Theodor W. Adorno: Sein falsches Leben war das Leben unter Nazis
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Zum 50. Todestag: Adornos falsches Leben war das Leben unter Nazis

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Theodor Wiesengrund Adorno, 1903 bis 1969.
Theodor Wiesengrund Adorno, 1903 bis 1969. © imago images

Vor 50 Jahren starb Theodor W. Adorno. Seine Gesellschaftskritik ist so aktuell wie eh und je.

Adorno sei, so sagte Alexander Kluge, der ihn sehr gut kannte, einmal, ein glückliches Kind gewesen. Ich habe das kurioserweise nie verstanden als, Adorno habe eine glückliche Kindheit gehabt, sondern so als sei Adorno zeit seines Lebens ein glückliches Kind gewesen. Das schien natürlich angesichts von Adornos Lebensgeschichte als das Missverständnis eines ganz und gar Ahnungslosen.

Adorno war doch der Autor jenes wohl negativsten aller möglichen Sätze: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Adorno lehrte uns, dem Glück zu misstrauen. Man entkam dem Unheil nicht. Ich erinnere mich, wie er einmal im Seminar gegen den von einem Studenten zitierten Ernst Bloch etwas sentenziös bemerkte: „Hoffnung ist alles andere als ein Prinzip“. Ich sagte damals nichts. Ich traute mich nicht. Aber ich fand, Adorno hatte Blochs Begriff „Prinzip“ gewissermaßen kantisch missverstanden. Bloch meinte mit Prinzip keine Richtlinie, sondern so etwas wie den schnuppernden Anfang von allem.

Die Hoffnung war Adorno nicht fremd und schon gar nicht das von Bloch so gerne beschworene „Hoffen gegen alle Hoffnung“. Adorno wusste sehr genau Bescheid über die Beschaffenheit Deutschlands, in das er 1950 aus der amerikanischen Emigration kam. Er spürte die nicht nur. Er untersuchte sie als Soziologe. Er war zurückgekehrt in die Stadt seiner Kindheit, einer der wenigen Überlebenden. Knapp 30 000 Mitglieder hatte 1933 allein die jüdische Gemeinde in Frankfurt. Natürlich gab es sehr viel mehr Juden in der Stadt. Ende 1945 waren es etwa 600. Wohl die meisten von ihnen waren Ende des Krieges aus allen Ecken der nahen und fernen Umgebung nach Frankfurt gekommen.

Adorno schrieb keine Protokollsätze, sondern Partituren

Adornos falsches Leben war das Leben unter Nazis. Zunächst unter denen, bei denen sich erst später herausstellte, dass sie Nazis waren. Dann unter den zu Bundesbürgern nur wenig mutierten Nazis. Der Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ sagt in Wahrheit: Lasst Euch das falsche Leben nicht als richtiges verkaufen. Fallt nicht herein auf die, die sagen, so wie es ist, ist es schon recht.

Wer Adornos Sentenzen als solche nimmt, versteht sie nicht. Sie sind zu lesen als Kulminationspunkte einer Gedankenbewegung, die zu ihnen hin- und auch wieder von ihnen wegführt. Adorno schrieb keine Protokollsätze, sondern Partituren. „Das Ganze“, schrieb er auch „ist das Unwahre.“ Das war eine gegen Hegel gerichtete Pointe und Adorno schrieb auch viel über das Fragmentarische und über das Verstummen. Aber von den kleinen Texten der „Minima Moralia“ bis hin zu den 400 Seiten der „Negativen Dialektik“ handelt es sich doch immer um Kompositionen, bei denen die Teile ohne das Ganze nicht zu verstehen sind. Sie sind so, weil Adorno sie so gewollt hatte. Seine ganze Anstrengung war darauf gerichtet, wenigstens im Text ein wahres Ganzes, ein richtiges Leben oder doch die Ahnung davon herzustellen. Spes contra spem.

Der autoritäre Charakter, gegen den wir, Adorno folgend, rebellierten, kam gerade in unserer Revolte wieder hervor. In uns. Das hatten wir auch bei Adorno gelernt. Aber niemand sieht sich selbst so genau, wie er auf andere schaut. Dass man es in dieser Kunst auch sehr weit bringen kann, darüber belehrt uns die Lektüre von Adornos „Traumprotokollen“. Die Beschreibung des Traums, in dem er jungen Männern zuschaut, wie sie sich selbst guillotinieren, endet mit der Bemerkung: „Alles völlig wort- und lautlos. Ohne jeden Affekt zugeschaut, aber mit Erektion aufgewacht.“

Vieles von dem, was wir damals für philosophische Einsichten, soziologische Beobachtungen, Erkenntnisse der Psychoanalyse hielten, verdankte sich, so wissen wir heute, ganz persönlichen Erfahrungen. Wir lesen seine Äußerungen zur Homosexualität, seit wir seinen Liebes-Briefwechsel mit Siegfried Kracauer kennen, mit anderen Augen.

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Der autoritäre Charakter ist kein Gewand aus Einstellungen und Verhaltensmustern, die man Stück für Stück ablegen und gegen neue eintauschen kann. Er stellt sich immer wieder neu her. In immer wieder neuen Zusammenhängen. Wir werden ihn nie los. Auch Adorno nicht. In einem Brief an seine Eltern schreibt er über den emigrierten Violinvirtuosen Fritz Kreisler: „Diese ganze Art des Musizierens gehört liquidiert, und man fragt sich manchmal, ob die deutsche Barbarei, die zu dieser Liquidation beiträgt, nicht hier wie in vielem anderen gegen den eigenen Willen einen sehr gerechten Urteilsspruch vollstreckt.“ Eine dialektische Volte kann auch ein Schritt in Richtung Gaskammer sein.

Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia (1921-1989), einer der engagiertesten Kämpfer gegen die Mafia, warnte davor, der Kampf gegen die Mafia könne selbst mafiose Züge bekommen. Oder wie der von Adorno wenig geschätzte Brecht schrieb: „Ach, wir/ Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit/ Konnten selber nicht freundlich sein.“ Adorno hat uns auch gelehrt, die Verlogenheit dieser Verse zu sehen: Wer die Millionen Toten des Stalinismus unter dem Begriff „Unfreundlichkeit“ versteckt, macht sich zum Komplizen der stalinistischen Verbrechen.

13. August 1969: Begräbnis Adornos auf dem Frankfurter Hauptfriedhof.
13. August 1969: Begräbnis Adornos auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. © dpa

Es wird Zeit, dass wir beginnen mit der Lektüre Adornos. Also uns nicht mehr nur auf seine Texte beschränken und vor der Wirklichkeit der Person, die sie produzierte, die Augen verschließen. Einer der Großintellektuellen der Bundesrepublik legte den Briefwechsel mit den Eltern beiseite, weil er sich durch das kindische Gequatsche, mit dem die Familie einander mit Tiernamen bedachte, nicht „hindurchquälen“ wollte. Und völlig „unerträglich“ war ihm, was Adorno über Kreisler schrieb und dass er alle „Hansjürgens und Utes“ am liebsten umgebracht sehen wollte.

Adorno war kein Bildungsbürger, er war auch kein Rebell

Das „falsche Leben“ sind nicht nur die Nazis. Das falsche Leben ist man schon selbst. Das ist die eigentliche Crux der Dialektik der Aufklärung. Sie ist kein glücklicher Geistesblitz, auch nicht nur das Ergebnis eines wachen und wachsamen Blicks auf die eigene Gegenwart, sondern auch die schmerzhafte, aber genau darin auch lustvolle Erfahrung der eigenen Verquertheiten.

Vielleicht habe ich Alexander Kluge doch richtig verstanden. Adornos runder Glatzkopf mit den riesigen, traurig wirkenden Augen folgte dem Kindchenschema. Dass seine Freunde und Freundinnen ihn Teddie nannten, dass er nie aufhörte, zärtlicher Sohn zu sein – der Vater starb 1946, die Mutter 1951 im New Yorker Exil – , das sind kindliche Züge an ihm, die auch der oberflächlichste Betrachter sofort erkannte. Seine Empfindlichkeit, seine Lust an der Aggression – ein verwöhnter Junge, der daran gewöhnt ist, dass man ihm seine Ausfälle verzeiht.

Vielleicht aber sollten wir uns nicht länger von all seiner Gelehrsamkeit, seiner Intellektualität, seiner Blitzgescheitheit, seinen vergnügten Exerzitien bei der Anstrengung des Begriffs hinters Licht führen lassen. Adorno war kein Bildungsbürger, er war auch kein Rebell. Er war in all seinen Rollen – als Liebhaber und ordentlicher Professor, als Komponist und Autor, als Vortragender und Figur des öffentlichen Lebens ein Held in tausend Gestalten auf der stets scheiternden Suche nach Wegen ins Freie.

Wir sollten lernen, gerade in seiner Begabung, bittere Wahrheiten aufzuspüren und beim Namen zu nennen, das Kind zu erkennen, das in der Erzählung Hans Christian Andersens auf den Kaiser in seinen neuen Kleidern sieht und sagt: „Aber er hat ja gar nichts an!“

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