Die Persönlichkeitstheorie: Die Selbstverwirklichungs-, bzw. Aktualisie­rungstendenz als universelle formative Tendenz

Rogers Hypothese besagt, daß das Individuum über Möglichkeiten verfügt, um „sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte, seine Grundeinstellungen und sein selbst­gesteuertes Verhalten zu verändern.“ (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981; Seite 66)
Was meint er damit?

Im Laufe des Lebens entwickelt sich ein Selbstkonzept des Organismus, welches man als „Kondensat oder Verdichtung“ (Heigl-Evers, A. / Heigl, F. / Ott, J. / Rüger, U.: Lehrbuch der Psychotherapie 1997) aller subjektiven Erfahrungen im Leben über die eigenen Person beschreiben kann.

Das „Self-as-object“ meint dabei die Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Einschät­zung der eigenen Person, also, wie eine Person über sich als selbst denkendes, er­innerndes und wahrnehmendes Objekt denkt.





Das „Self-as-process“ meint dabei mehr das Selbst als aktiv handelndes Element, als handelnde Person.

Rogers versteht das Selbst also nicht wie Freud als eine innere Instanz, sondern als das Objekt psychischer Prozesse wie Denken, Erinnern und Wahrnehmen. Ort dieser Prozesse ist die über den Organismus erfahrene Wirklichkeit, das „phäno­menale Feld“, welches ein individueller Bezugsrahmen ist und welches nur das Individuum selbst kennt. (Quitman, H.: Humanistische Psychologie 1996)

Der Mensch als eine Anhäufung von Erfahrungen des Lebens – von Körperwahrneh­mungen als Interaktionen mit der Umwelt – ist somit das Selbst. Dieses Selbst ist die Prüfungsinstanz zwischen subjektiver und objektiver Wirklich­keit. Es muß also zwi­schen „Innen“ und „Außen“ vergleichen und , was viel schwie­riger ist, auch unter­scheiden können. Dabei ist es doch immer bestrebt, seine inte­grierte in­nere Struk­tur aufrecht zu erhalten.

Dies geht sogar soweit, daß, auch wenn sich eine Person in ihrer Persönlichkeit im­mer weiter von der Realität entfernt, doch versucht wird, die innere Ordnung auf­recht zu erhalten – also einen Zustand innerer Übereinstimmung mit dem Selbstbild beizubehal­ten. Dieses Bestreben des Organismus bezeich­net man als Selbst-Konsi­stenz.

Hierbei bewertet sich das Individuum in seinem Verhalten und seinem Selbstkonzept schließlich, unabhängig von der Außenwelt, selbst – verschönt somit das Bild, das es von sich selber hat. „Diese Selbst-Wertschät­zung ist die psychologische Grundlage sei­ner Exi­stenz und die Erfahrungen werden so orga­nisiert, daß dieses bestehende Werte­system nicht aus dem Gleichgeweicht ge­bracht werden kann.“ (s. o.; Seite 146) Verhalten und Selbst­konzept sind also konsistent – stimmen überein.

Rogers unterscheidet zwischen drei Arten von Übereinstimmung (congruence) und Nichtübereinstimmung (incongruence), die durch dieses „Verhalten“ zustande kom­men können:

  • zwischen dem Selbst, wie es vom Individuum wahrgenommen wird und dem kon­kreten organismischen Erleben (Konsistenz)
  • zwischen der subjektiven Wirklichkeit des phänomenalen Feldes und der „tat­sächlichen“ Realität der äußeren Welt
  • zwischen dem tatsächlichen und dem gewünschten Selbst
    (Rogers umschreibt dies folgendermaßen: Ein Selbstkonzept, „wich the individual would most likely posess, upon which he places the highest value for himself. In all another respects it is defined in the sa­me way as the self-concept.“ In Quitmann, H.: Humanistische Psychologie 1996; Seite 146)

Durch ungünstige Lernprozesse kann es also dazu kom­men, daß neue Erfahrungen nicht mehr in das Selbstkonzept integriert werden kön­nen.

Man kann es auch so um­schreiben, daß die Person unter ungünstigen Umständen ih­ren eigenen neuen Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht mehr vertraut oder ganz einfach „außen vor“ läßt. Denn die neuen Erfahrungen werden dem Bewußtsein vor­enthalten, damit Selbst-Konzept und bestehende Erfahrungen weiterhin konsistent bleiben – denn eine Inkongruenz wäre wie­derum eine Bedro­hung der Selbst-Konsi­stenz an sich.

Die hieraus folgende Diskrepanz oder eigentliche Inkongruenz zwischen der Selbst-Wahrnehmung und den neuen Erfahrungen stellt aber eine Bedrohung für den Men­schen dar, wenn sie nicht durch Symbolisierung in dessen Be­wußtsein dringen kann.
Denn dies alles hat zur Folge, daß es nun einen Wider­spruch zwischen Selbstkon­zept und dem äußeren Erleben gibt.- Organismus und Selbst streben in unterschiedli­che Richtungen.

Ängste, Schuldgefühle, Selbstabwertung und Ab­wehrhaltungen (also negative defen­sive Prozesse) den neuen Erfah­rungen gegenüber sind die Folge. (Quitmann, H.: Humanistische Psychologie 1996)

Nach Rogers Auffassung ist dieses dem Organismus aber zuwider.

Dem Orga­nismus wohnt nämlich eine Tendenz inne, die danach strebt, sich zum Po­sitiven hin zu entwickeln – kongruent zu sein. Diese Positiva sind Ziele wie etwa Ge­sundheit, körperli­ches und seeli­sches Wachstum, Selbstverantwortlichkeit und weite­re Bedürfnisbe­friedigungen. Dieses lebenslange Streben findet aber, wie oben be­schrieben, statt in ei­nem (nicht immer positiven) Span­nungsfeld zwischen Autono­mie und Anpas­sung, Abhängigkeit und Un­abhängigkeit, Integration und Differenzie­rung.
Bei dieser Aktualisierung hin zum Guten, macht der Organismus also subjekti­ve Er­fahrungen, denn er steht ja in einem individuellen Kontext zu seiner Außenwelt. Die­se in­dividuellen Erfahrun­gen, Eindrücke und Reize werden vom Organismus bewer­tet und zwar hinsichtlich ihres positiven Nutzens für die Aktualisierung hin zum Po­sitiven, zur Vervollkomm­nung – zur Selbstverwirklichung.

Diese Aktualisierungstendenz zur „wahren“ Selbstverwirklichung geschieht aber nur unter günstigen äußeren Umständen, etwa in einem Klima, wie ich es bereits hier beschrieben habe.





Die menschliche Natur wird also, im humanistischen Sinne, im Grunde ihres Stre­bens als zu­tiefst positiv betrachtet. Dies gilt für die individuelle Entwicklung, wie auch für die Auseinandersetzung in Beziehungen zu anderen Menschen.
Nach Rogers Theorie ist also das Charakteristikum der menschli­chen Existenz das Streben des Organismus, ein Prozeß der Suche nach Selbst­verwirklichung, nach ganzheitlichem Wachstum.

Der Mensch durchläuft (in der Therapie / in einem günstigen Klima) einen Pro­zeß, der es ihm ermöglicht, „Vertrauen zum eigenen Organismus“ zu entwickeln, „der ge­genüber allen Elementen seines organischen Erlebens offener, der Vertrauen zum ei­genen Organismus als ein empfängliches Instrument entwickelt, der Bewer­tungen aus sich heraus vornimmt, … der sein Leben als fließenden Prozeß … (sieht) …, in dem er stän­dig neue Aspekte seines Wesens im Strom seiner Erfahrungen ent­deckt.“ (Rogers, C.: Entwicklung der Persönlichkeit 1976; Seite 129) Der es also zuläßt, sein Selbstkonzept zu reorgani­sieren. – Seine anfangs vielleicht nicht akzeptier­ten Wahr­nehmungen und Gefühle und sein Selbst­konzept immer wie­der zu einer neu­en Ge­samtheit werden zu lassen.

„Ich bin der Überzeugung, daß dieser Prozeß des guten Lebens kein Leben für die Kleinmütigen ist. Er enthält ein Ausdehnen und ein Wachsen der Entwicklung zu ei­nem Sein, in dem man zunehmend seine eigenen Möglichkeiten ist. Der Mut zum Sein ist darin inbegriffen. Es bedeutet, sich völlig in den Strom des Lebens hineinzu­begeben. Das ist aber das höchst Aufregende beim Menschen: wenn das Individuum inner­lich frei ist, wählt es als das gute Leben diesen Prozeß des Werdens.“ (s. o. Seite 195)

Rogers fühlt sich in seiner Hypothese bestätigt durch eine Vielzahl von Forschungs­ergebnissen anderer Wissenschaftsdisziplinen, die – nicht nur was den Bezug zum menschlichen Organismus betrifft – seine Theorie stützen und gleichzeitig die Basis zu einer universellen Formel bilden: Einer Formel der formativen Tendenz im Uni­versum als Ganzes. (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981)

Als Beispiele wären hier die Erkenntnisse von Goldstein (Goldstein, G.: Human nature in the light of psychopathology 1947), Maslow (Maslow, A. H.: Motivation and Personality 1954), Angyal (Angyal, A.: Foundations for a science of personality 1941 / Neurosis and treatment 1965) und Szent-Gyoergyi (Szent-Gyoergyi, A.: Synthesis 1974) zu nennen, die Rogers als Einfluß auf sein Denken nennt. Sie sind ebenfalls der Meinung, daß sich ein Organismus im Normalzustand hin zur Vervoll­kommnung / Selbstverwirklichung entwickelt.

Dieses Konzept der Selbstverwirklichung stützen ebenfalls Ergebnisse aus der Biolo­gie. So führt Rogers Experimente von Hans Driesch (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981) mit Seeigeln an, in denen die­ser zwei Zellen trennte, die sich nach der ersten Teilung des befruchteten Eis bilde­ten. Diese zwei Zellen wuchsen jeweils zu einer ganzen, vollständigen Seeigel-Larve her­an, wenn man ihnen ein günstiges Umfeld zum Gedeihen verschaffte. Dies steht in ei­nem verblüffenden Gegensatz zu der Annahme, die zwei Zellen würden sich le­diglich zu ei­nem Teil einer Seeigel-Larve entwickeln. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, daß die­se konstruktive Tendenz zur Ganzheit im Organismus – und sei er noch so klein – an­gelegt sein muß.

Des weiteren weist Rogers auf eine Theorie Pentonys (Pentony, P.: Rogers formative tendency: an epistemological perspective 1978) hin, die besagt, daß der gene­tische Code nicht bereits alle Informationen zum Aufbau des Orga­nismus ent­hält, son­dern vielmehr einen Katalog von Regeln, die dazu dienen, die Interaktio­nen der sich zu teilenden Zellen zu bestimmen. Dies ist gleichbedeu­tend mit der Tat­sache, daß hier­durch erst Informationen im organischen System ent­stehen müssen. – Sie müssen erst wachsen. Und dies geschieht unter dem Aspekt der formativen Tendenz. Das Se­eigel-Experiment ist hierfür das beste Beispiel.

Somit läßt sich diese zielgerichtete Tendenz auch in einen umfassenderen Kontext stel­len. Rogers Hauptthese lautet demzufolge: „Im Universum scheint eine formative Ten­denz am Werk zu sein, die auf jeder Ebene zu beobachten ist.“ (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981; Seite 75)

Hiermit meint er, daß jede existierende Form aus einer einfacheren, weniger komple­xen hervorgegangen ist. Dies trifft für organische und anorganische Daseins­formen zu:

  • Jede Galaxie, jeder Stern und jeder Planet entsteht aus kleinen, wenig organisier­ten Wirbeln von Teilchen. Diese verhalten sich ebenfalls formativ, d. h., Wasser­stoffatome kollidieren und bilden komplexere Heliummoleküle.
  • Wenn Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff in Form von Wasser und Ammoniak elektrisiert werden, wenn man ihnen also ein günstiges Umfeld verschafft, so ver­binden sie sich zu schweren Molekülen, anschließend zu komplexeren Aminosäu­ren. Dies ist die Vorstufe zu noch komplexeren Lebensformen wie Viren und wei­teren le­benden Organismen, bestehend aus vielen funktional spezialisierten Zel­len.
  • Aus einer flüssigen, asymmetrischen Substanz geringer Ordnung entstehen unter günstigen äußeren Umständen planvolle und symmetrische kristalline Formen. So z. B. Schneeflocken, eine aus der formativen Tendenz entstandene Vollkommen­heit aus zuvor formlosen Dunst.
  • In der Evolution ist die formative Tendenz ebenfalls von überragender Bedeutung: Hier geht es darum, daß lebende Organismen immer danach streben, sich ihrer ver­änderten Umwelt durch immer höhere Komplexität, immer höhere Vervoll­kommnung, anzupassen.
  • Korallenriffe entstehen aus einem komplexen Zusammenschluß einzelner leben­der Zellen.
  • Auch die Entwicklung einer einzigen befruchteten menschlichen Eizelle, über die ersten Stadien einfacher Zellteilungen, bis hin zu einem komplexen, hochorgani­sierten Organismus, ist beispielhaft für die formative Tendenz zu einer immer hö­heren Ordnung.
    Diese Tendenz setzt sich Rogers Meinung nach beim Menschen fort, indem er ei­n Wissen und Spüren unterhalb der Bewußtseinsschwelle erlangen kann. Er meint da­mit das Gewahrwerden des eigenen Organismus, sowie seiner äußeren Welt. Dies kann sogar bis zu „einem transzendierenden Bewußtsein der Harmonie und Einheit des die Menschen einschließenden kosmischen Systems“ (s. o. Seite 83) gehen.

Dies alles steht (ohne sie zu ignorieren) entgegengesetzt der These der Entropie, wel­che besagt, daß jedem Orga­nismus die Tendenz zum Zerfall und zur Desorganisation inne wohnt. „Wenn diese Tendenz am Werk ist, befinden wir uns in einer Einbahn­straße: Die Welt er­scheint uns als große Maschine, die sich immer mehr ausleiert und verschleißt.“ (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981; Seite 76)

Rogers ist also der festen Überzeugung, daß jeder Organismus mit einer Aktualisie­rungstendenz (oder wie er es auch nennt, einer Selbstverwirklichungsten­denz) aus­gestattet ist. Hierbei bezieht er sich auch auf Alfred Adler (Adler, A.: Social interest: A challenge of mankind 1933 (Es kann „keinen Zweifel mehr geben, daß alles, was wir als Körper bezeichnen, ein Bestre­ben zeigt, zu einem Ganzen zu werden.“) / In Rogers,Carl R.: Der neue Mensch 1981; Seite 65), der ebenfalls an eine ho­listische Tendenz – an „etwas Fundamentales im Universum“ (Rogers bezieht sich hier, wie ebenfalls Adler, auf Jan Christian Smuts: Holism and evolution 1926) – in al­lem, was man als Körper, als Organismus bezeichnen kann, glaubt.

  • Kann man also demzufolge eine, zumal sich demokratisch nennende, Gesell­schaft nicht auch als ei­nen lebenden Organismus begreifen?
  • Einen lebenden Organismus, zusammengesetzt und zusammengehalten durch die einzelnen Menschen?
  • Einen lebenden Organismus, der somit ebenfalls eine holistische, formative Ak­tualisierungstendenz in sich tragen muß?
  • Und läßt sich somit Rogers personenzentrierter Ansatz, als eine Philosophie der in­terpersonalen Beziehungen, nicht auch auf den Bereich des Lebens zwischen Men­schen im allgemeinen, in einer Gesellschaft, in einem Staat, ausweiten und anwen­den?

Rogers jedenfalls, glaubt fest daran, daß seine „Philosophie der interpersonalen Be­ziehungen …, in allen Situationen Bedeutung hat.“ Er glaubt daran, „daß sie sich auf die Therapie an­wenden läßt, auf die Ehe, auf das Verhältnis Eltern und Kinder, Leh­rer und Schüler, Hoch- und Niedriggestellte, auf den Umgang von Menschen ver­schiedener Rassen. Ich wage sogar zu behaupten, daß diese Philosophie auch in der Poli­tik im Umgang mit anderen Nationen zu mehr Menschlichkeit beitragen würde und daß sie an die Stelle der Formel „Macht schafft Recht“ treten sollte. Dies ist der Weg zur Selbstzer­störung.“ (Rogers, C.: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit 1980; Seite 197f)

Nun zur Ausweitung des personenzentrierten Ansatzes zu einer zwischenmenschlich gesellschaftlichen Theorie.