktion. So verhält es sich schon
beim ersten Untersuchungsverfahren, von dem - in der Bibel - berichtet wird:
Gott erwischt Adam in flagranti, dieser kann die Tat selbst auch gar nicht
leugnen. So behauptet er wenigstens den strafmildernden Tatbestand der
Anstiftung. Eva greift zum selben Mittel und deutet auf die Schlange. Das
schlichteste, aber bis heute in ähnlichen Situationen beliebteste rhetorische
Mittel, nämlich der ausgestreckte Zeigefinger, der von einem selbst weg auf
den anderen deutet, wird hier in die Geschichte eingeführt.


Machen wir von diesen biblischen Zeiten einen Sprung in die demokratische
Gegenwart. Ich möchte auf ein mir ebenfalls sehr wichtiges Thema zu sprechen
kommen, das mit der Rolle der Rhetorik in der Demokratie zusammenhängt. Die
offene Gesellschaft, für die ich immer wieder plädiere, ist auf Transparenz
angewiesen, vor allem auf die Transparenz der unterschiedlichen
Wissensbereiche. Es ist nicht rückgängig zu machen, daß sich unser Wissen in
immer mehr Sachbereiche ausdifferenziert.


Es ist aber für eine offene und demokratische Gesellschaft höchst gefährlich,
wenn sich die unterschiedlichen Disziplinen so sehr in ihren eigenen
Sprachspielen verstricken, daß sie schon deshalb nicht mehr miteinander
diskutieren können, weil sie sich nicht mehr verstehen. In den komplexen
Entscheidungen, die wir immer wieder in unserem Gemeinwesen treffen müssen,
ist es aber nicht möglich, auf Zusammenarbeit der Disziplinen zu verzichten.
Viele Blockaden in unseren augenblicklichen Debatten sind im ungenügenden
gegenseitigen Verstehen begründet.


Aber ich will noch einen Schritt weitergehen. In einer offenen Gesellschaft
müssen sich nicht nur die jeweiligen Experten verstehen. Es kommt vielmehr
entscheidend darauf an, die Probleme so darzustellen, daß auch eine
interessierte Öffentlichkeit darüber sachgerecht mitreden und entscheiden
kann. Der Kampf gegen Expertokratie beginnt mit dem Gewinn der rhetorischen
Kompetenz, mit sachgerechter Beredsamkeit.


Damit ist nicht zuerst die Fähigkeit zum Überzeugen anderer gemeint, sondern
die Fähigkeit, einen Sachverhalt oder ein Problem so darzustellen, daß sie für
nicht Eingeweihte überhaupt verständlich werden. Das hört sich banal an, ist
es aber nicht. In einem Land, in dem eine schwer verständliche Fachsprache
immer noch als Ausweis wissenschaftlicher Könnerschaft gilt, in dem das
Beherrschen unverständlicher Jargons wie eine rituelle Einweihung erlebt wird,
wird gesellschaftliche Verständigung mehr und mehr unmöglich. Zwischen dem
akademisch-hermetischen Kolloquium und dem alles nivellierenden Stammtisch
klafft eine große Lücke. Anders ausgedrückt: Nötig ist eine Kultur des
engagierten, informierten und ehrlichen Diskurses.


Dazu braucht es nicht nur Sachkenntnis, sondern ebenso eine frühe und
ständige Übung in Beredsamkeit, eine Übung
darin, seine eigene Position klar, nachvollziehbar und überzeugend darzulegen.
Der mündlichen ist dabei übrigens die schriftliche
Beredsamkeit an die Seite zu stellen. Dafür sind ein paar seltene Schreibkurse
hier und da zu wenig.


Ich möchte noch einmal deutlich sagen, daß es sich hier um ein
gesellschaftliches Erfordernis ersten Ranges handelt. Wir stehen vor einem
Paradox: Einerseits beschreiben wir uns selbst als Kommunikationsgesellschaft,
andererseits sind immer weniger Menschen in der Lage, verständlich zu
kommunizieren. Es ist ja manchmal geradezu eine Strafe, Wissenschaftlern,
Experten, aber auch Politikern, die sich öffentlich äußern, zuzuhören.


Dabei sind es zunehmend zentrale Bereiche in Wissenschaft und Politik, die,
so schwierig und komplex sie sind, einer möglichst breiten Öffentlichkeit
verständlich gemacht werden müssen. Ich nenne nur zwei Beispiele, die alle
angehen, aber, wie ich vermute, nur von den wenigsten verstanden werden.
Alles, was mit Gentechnologie zusammenhängt, wird unser Leben revolutionieren
können. Von der Ernährung über die Heilung von Krankheiten bis hin zur
Erzeugung von Leben oder gar neuen Lebensformen sind existentielle Bereiche
unseres persönlichen Lebens betroffen.


Hier fehlt sachgemäße und umfassende Aufklärung. Statt dessen haben wir auf
der einen Seite einen schablonierten Angst- oder Empörungs-Diskurs und auf der
anderen Seite einen ebenso schablonierten Innovations-Diskurs. Beide, so hat
man den deprimierenden Eindruck, wissen nicht, wovon sie reden. Das liegt -
und deswegen gehört das zu unserem Thema - unter anderem daran, daß die
Wissenschaftler oft überhaupt nicht öffentlich reden oder doch keine Sprache
haben, die verstanden wird, und daß die, die sich äußern, häufig keine Ahnung
von der Sache haben. Für das demokratische Gemeinwesen ist das gefährlich,
weil die Gesellschaft aus Sprachlosigkeit um die Möglichkeit gebracht wird,
eine sachgerechte Debatte zu führen und sachgerecht zu entscheiden.


Ebenso verhält es sich oft im politischen Bereich. Ich möchte zum Beispiel
gern wissen, wer von Ihnen eine präzise und gründliche Argumentation für oder
gegen den Euro kennt. Was wir kennen, sind die beiden Mini-Diskurse, die für
den Fall des Ausbleibens des Euros oder für den Fall seiner Einführung
katastrophale Konsequenzen oder umgekehrt das alleinige Heil voraussagen. Wenn
politische Beredsamkeit gerade in diesem Fall für Aufklärung und Transparenz
gesorgt hätte, wäre der Öffentlichkeit manche Unruhe erspart geblieben, die
vor allem von Unsicherheit erzeugt wird.


Wir brauchen deshalb - wo auch immer - Unterricht in theoretischen
rhetorischen Grundkenntnissen wie sie früher wenigstens in Umrissen der
Unterricht der alten Sprachen vermittelte, aber auch konkrete Übungen in
schriftlicher und mündlicher Beredsamkeit. Mein Idealbild ist dabei keineswegs
der Redner oder die Rednerin, die auf der Rostra die überwältigende Rede an
die Volksversammlung halten. Das ist nicht nur anachronistisch, sondern auch
überflüssig. Ich wünsche mir nur, daß die heute so überreich vorhandenen
Kommunikationsmöglichkeiten kompetent genutzt werden könnten.


Zur fachlichen Bildung in den verschiedenen Fakultäten müßte dementsprechend
die Fähigkeit gehören, auch vor einem nicht fachlichen Publikum überzeugend
und kompetent über die Probleme des Fachs zu sprechen. Inwieweit dazu die
Einrichtung von rhetorischen Seminaren wie dem Ihren hier in Tübingen nützlich
ist, will ich nicht beurteilen.


Immerhin gehört es aber zu den unbestreitbaren Fakten, daß aus denjenigen
Ländern, in denen eine rhetorische Tradition lebendig ist - ich nenne einmal
England, Frankreich und die Vereinigten Staaten -, die weitaus besseren und
vor allem die weitaus besser lesbaren Fachbücher stammen. Ob es um Geschichte
oder Physik, um Gentechnologie oder Politikwissenschaft, um Medizin oder
Kommunikationswissenschaft geht: Hier sind die genannten Länder vielleicht
auch deswegen führend, weil sie an den Universitäten die Rhetorik nicht so
stiefmütterlich behandeln wie wir.


Ich sehe schon vor mir, wie manche der reinen "Wissenschaftlichkeit"
hingegebenen Wissenschaftler vor unzulässiger Popularisierung, Vereinfachung
und dergleichen warnen. Vielleicht bedeutet es aber doch eine Anfrage an das
demokratische Selbstverständnis unserer Hochschulen, wenn es eben gerade die
Mutterländer der Demokratie sind, in denen man die kompetentesten und
verständlichsten Bücher über die für die Öffentlichkeit relevanten Themen
findet. Auch in dieser scheinbaren Nebensächlichkeit findet sich also der
Zusammenhang zwischen Rhetorik und Demokratie.


Wir müssen an dieser Stelle noch einmal zurück zur politischen Rhetorik. Sie
hat in Deutschland gegen den Schatten zu kämpfen, den insonderheit der
sogenannte "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda" und sein Wirken
darstellt. Es ist richtig, daß sich eine Ethik der Beredsamkeit immer mit
diesem eklatantesten Mißbrauch der Redekunst auseinandersetzen muß. Alle
diejenigen aber, die daraus ein grundsätzliches Mißtrauen gegen jede Rhetorik
herleiten, seien daran erinnert, daß es auch öffentliche Reden waren, die den
einzigen meßbaren Erfolg des inneren Widerstandes in Deutschland bewirkten.
Die drei berühmten Predigten des Bischofs von Münster, Kardinal Graf von
Galen, die von Hand zu Hand abgeschrieben und hektographiert wurden, führten
nämlich dazu, daß die Nationalsozialisten ihr sogenanntes Euthanasieprogramm
einstellen mußten. Wie alle menschlichen Künste, so ist also auch die Rhetorik
sowohl zur Unterdrückung als auch zum Widerstand geeignet. Manchmal genügt
eine einzige gelungene Sentenz, um ein ganzes Propagandageflecht der Lüge zu
überführen, wie es 1989 die von Leipzig ausgehende Parole "Wir sind das Volk"
getan hat. Auch das war, wenn auch in minimalistischer Verkürzung, politische
Rhetorik.


Ich komme noch einmal auf die parlamentarischen Reden zurück. Ob in den
außergewöhnlichen Situationen, also wenn ohne "Fraktionszwang" debattiert wird
und tatsächlich Reden entscheidend sein können, oder ob im normalen
parlamentarischen Alltag: Die Redner sprechen nicht nur ins Parlament hinein,
sondern vor allem auch aus ihm heraus. Das ist keineswegs eine neuzeitliche
Erscheinung. "Fensterreden", sei es für die breitere Öffentlichkeit oder gar
für die Nachwelt, hat es schon immer gegeben. Das ist auch legitim, da das
Volk, der eigentliche Souverän, ein Recht darauf hat, die Argumente zu kennen,
mit denen seine Vertreter ihre Entscheidungen begründen. Hier fangen dann
allerdings die Probleme an.


Es ist heute nicht mehr möglich, über politische Beredsamkeit zu sprechen,
ohne zugleich darüber zu reflektieren, daß wir in einer Mediengesellschaft
leben. Für die politische Rede bedeutet das zunächst, daß nichts von ihr beim
Volk ankommt, wenn sie nicht durch die Medien - und hier vor allem durch das
Fernsehen - vermittelt wird. Das ist zwar inzwischen selbstverständlich, hat
aber die politische Beredsamkeit auf bedeutsame Weise verändert. Das erste
Gesetz des Fernsehens heißt: kurz und schnell. So wird zum Beispiel in der
Berichterstattung aus einer halbstündigen Rede ein Ausschnitt von einer halben
Minute gezeigt. Während seriöser Journalismus versucht, einen Satz zu finden,
der in etwa die Hauptthese der Rede zusammenfaßt, wird das Infotainment
geneigt sein, möglichst die Stelle zu finden, an der der Redner den
politischen Gegner besonders polemisch abfertigt oder auf andere Weise für
Aufregung sorgt. So wird in der Öffentlichkeit der Eindruck immer mehr
verstärkt, daß der sogenannte "Schlagabtausch" der einzig verbliebene Sinn der
politischen Debatte sei. Die Politiker selbst sind daran sicher nicht
schuldlos, aber unter den Bedingungen des Fernsehens und seiner Gesetze ist es
selbst dem seriösesten Politiker nicht möglich, Kosten und Nutzen einer
Steuerreform zu erläutern, wenn dazu einminütige "sound-bites" ausreichen
müssen. Das geht einfach nicht.


In der Kürze liegt aber nicht immer die Würze. In der Eile geht verloren, was
für die Beredsamkeit in der Demokratie das wichtigste ist: das ausführliche,
verständliche Argument und die Transparenz einer politischen Position. Die
Verführung zur mediengemäßen Rhetorik läßt nicht nur die Sprache arm und platt
werden. Sie verändert die gesellschaftliche Kommunikation insgesamt, indem sie
zum Kurzmonolog verleitet und so zur Verhärtung von "einsilbigen" Positionen.
Es wird der verheerende Eindruck erweckt, politische Projekte ließen sich in
ein bis zwei Sätzen zusammenfassen und begründen. Da die Menschen aber sehr
genau wissen oder zumindest spüren, wie unübersichtlich und komplex die Fragen
der Gegenwart sind, wird solche politische Rhetorik immer weniger glaubwürdig.


Damit sind wir aber endgültig beim springenden Punkt: Glaubwürdigkeit ist das
wichtigste Kapital des Redners überhaupt. Das Thema wäre sicher eine eigene
Vorlesung wert. Hier nur so viel: Glaubwürdigkeit entsteht durch
Wahrhaftigkeit, durch Übereinstimmung von Wort und Tat und durch
Sachkompetenz. Nun kann man all das vortäuschen oder bis zu einem gewissen
Grad auch ersetzen. Statt eigenen Charakter zu entwickeln, kann man sich ein
"Image" erarbeiten lassen. Wahrhaftigkeit läßt sich zur Not vorschwindeln und
Kompetenz kann man durch Beherrschung von Jargon und angelernten Floskeln
suggerieren.


All diese - keineswegs neuen - Tricks werden aber inzwischen vom Bürger
weithin durchschaut. Das Erkennen und Aufdecken von unlauteren Mitteln ist
weiter verbreitet, als mancher glaubt. Wer als politischer Redner dennoch tut,
als gebe es einfache Lösungen, als gebe es nur eine vernünftige Position in
einer bestimmten Frage oder als wären die Versprechen von gestern heute
vergessen, der verspielt nicht nur seine eigene Glaubwürdigkeit. Da die Bürger
die "politische Klasse" - ich gebrauche den Begriff ohne jede Wertung - in
gewisser Weise mit dem Staat identifizieren, schadet der Mangel an
Glaubwürdigkeit politischer Rhetorik dem demokratischen Gemeinwesen insgesamt.
Subjektive Wahrhaftigkeit ist daher die erste und wesentliche Grundforderung
der politischen Rhetorik in der Demokratie.


Ich verlange damit nicht den Verzicht auf Witz und Übertreibung, auf
polemische Zuspitzung und Schärfe, auf Ironie oder gelegentlichen Sarkasmus.
All das schützt uns vor Langeweile, einer oft unterschätzten Feindin der
Beredsamkeit. Ich bin aber fest davon überzeugt, daß eine Demokratie ohne
Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der in ihr Redenden ihre eigenen Fundamente
verliert. Ich bin ebenso davon überzeugt, daß der durch Wahrhaftigkeit
glaubwürdige Redner auf die Dauer der erfolgreichere ist.


Es ist Ihnen, wie ich hoffe, schon deutlich geworden, daß ich in meinem
Begriff von Rhetorik und Beredsamkeit nicht in erster Linie die monologische
Rede vor Augen habe, sondern den Dialog in Rede und Gegenrede. Er ist die
einzig angemessene Antwort auf die unübersichtlichen und unentschiedenen
Fragen der Zeit. Der Dialog ist das Gegenteil des "Machtwortes", erst recht
das Gegenteil des bewaffneten Kampfes, er ist der friedliche Wettstreit der
Überzeugungen. Dieser Dialog braucht nicht nur Menschen, die von ihrer Sache
für sich selbst überzeugt sind, sondern solche, die eine überzeugende und
zustimmungsfähige Sprache sprechen und an die friedensstiftende Macht des
Wortes glauben.


Klarheit und Wahrheit auf allen Seiten! Und dann laßt uns streiten. Aber nur
so!