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Der letzte ingeniöse Prinzipal: Rolf Liebermann. Foto: Felicitas Timpe
Der letzte ingeniöse Prinzipal: Rolf Liebermann. Foto: Felicitas Timpe
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Der Sonnenkönig aus Hamburg: Zum Hundertsten von Rolf Liebermann – Erinnerungen von Nikolas Kerkenrath

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Im Jahr 2010 wird – auf beiden Seiten des Rheins – großer Musiker gedacht: Frédéric Chopin, Robert Schumann, Gustav Mahler; auch eines Rolf Liebermann? Da war doch mal was ... Auf der anderen Seite des Rheins denken wir immer wieder an diesen „Roi soleil“ aus Hamburg. Das liegt auch am Enthusiasmus von Hugues Gall, seinem künstlerischen Ziehsohn, Nachfolger, Freund. Es ist somit ganz natürlich, mit ihm in einigen Städten Frankreichs im Herbst daran zu erinnern, dass vor über 30 Jahren das nur siebenjährige Regnum von Liebermann das Pariser und somit das französische Opernleben grundlegend verändert und nachhaltig geprägt hat.

Und dass davor – von 1959 bis 1973 – derselbe Kulturweltbürger aus der Schweiz die Hamburgische Staatsoper zum modernsten und mutigsten Opernhaus der Welt gemacht hat. Was das bedeutete, ist in Deutschland noch irgendwie präsent; aber in Frankreich schwer erklär- und nachvollziehbar. Um so beeindruckender war damals die Weitsicht von Staatspräsident Georges Pompidou und seinem Kulturminister Jacques Duhamel, diesen phantasievollen und energischen Profi von Hamburg nach Paris zu locken, um „la Grande Boutique“ zu reformieren und zu leiten.

Ein Weltbürger aus der Schweiz

Diese deutsch-französische Verflechtung im Leben und Wirken von Rolf Liebermann ist wie eine Art Vorbestimmung durch seine familiäre Herkunft. Er selbst schilderte dies in der ihm eigenen humorvollen Art: „Durch einen charmanten Zufall der Geschichte bin ich als Schweizer zur Welt gekommen. Mein Vater, der in einem Kavallerie-Regiment zu Berlin diente, machte beim Kaisermanöver angesichts seines Landesherren mit dem Pferd einen Sprung über einen Zaun, stürzte, brach sich ziemlich viele Knochen und kam, nachdem er wieder zusammengeflickt war, zur Rekonvaleszenz in ein schweizerisches Sanatorium. Eines Tages besuchte er in Zürich die Oper und sah im Zuschauerraum eine Frau, die ihm außerordentlich gut gefiel. Dies wurde, wie man leicht erraten kann, später meine Mutter. Sie war die Tochter einer französischen Familie, die sich in der Schweiz niedergelassen hatte. Ihr Vater aber hatte noch 1870/71 in den Reihen der Franzosen gegen die Deutschen gekämpft. Daher erklärte er: ‚Mir kommt kein Preuß’ ins Haus!’ Und weil damals die Töchter noch gehorsam waren, wurde beschlossen, dass mein Vater alle juristischen Examina, die er schon in Berlin hinter sich gebracht hatte, noch einmal in der Schweiz absolvieren sollte. Als er schließlich den Schweizer Pass erhielt, durften die beiden heiraten. So wurde ich Schweizer.“

Geboren wurde Rolf Liebermann am 14. September 1910 in Zürich. Die Familie hatte schon einen großen Künstler hervorgebracht: der Maler Max Liebermann war der Bruder des Großvaters. Liebermann studierte nach dem Abitur zuerst Jura, dem Vater folgend. Doch die Musik dominierte: er schrieb sich in das private Musikkonservatorium von José Berr ein und musizierte und komponierte für das Theater und Kabarett; u.a. für seine Freundin Lale Andersen. Mit einem Marschlied von ihm – „Wir sind die internationale Brigade“ – zogen die deutschen Freiwilligen 1936 in den spanischen Bürgerkrieg. 1937 belegte er die Dirigierkurse von Hermann Scherchen in Budapest und wurde sein Assistent beim Musica-Viva-Orchester in Wien. Beide kehrten nach dem Anschluss Österreichs in die Schweiz zurück. Liebermann schlug sich als Musiker und Kritiker durch, gab Flüchtlingskindern Unterricht und wurde zum Militärdienst eingezogen. Ab 1940 nahm er Kompositionsunterricht beim Busoni-Schüler Wladimir Vogel in Ascona. Als Hermann Scherchen 1945 die Leitung des deutsch-schweizerischen Radiosenders Beromünster übernahm, machte er Rolf Liebermann zu seinem Tonmeister beim Studio Zürich. Fünf Jahre später wurde er Leiter der Musikabteilung und wechselte 1957 auf Empfehlung und Drängen des Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt an den Norddeutschen Rundfunk nach Hamburg, dessen Hauptabteilung für Musik er innerhalb kürzester Zeit umkrempelte. So prägend, dass ihn der damalige Bürgermeister Max Brauer abwarb, um ihm die Intendanz der Staatsoper anzuvertrauen. Was dann 1959 begann, ist deutsche Operngeschichte.

Bis dahin war der Name des Komponisten Rolf Liebermann bereits international ein Begriff: Hermann Scherchen hatte 1947 Liebermanns virtuoses Orchesterstück „Furioso“ in Darmstadt uraufgeführt, 1954 spielten Hans Rosbaud und Kurt Edelhagen in Donaueschingen erstmals – zum Erstaunen des dann jubelnden ’modernen’ Publikums - das „Konzert für Jazzband und Sinfonieorchester“; kurz danach setzte Fritz Reiner in Chicago das Werk aufs Programm und nahm es für die Schallplatte auf. Der Opernkomponist Liebermann hatte mit seinem Freund Heinrich Strobel, dem unvergesslichen Südwestfunk-Intendanten im Bunde, mit „Leonore 40/45“ – einer deutsch-französischen Liebesgeschichte während des Krieges – in der Grenzstadt Basel 1952 einen „völkerverständigenden Uraufführungserfolg“. Die weiteren Inszenierungen in Berlin und Mailand provozierten jedoch heftige Reaktionen: für dortige Gemüter kam dieser Stoff, sieben Jahre nach Kriegsende, offensichtlich zu früh.

Nachdem sich Strobel und Liebermann von dieser Ablehnung erholt hatten, begannen sie zwei neue Opern, deren Akzeptanz unmittelbar erfolgte: „Penelope“, 1954 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt und „Die Schule der Frauen“ (nach Molière), als Kurzoper 1955 in Louisville/USA, in der dreiaktigen Fassung dann in Salzburg 1957 uraufgeführt. Die dramaturgisch-klugen Strobel’schen Libretti und die intelligent-humorvolle Musik Liebermanns begeisterten sicher auch deshalb das Festspielpublikum, weil die Besten der Besten mitwirkten: Oscar-Fritz Schuh / Caspar Neher inszenierten, am Pult der Wiener Philharmoniker stand George Szell, es sangen Christel Goltz, Anneliese Rothenberger, Christa Ludwig, Nicolai Gedda, Walter Berry, Kurt Böhme ...

Besonders „Die Schule der Frauen“ wurde von vielen Opernhäusern Europas aufgeführt. Auch von der Hamburgischen Staatsoper, bevor Rolf Liebermann ihr Intendant wurde. Nach seiner Amtsübernahme setzte er seine Oper vom Spielplan ab, mit der Begründung „dass von ihm geleitete Institutionen nicht dafür da seien, seine Werke zu spielen“. Eine noble Einstellung, typisch für diesen faszinierenden Intendanten. Mir war es somit nicht vergönnt, die virtuose Rennert-Inszenierung dieser Oper zu erleben.

Höhenflüge in Hamburg

Rolf Liebermann konnte in Hamburg auf ein Repertoire von rund 30 stehenden Werken aufbauen, das von seinem Vor-Vorgänger Günther Rennert klug konzipiert war und das von den großen Opernklassikern bis zu Alban Berg reichte. Günther Rennert stand – wie Oscar Fritz Schuh, Wieland Wagner und Walter Felsenstein, die alle im Liebermann-Haus inszenierten – dem alten Opernverständnis kritisch gegenüber. Besonders diese vier machten ab den 50er Jahren aus dem „Konzert in Kostümen“ Musiktheater; und Rolf Liebermann war als Opernintendant der prägende Initiator. Er machte aus der Hamburger Oper eine Komponistenwerkstatt.

In den vierzehn Liebermann-Jahren ließ er 23 Opernweltaufführungen auf die Bühne bringen, davon 21 Auftragswerke. Darunter Kreationen wie: „Der Prinz von Homburg“ (Hans-Werner Henze/Ingeborg Bachmann), „Der goldene Bock“ (Ernst Krenek), „Der Zerrissene“ (Gottfried von Einem), „Jacobowsky und der Oberst“ (Giselher Klebe), „Zwischenfälle bei einer Notlandung“ (Boris Blacher), „The Visitation“ (Gunther Schuller), „Arden muss sterben“ (Alexander Goehr), „Hilfe, Hilfe, die Globolinks“ (Gian-Carlo Menotti), „Die Teufel von Loudun“ (Krzysztof Penderecki), „Der Belagerungszustand“ (Milko Kelemen), „Ein Stern geht auf aus Jaakob“ (Paul Burkhard), „Staatstheater“ (Mauricio Kagel) sowie Ballettkreationen nach Kompositionen von Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio, Olivier Messiaen, Iannis Xenakis, Lukas Foss, Antonio Bibalo ... Die zeitgenössischen und modernen Opern und Ballette waren fester Bestandteil eines ständigen Repertoires, das aus rund 70 Werken bestand, die alle in die Abonnementsreihen integriert waren.

Und die Abonnenten warteten nach den ersten Liebermann-Jahren neugierig darauf, welche „Verrücktheit“ er wohl diesmal präsentieren würde. Das ging nicht immer ohne Buhs und heftige Reaktionen aus; aber Liebermanns Dauerpräsenz und glaubwürdiges Argumentieren, seine charmante Überzeugungskraft und sein überragendes Können ließen ihn und sein Ensemble fast immer gewinnen. Sein Rezept war eigentlich ganz einfach: er ließ die Renner von Mozart, Verdi, Puccini und Wagner spielen und gab Zeitgenössisches in Auftrag. „Das ist eine reine Erziehungsfrage“, so Liebermann später. „Ich habe drei bis vier Jahre gebraucht, um die Leute daran zu gewöhnen. In das Repertoire habe ich jedes Jahr zwei zeitgenössische Stücke geschmuggelt. Manchmal waren sie etwas ungnädig, aber mit der Zeit haben sie eingesehen: der hat eben diesen Vogel“.

Dieser „Vogel“ hatte seinen spektakulärsten Höhenflug wohl sicher in den 1964 (!) von ihm organisierten zwei Wochen zeitgenössischen Musiktheaters, an denen Abend für Abend ein Werk des 20. Jahrhunderts aus dem Repertoire der Hamburgischen Staatsoper zur Aufführung gelangte, angereichert von einem Gastspiel der Stuttgarter Oper mit Carl Orffs „Oedipus der Tyrann“. Alles vor vollen Häusern – wir hatten uns nicht nur an ihn und sein Konzept gewöhnt, wir waren seiner süchtig!

Man stelle sich jeden Abend in der Hamburger Oper so vor: Kurz vor dem Dunkelwerden im Saal nahm Rolf Liebermann Platz in der ersten Reihe rechts auf Sitz 3 (über dem Blech), verließ diesen sofort in der Pause, um auf der Bühne den Interpreten und Technikern seine Eindrücke der Aufführung mitzuteilen, begab sich ins Raucherfoyer, wo ihn einige Freunde, Gäste, Unbekannte erwarteten und diskutierte, diskutierte, diskutierte ... bis zum ersten Klingelzeichen; wieder hinter die Bühne, dann Reihe 1 rechts, Platz 3. Nach der Vorstellung auf die Bühne, Kritik, Ratschläge, sofort veranlasste Hilfen bei Stimmproblemen der Sänger ... 14 Jahre lang, ob Butterfly, Holländer, Nabucco oder Wozzeck, Pelléas, Boris Godounov. Wenn er dann mal nicht da war – auch er musste reisen –, haben wir uns gewundert.

Ich hatte im Frühjahr 1964 das Glück – als Folge einer jener Pausendiskussionen –, in einem Praktikum bei ihm etwas ganz Wichtiges zu lernen: eine Kulturstätte kann nur von der Bühne aus geleitet werden, d.h. durch die Kreativität, die diese fordert und die von ihr ausgeht. Liebermann hat sein Haus als Künstler geführt – und mit großem politischen Geschick verteidigt - und uns allen vorgemacht und vorgelebt, wie das auf höchstem Niveau sein kann. Wir haben aber auch erkannt, dass selbst ein genialer Prinzipal wie er sich nicht ohne solide und zuverlässige Partner entfalten konnte. Sein Operndirektor Herbert Paris, eine ganz rare Spezies, war der Garant dafür, dass Liebermann alle Register ziehen konnte; die Harmonie der beiden führte zu dem Hamburger Spitznamen „die Dammtor-Brothers“. Generalmusikdirektor Leopold Ludwig – welch Glücksfall für Hamburg damals – stand beispielhaft im Dienst des gesamten Opernrepertoires von Mozart über Verdi, Puccini, Wagner, Strauss bis hin zur Moderne und zu zeitgenössischen Kreationen. Zählt man den damaligen technischen Direktor Hans Stahn noch hinzu, und das muss man, ergibt dies ein optimales Dreigestirn; und das hat Rolf Liebermann immer und immer wieder betont. Genauso wie er sein künstlerisches Ensemble und alle Mitarbeiter immer als „Meine Lieben“ angeredet und bezeichnet hat. Wenn junge, von ihm entdeckte Sänger wie Tom Krause, Melitta Muszely, Gerhard Stolze, Erwin Wohlfahrt, Hans Sotin, Arlene Saunders, Placido Domingo ... in das Haus an der Dammtor-Straße integriert wurden, dann wussten sie, wohin sie kamen und danach, was sie ihm verdankten.

Für dieses geballte kreative Potenzial suchte und fand Rolf Liebermann bald ein neues Aktionsfeld, dessen Pionier er wurde: die gefilmte Oper bzw. der Opernfilm. Fünfzehn seiner Staatsopernproduktionen ließ er Ende der 60er Jahre in den Studios des Norddeutschen Rundfunks nachbauen und filmte sie in Farbe und mit internationaler Besetzung. Fünfzehn Jahre später, als Administrateur général de l’Opéra de Paris hat er noch einmal, zusammen mit dem Filmregisseur Joseph Losey, mit Lorin Maazel und mit Ruggero Raimondi in der Titelrolle diesem Genre gehuldigt: sein Opernfilm „Don Giovanni“ (für Gaumont) hat Geschichte geschrieben.

Rolf Liebermann wurde mit der Zeit zu einem umworbenen Intendanten. Er gab allen einen Korb – auch Wien und New York, um die Hamburger Arbeit fortzusetzen; aber auch, um mit der latenten Gefahr seines Weggangs das damals nicht sehr üppige Budget der Oper an der Dammtor-Straße zu verbessern und dem Standard von München und Berlin anzugleichen. Sein Hamburger-Mandat ging 1973 zu Ende. Da er in dieser Zeit (fast) nicht mehr komponiert hatte, wollte er hieran wieder anknüpfen. Doch dazu kam es erst mal nicht.

Das Abenteuer Paris

Frankreich hatte ab 1969 mit Georges Pompidou einen Staatspräsidenten mit einer ausgeprägten, modernen kulturellen Ambition. Der desolate Zustand der Pariser Oper war ihm ein Dorn im Auge. Er beauftragte seinen Kulturminister Jacques Duhamel mit einer Lösung dieses Problems. Rolf Liebermann wurde sehr schnell ihr Wunschkandidat. Der junge Hugues Gall wurde mit den Verhandlungen beauftragt. Was dann begann, ist bereits französische Kulturgeschichte.

„Es hat mich zuerst gar nicht gereizt. Dann hat es plötzlich angefangen, mich zu interessieren. Die Stadt hat mich gereizt, und die Möglichkeit, noch einmal bei Punkt Null anzufangen. Da habe ich mich gefragt: Warum muss das so schwer sein? Wo liegen die Schwierigkeiten? Ich wollte es schließlich einfach wissen ...“, kommentierte einmal Liebermann.

Wieder einmal trieb ihn die Neugier in ein Abenteuer. Die Situation war paradox, genau das Gegenteil von der in Hamburg. Galt hier die Kombination Ensemble und Avantgarde, so hieß es in Paris Stagione und Museum. Die Hamburger Oper konnte er zur modernsten der Welt machen, weil er sich auf ein demokratisch geführtes und gut funktionierendes Haus mit großem Repertoire stützen konnte. Das Gegenteil war in Paris der Fall: es gab kein Repertoire, er musste erst eines schaffen. Es gab keinen Produktionsrhythmus, kein feststehendes Premieren- und Aufführungssoll.

Es gab viel Rückständiges zu regeln, weil das Pariser Opernhaus vom Ursprung und der Geschichte her immer ein auf Glanz und Repräsentation zugeschnittenes Unternehmen war, in dem die Rolle des Publikums wichtiger war als das, was auf der Bühne dargeboten wurde. Das einzige, was gut funktionierte, war das Ballett, diese große Tradition ist in der Pariser Oper lebendig geblieben. „Musikalisch sind die Franzosen weniger geschult als die Deutschen; aber Augen haben sie!“.

In der weltoffenen Hansestadt Hamburg mit ihrer Bürgeroper war Rolf Liebermann der Avantgardist unter der Opernintendanten. In der kulinarischen Weltmetropole Paris musste er zum Reaktionär werden, um überhaupt gewinnen zu können. Der „Reaktionär“ war er nur nach außen; er wusste genau, was er wollte und wie er es umsetzen konnte. Er begann, mit einer Reihe von Werken des klassischen und romantischen Repertoires in meisterhaften Aufführungen das Vertrauen der Stadt, des Hauses, des Publikums zu erwerben. Er besetzte mit internationalen Stars, holte sich seinen langjährigen Freund Georg Solti als musikalischen Berater.

Er schaffte es nach zwei Spielzeiten, bereits ein Repertoire von knapp zwanzig Werken zu etablieren und ein Abonnementsystem mit mehreren Serien aufzulegen – ohne jegliche Ermäßigung, das trotzdem immer in kürzerster Zeit ausverkauft war. Das Pariser Publikum war umgehend bereit, den Mehrpreis zu zahlen, wenn Luciano Pavarotti, Placido Domingo, Mirella Freni, Nicolai Ghiaurov, José van Dam, Margret Price, Kiri Te Kanawa, Teresa Berganza, Ileana Cotrubas, Christa Ludwig, Kurt Moll, Jon Vickers ... sangen, in z.T. epochalen neuen Inszenierungen von Giorgio Strehler, Jorge Lavelli, Patrice Chéreau, Peter Stein, Terry Hands ... und mit Georg Solti, Georges Prêtre, Michel Plasson, Pierre Boulez, Karl Böhm, Lorin Maazel, Seiji Ozawa am Pult. Den zahlreichen Kritikern seiner Nominierung nahm er einigen Wind aus den Segeln, in dem er große, französische Interpreten integrierte: Gabriel Bacquier, Roger Soyer, Jules Bastin, Alain Vanzo, Robert Massard, Michel Sénéchal, Régine Crespin, Christiane Eda-Pierre, Jane Berbié, Mady Mesplé ...

Rolf Liebermann war es wie mit einem magischen Zauberschlag gelungen, das Pariser Opernpublikum zu euphorisieren und das Haus zu reformieren. Die Grand Opéra de Paris gehörte wieder zu den besten der Welt. Es gelang ihm auch etwas anderes: der unerwünschte „Fremde“ gewann nicht nur das Vertrauen seiner riesigen, gewerkschaftlich mobilisierten Mannschaft, er wurde am Ende zu ihrem verehrten „Patron“. Und das will in Frankreich etwas heißen!

Erleichtert waren Publikum und Nörgler, dass Rolf Liebermann dem weltweit anerkannten Ballett der Pariser Oper weiterhin einen ganz wichtigen Platz zugestand. Die Choreographen Jerome Robbins, George Balanchine, Merce Cunningham, Carolyn Carlson, Rudolf Noureev, Roland Petit gaben bereichernde Impulse, die das herausragende Niveau dieser wunderbaren Compagnie für die Zukunft sicherte.

Gegen Ende seines Pariser Mandats, das wegen politischer Querelen immer penibler wurde, konnte Liebermann endlich auch an das zeitgenössische Musikschaffen denken, er vergab wieder Aufträge, nur wenige waren noch möglich. So wurde der österreichische Komponist und Musikwissenschaftler Friedrich Cerha beauftragt, den fehlenden Schluss von Alban Bergs „Lulu“, auf der Basis der vorhandenen Skizzen Bergs, nachzukomponieren. Das Bayreuther Ring-Gespann Pierre Boulez / Patrice Chéreau sorgte 1979 für einen internationalen Triumph, der von der Deutschen Grammophon aufgezeichnet wurde.

Ein Auftrag ging an Olivier Messiaen und es entstand die szenische Meditation über Leben und Tod des „Saint-François d’Assise“. Die Uraufführung war erst 1983 an der Pariser Oper, nach der Ära Liebermann, mit José van Dam in der Titelrolle, dirigiert von Seiji Ozawa. Zu einem Kompositionsauftrag an Henri Dutilleux kam es leider nicht mehr.

Die turbulente Pariser Zeit Rolf Liebermanns war nur zu meistern, weil er auf einige kompetente und loyale Mitstreiter zählen konnte, an deren Spitze der bereits erwähnte Hugues Gall. Die hier entstandene Freundschaft der beiden führte in den Folgejahren zu vielen, für die französische Opernwelt wichtigen Weichenstellungen. Liebermann empfahl Hugues Gall als Intendant an das Grand Théâtre de Genève. Dort zeigte Gall auf beglückende Art, was er von ihm gelernt hatte und beauftragte seinen Mentor, wieder eine Oper zu schreiben: 1987 wurde dort „La Forêt“ uraufgeführt. Vorher erfüllte Gall ihm auch den Wunsch, Wagners „Parsifal“ in Genf zu inszenieren. Der „Alte“ hatte sein ganzes Wissen und Können in den Dienst dieses Bühnenwerkes gestellt und 1982 eine beeindruckende, apokalyptische Vision für uns alle erlebbar gemacht, mit Freund Horst Stein am Pult des Orchestre de la Suisse Romande, Siegfried Jerusalem in der Titelrolle und Yvonne Minton als Kundry.

Hugues Gall übernahm 1995 die Leitung der Pariser Oper, die nun aus dem historischen Palais Garnier und der modernen Opéra Bastille bestand. Es war, als wäre das Erbe des Vaters auf den Sohn übergegangen; auch diese Kontinuität ist ein Glücksfall.

Rolf Liebermann verließ nach einiger Zeit mit seiner Frau Hélène Vida Paris und zog wieder nach Hamburg. Sein Versuch, die frühere Wirkungsstätte 1985 vor einem Kollaps zu bewahren, hatte wenig Erfolg: Senat und Stadt waren nicht mehr dieselben wie zu seiner goldenen Zeit und das Haus selbst war in keinem guten Zustand. Peter Ruzicka und Gerd Albrecht – beide Liebermann freundschaftlich verbunden – gelang es ab 1988, der Hamburger Oper wieder ein künstlerisches Profil zu geben. Wesentlich mehr Erfolg hatte Liebermann mit der Förderung junger Sänger in Zusammenarbeit mit Christa Ludwig und dem Salzburger Institut und seiner inspirierenden Leitung der dortigen Sommerakademie.

Der wieder aktive Komponist wurde zum Vagabunden. Er zog „in die Sonne“ nach Florenz, dem er aber nach kurzer Zeit wieder den Rücken kehrte: die faschistoiden Tendenzen der italienischen Politik schreckten ihn ab („So einen Scheiß will ich nicht noch einmal miterleben !“, empörter O-Ton aus Italien am Telefon). Die Liebermanns kehrten wieder nach Paris zurück.

Die Kraft des Alterswerks

Nachdem sich Rolf Liebermann Ende der 80er Jahre von den Institutionen des Musikbetriebes zurückgezogen hatte, stürzte er sich noch einmal mit aller Kraft auf das Komponieren. Es entstand ein bewundernswertes Alterswerk, das er mit großer Energie und Inspiration vorantrieb. Man hatte den Eindruck, es hatte sich viel in ihm angespeichert, das jetzt niedergeschrieben werden musste. Die Oper „Freispruch für Medea“, nach dem gleichnamigen Roman und Libretto von Ursula Haas, entstand (1995 von Peter Ruzicka, Gerd Albrecht und Ruth Berghaus in Hamburg uraufgeführt), das Orchesterwerk „Enigma“, ein Klavierkonzert, ein Violinkonzert, Kammermusik. Max Nyffeler beschrieb in der nmz im Februar 1999 diese letzte Kompositionsphase von Rolf Liebermann: „Wer den Weg des Komponisten Liebermann in den letzten Jahren aus der Nähe verfolgen konnte, musste den frischen Optimismus bewundern, mit dem da einer im hohen Alter seine zweite künstlerische Existenz entwarf – und verwirklichte. Er fühlte sich wieder als der Profi, als „einer vom Bau“, wie er sagte. Einer, der mit einem gewissen Handwerkerstolz sein altes Werkzeug wieder aus dem Kasten holte und ausprobierte. Die neuen, von der jungen Generation salopp gehandhabten Technologien interessierten ihn nicht übermäßig. Er knüpfte da an, wo er als Schüler Wladimir Vogels und früher Zwölftonpionier begonnen hatte: bei der Reihentechnik Schönbergscher Prägung. Sie gab ihm die Sicherheit im musiksprachlichen Ausdruck und in der Form“.

Ab seinem 80. Geburtstag (in Paris aufwändig gefeiert unter Mitwirkung von Marek Janowski, Paul Sacher, Pierre Boulez) trafen wir uns häufiger; auch weil ich an meiner Wirkungsstätte in Leverkusen einige seiner Werke aufführen ließ. Besonders über die deutsche Erstaufführung seines Violinkonzertes im Januar 1995 im Leverkusener Forum (Thomas Zehetmair, Bremer Kammerphilharmonie / Jiri Belohlavek), von WDR 3 aufgezeichnet, war er sehr glücklich; und das Publikum auch. Wie ein vorweggenommener Abschied von ihm wirkte das Saison-Eröffnungskonzert im September 1997, nur 15 Monate vor seinem Tod: François-René Duchâble und Dirk Joeres interpretierten Franz Schubert’s Klavierfantasie, gefolgt von der Orchesterfassung dieses Werkes, welche Hugues Gall und Claude Samuel bei Rolf Liebermann in Auftrag gegeben hatten und deren Uraufführung in Paris dann James Conlon dirigierte. Der Westdeutschen Sinfonia gelang, sicher auch motiviert durch die Anwesenheit Liebermanns, eine berührende Wiedergabe einer seiner letzten Stücke. Ein CD-Mitschnitt hielt dieses denkwürdige Konzert fest.

Rolf Liebermann starb am 2. Januar 1999 in Paris. Die Gedenkfeiern im Palais Garnier und in der Hamburger Oper machten deutlich, was da einmal war! Der Regisseur Adolf Dresen brachte es auf den Punkt : „Er war wohl der letzte ingeniöse Prinzipal in der Personalunion von Theaterdirektor und Künstler, Pragmatiker und Utopist“.

Wer das Glück hatte, mit Rolf Liebermann zu arbeiten oder von ihm gefördert zu werden, der war nachhaltig geprägt und motiviert. Sein kompromissloser, prioritär künstlerischer Anspruch übertrug sich auf uns alle und war eine vorbildliche Orientierung für das jeweils eigene Wirken. Liebermann's Schlusswort unseres Podiumsgespräches im September 1990 auf der Bühne des Bayer Erholungshauses sei auch hier der Abschluss meiner dankbaren Erinnerungen an diesen ganz Großen: „Die soziale Marktwirtschaft kann sich auf Dauer nur dann rechtfertigen und halten, wenn sie ihren kulturellen Auftrag als ethische Aufgabe ernst nimmt“. Dieses Zitat und sein Photo – ein hinreißender Schnappschuss – zieren das Künstlerzimmer der Bayer Kulturabteilung und erinnern daran, dass Kunst und Kultur weder Selbstzweck noch Kommunikationsfutter sind, sondern eine über den Applaus hinausgehende Verpflichtung haben. Und mahnen, dass wir uns in Europa auch auf eine andere „Währung“ besinnen sollten: auf die menschlich-künstlerische, auf die kulturelle.

Nikolas Kerkenrath war von 1986 bis 2008 Leiter der Bayer Kulturabteilung in Leverkusen und von 2000 bis 2009 Mitglied im Deutsch-Französischen Kulturrat. Von 1965 bis 1986 arbeitete er für verschiedene Theater und Kulturinstitutionen in der Schweiz. Für seine Verdienste um die französische Kultur wurde er 1989 und 2002 mit den Orden „Chevalier de l’Ordre National du Mérite“ und „Officier de l’Ordre National du Mérite“ ausgezeichnet. Seit Herbst 2008 lebt Nikolas Kerkenrath in Paris.

Auswahldiskografie
Penelope (Gesamtaufnahme Salzburg 1954). Orfeo
Die Schule der Frauen (Gesamtaufnahme Salzburg 1957). Orfeo
Freispruch für Medea (Gesamtaufnahme Hamburg 1995). MGB, Musikszene Schweiz
Tribute to Rolf Liebermann (Klavierkonzert, Furioso, Enigma, Concerto for Jazzband and Symphony Orches­tra). Thorofon (Bella Musica)
Concerto for Jazzband and Symphony Orchestra, Medea-Monolog, Furioso. Naxos
Cult Opera of the 1970s. Studioproduktionen der Hamburgischen Staatsoper 1967 bis 1971 (Le nozze di Figaro, Die Zauberflöte, Fidelio, Der Freischütz, Zar und Zimmermann, Orpheus in der Unterwelt, Die Meistersinger von Nürnberg, Wozzeck, Help, Help, the Globolinks!, Die Teufel von Loudun). 11 DVDs, Arthaus (Naxos)

TV-Tipp
«Rolf Liebermann – Musiker»
Eine Eigenproduktion der SF-Musikredaktion in Koproduktion mit 3sat und dem NDR
Ein Dokumentarfilm von Mürra Zabel
Ausstrahlung:
Sonntag, 12. September 2010, 22.40 Uhr SF 1 (Ausstrahlung Teil 1 und 2)
Samstag, 18. September 2010, 22.35 Uhr, 3sat (Teil 1)
Mittwoch, 22. September 2010, 21.00 Uhr, 3sat (Teil 2)

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