Rohwedder-Doku auf Netflix: Wer ermordete 1991 den Treuhand-Chef? - WELT
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Geschichte Verschwörungstheorien

Wollten Stasi-Leute mit der Ermordung des Treuhand-Chefs ihre Geschäfte kaschieren?

Die erste deutsche Dokumentation von Netflix hat die Ermordung des Treuhand-Chefs 1991 zum Thema. „Rohwedder. Einigkeit und Mord und Freiheit“ bietet gleich vier Versionen des Anschlags, der bis heute nicht aufgeklärt ist.
Leitender Redakteur Geschichte
Die Leiche von Detlev Karsten Rohwedder wird am 2. April 1991 aus seinem Haus getragen Die Leiche von Detlev Karsten Rohwedder wird am 2. April 1991 aus seinem Haus getragen
Die Leiche von Detlev Karsten Rohwedder wird am 2. April 1991 aus seinem Haus getragen
Quelle: picture-alliance/ dpa

Wurde Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder 1991 ermordet, um einer sich gerade formierenden Arbeiterbewegung in Ostdeutschland die Durchschlagskraft zu nehmen? Mit dieser abstrusen Verschwörungstheorie konfrontiert die „erste deutsche Netflix-Original-Doku-Serie“, so die Selbstbezeichnung der viermal 40 Minuten langen Produktion, den Zuschauer in der letzten Folge. Das ist bedauerlich, denn „Rohwedder. Einigkeit und Mord und Freiheit“ hätte alles gehabt, um ein wirklich gute Dokumentation zu werden.

Rohwedder
Detlev Karsten Rohwedder war Anfang 1991 das Feindbild Nr. 1 bei vielen Ostdeutschen
Quelle: Netflix

Die äußeren Umstände des Verbrechens sind bekannt: Am Ostermontag, dem 1. April 1991, wurden aus einem Kleingarten am linken Ufer des Rheins in Düsseldorf um 23.31 Uhr drei Schüsse aus einem Gewehr auf ein Fenster im Obergeschoss des Hauses Kaiser-Friedrich-Ring 71 abgegeben.

Die erste der aus 63 Meter Entfernung abgegebenen Kugeln traf den 58-jährigen Manager und Chef der ostdeutschen Treuhandanstalt tödlich; seine Frau wurde vom zweiten Schuss schwer verletzt, das letzte Geschoss schlug in ein Bücherregal ein. Drei Schüsse, zwei Treffer, und das bei leichtem Nieselregen an diesem Abend: Der Schütze war kein Anfänger.

Drei Minuten nach den Schüssen löste die nordrhein-westfälische Polizei Großalarm aus. Dennoch konnten die Täter entkommen; zurück blieben am Tatort ein Campingstuhl, ein Handtuch mit einem Haar, drei Zigarettenstummel und ein erstes, 13 Zeilen kurzes Bekennerschreiben mit dem RAF-Symbol, der Maschinenpistole im fünfzackigen roten Stern.

Treuhand-Vize Hero Brahms beim Interview Hero
Treuhand-Vize Hero Brahms beim Interview für die Netflix-Produktion
Quelle: Netflix

Drei Tage später folgte ein ausführliches fünfseitiges Schreiben, in dem es hieß: „Rohwedder saß seit 20 Jahren in Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft. Als Bonner Wirtschaftsstaatssekretär organisierte er in den 1970er-Jahren die Rahmenbedingungen, die das BRD-Kapital für seine Profite in aller Welt braucht.“ Später sei er als „brutaler Sanierer“ tätig gewesen und solle nun „die Wirtschaft der Ex-DDR genauso wie die sozialen Strukturen dort vom Gesundheitssektor bis zu den Kinderkrippen systematisch zerstören“. Das war natürlich völlig wirr, aber in der Diktion der RAF formuliert und in ihrem Wahn vollkommen stringent.

Aufgeklärt werden konnte der Mordanschlag bis heute nicht: Niemand weiß, wer genau den tödlichen Schuss abgegeben hat. Beste Voraussetzungen also für eine „True-Crime“-Dokumentation: Der Rohwedder-Mord hat gesellschaftliche und politische Brisanz. Zudem gibt es viele bewegte Bilder, interessante Zeitzeugen und Experten. Leider aber ist das Experiment gründlich schiefgegangen.

BKA-Sprecher Willy Fundermann mit einer baugleichen WAffe wie der Tatwaffe
BKA-Sprecher Willy Fundermann mit einem baugleichen Gewehr wie der Tatwaffe
Quelle: Netflix

Der Streamingdienst Netflix hat die Regisseure Jan Peter (erfolgreich etwa mit „14 – Tagebücher des Ersten Weltkrieges“) und Georg Tschurtschenthaler (bekannt für „Lebt wohl, Genossen!“ über den Untergang des Kommunismus) sowie die Drehbuchautoren Christian Beetz und Martin Behnke offensichtlich mit sehr viel Geld ausgestattet. Die schiere Produktionsqualität jedenfalls hebt sich deutlich ab von dem, was Dokumentarfilmer beim deutschen Gebührenfernsehen abliefern dürfen. Die Spielszenen, die Gestaltung der Interviews, das verwendete Archivmaterial – alles auf höchstem Niveau.

Mit dem damaligen Abteilungsleiter Terrorismus beim Bundeskriminalamt Rainer Hofmeyer und Winfried Ridder, seinerzeit RAF-Experte beim Bundesamt für Verfassungsschutz, hat das Team die wichtigsten Experten für Interviews gewinnen können. Der Düsseldorfer Polizeireporter Günther Classen lässt die Umstände direkt nach dem Großalarm lebendig werden.

Günther Classen, Polizeireporter beim Express in Düsseldorf
Günther Classen ist seit Jahrzehnten Polizeireporter beim "Express" in Düsseldorf
Quelle: Netflix

Es wird deutlich: Beide Bekennerschreiben, das kurze wie das lange, stammten eindeutig von der RAF. Mit der Tatwaffe war bereits fünf Wochen zuvor bei einem anderen RAF-Anschlag über den Rhein hinweg auf die US-Botschaft nahe Bonn geschossen worden. Alles deutete auf die Täterschaft der deutschen Linksterroristen – und nichts in eine andere Richtung.

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So weit, so gut. Der Vierteiler hätte nun weiter einen seriösen Weg beschreiten können, also darlegen, wie alle Fahndungsmaßnahmen ins Leere liefen. Wie es dann 2001 durch den technischen Fortschritt beim genetischen Fingerabdruck gelang, das sichergestellte Haar zweifelsfrei dem RAF-Topterroristen Wolfgang Grams zuzuordnen – der also auf jeden Fall zeitnah zum Anschlag am Tatort war. Eine Strafverfolgung war jedoch unmöglich, denn Grams hatte sich bei einem misslungenen Zugriff der GSG-9 auf dem Bahnhof Bad Kleinen 1993 selbst erschossen.

Rainer Hofmeyer, 1991 Chef der Abteiklung Terrorismus beim BKA, vor dem ersten kurzen Bekennerschreiben der RAF zum Rohwedder-Mord
Rainer Hofmeyer, 1991 Chef der Abteilung Terrorismus beim BKA, vor dem ersten kurzen Bekennerschreiben der RAF zum Rohwedder-Mord
Quelle: Netflix

Ein Schwenk auf all die Verschwörungstheorien, die über den Rohwedder-Mord in Umlauf gesetzt wurden, hätte das Bild abrunden können. Es wäre ein hervorragendes Stück Fernsehen geworden, aufwendig produziert, mit einer aktuellen, auch international vermarktbaren Ästhetik.

Leider haben Peter und Tschurtschenthaler jedoch diesen Weg nicht gewählt. Im Gegenteil steigen sie ein in das absurde Rennen um die möglichst wildeste Spekulation und präsentieren gleich drei einander ausschließende „alternative“ Versionen zur Realität.

Nachstellung des RAF-Bekennerschreibens zum Rohwedder-Mord
Das erste RAF-Bekennerschreibens zum Rohwedder-Mord an Tatort (Nachstellung)
Quelle: Netflix

Nach der ersten davon sei Rohwedder statt von einem RAF-Kommando von frustrierten ostdeutschen Scharfschützen ermordet worden, die ihn für seine Rolle bei der (unvermeidlichen) Abwicklung der maroden DDR-Staatswirtschaft bestrafen wollten. Laut Theorie Nr. 2 habe ihn ein Kommando aus ehemaligen Stasi-Leuten getötet, um die Aufdeckung von verschobenen Millionenguthaben zu verhindern. Die dritte Version: Westliche Experten hätten Rohwedder getötet, um einen Mitleidseffekt in Ostdeutschland auszulösen und auf diese Weise die im Frühjahr 1991 aufkeimende „neue Arbeiter- und Bürgerbewegung“ gegen die Politik der Treuhand auszubremsen.

Alle Varianten sind mit hervorragend gefilmten Spielszenen illustriert; die zur dritten fällt besonders famos aus: Nachdem der Scharfschütze mit Tarndecke und Sturmhaube verschwunden ist, „impft“ ein ganzer Trupp Männer in Spurensicherungsanzügen nächtens den Tatort mit vermeintlichen Spuren. Sie legen das erste Bekennerschreiben und das Handtuch ab, lassen aus einer Plastiktüte vorsichtig die Zigarettenstummel und das Haar herausfallen, das erst zehn Jahre später analysiert werden kann.

Aber in Wirklichkeit war die Düsseldorfer Polizei schon drei Minuten nach den Schüssen vor Ort. Es gab also überhaupt keine Zeit für das Manipulieren von Spuren. Wer hätte zudem Indizien gelegt, von denen seinerzeit noch unklar war, ob sie je würden ausgewertet werden können?

Die Regisseure und Drehbuchautoren lassen zudem ausgesprochen fragwürdige Gewährsleute ebenso zu Wort kommen wie die ausgewiesenen Experten Hofmeyer und Ridder. Zum Beispiel den wegen Doppelmordes verurteilten RAF-Terroristen Lutz Taufer, der auf angebliche Unterschiede zwischen dem Bekennerschreiben zum Rohwedder-Mord und anderen RAF-Botschaften hinweist. Doch legt man alle Botschaften der sogenannten dritten RAF-Generation nebeneinander, sind diese vermeintlichen Differenzen eben nicht zu entdecken: Es ist stets derselbe Duktus, derselbe Größenwahn.

Rohwedder-Plakat
Mit diesem hervorragend gestalteten Plakat wirbt Netflix für die leider misslungene Doku-Serie
Quelle: Netflix
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Hinzu kommt die längst widerlegte Diffamierung der Treuhand und ihrer Arbeit. Kurz vor dem Abspann der letzten Folge heißt es zum Beispiel, 94 Prozent der Betriebe in der ehemaligen DDR seien an westliche Investoren gegangen, nur sechs Prozent seien „den Menschen in Ostdeutschland“ geblieben. Dass der westdeutsche Steuerzahler hunderte Milliarden Mark in die Wirtschaft der ostdeutschen Bundesländer stecken musste, damit überhaupt irgendetwas erhalten blieb, wird dem Zuschauer vorenthalten.

Dokumentationen sollen Wirklichkeit soweit wie möglich abbilden und idealerweise unklare Zusammenhänge aufklären. Die erste deutsche Netflix-„Original-Doku-Serie“ tut das Gegenteil: Sie bedient alte Verschwörungstheorien und verbreitet neue Spekulationen. Das ist schade. Sehr schade.

Zu sehen bei Netflix, ab 25.9.

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