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1.1 Theorien der Populär- und Massenkultur

Es gibt bereits sehr viele Ansätze, die sich um populäre Kultur, Massenkultur und Popkultur drehen. Es scheint darum vermessen, eine neue Theorie des Populären entwerfen zu wollen. Dennoch gibt es ein Argument dafür, das keineswegs weit hergeholt ist. Bisher ist der Dimension des quantitativ Populären wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Sie ist zwar nicht unbeachtet geblieben, nimmt aber bei der Entfaltung der jeweiligen Konzeption zumeist nur eine geringe Rolle ein. Dies soll nun umgekehrt werden, um die Möglichkeiten und Vorzüge solch eines Vorgehens aufzuzeigen. Nur diese quantitative Dimension und die Arten und Weisen der Zählung, Präsentation, Einordnung und Behauptung der Popularitätsdaten werden mit der in diesem Buch vorgeschlagenen Theorie des Populären in den Blick genommen. Dies macht einen bedeutenden Unterschied zu den bisher vorliegenden Auffassungen und Betrachtungen zur Populär-, Massen- oder Popkultur aus.

Ob dieser Unterschied auch wissenschaftlich bedeutsam ist, bleibt freilich noch offen. Um die Frage nach dem Status einer Theorie des Populären einer (ersten) Antwort zuzuführen, werden in dieser Einleitung drei Schritte unternommen. Zuerst werden die bislang vorherrschenden Ansätze in einem Überblick bündig präsentiert, sodann die bisherigen Vorbehalte gegen die Betonung des Quantitativen diskutiert und abschließend die Neuausrichtung mit Blick auf die einzelnen Kapitel des vorliegenden Bands pointiert eingeordnet.

Theorien der Populär- und Massenkultur können auf eine beachtliche Tradition zurückblicken. Ein Großteil dieser Zeit war von Bemühungen geprägt, dem Gegenstand Legitimität zu verleihen. Erst seit den 1980er Jahren gelingt dies in den liberal-demokratischen Staaten auf breiterer Front. Zwei sehr wichtige Vorläufer, die sich im Zuge politischer Bestrebungen zeitweilig durchsetzen konnten, sind jedoch zuvor zu verzeichnen. Sie entstammen unterschiedlichen Lagern. Erstens wurde versucht, einen ‚Nationalgeist‘ oder eine ‚Volksseele‘, die notwendigerweise und untrennbar mit bestimmten kulturellen Eigenarten verbunden seien, zu entdecken. Diese Einheit sei nicht nur in kleinen Gemeinschaften anzutreffen, lautete die Grundthese, von der verschiedene Leitlinien abgeleitet wurden und die auch heute noch mitunter anzutreffen ist: eine liberale und später auch von Konservativen übernommene, die auf die Errichtung von nationalstaatlichen Demokratien ausgeht, und eine faschistische, die auf rassistischen Ausschlüssen beruht. Zweitens wurde von sozialistischer Seite eine Kultur des Realismus und der Anti-Dekadenz behauptet, die den ‚werktätigen Massen‘ zu eigen sei. Die mit diesen großen politischen Richtungen verbundenen ethnologischen oder geschichtsphilosophischen essenzialistischen Theorien sind allerdings inzwischen in den USA und Westeuropa u. a. wissenschaftlich weitgehend diskreditiert, darum können sie dem populären Gegenstand in den liberaldemokratischen Institutionen der Gegenwart kaum oder gar keine Rechtfertigung mehr verschaffen.

Diese Rechtfertigung war geboten – und scheint es vielleicht immer noch –, weil populäre Artefakte zu weiten Teilen oder gänzlich als minderwertig galten, besonders gemessen an den Kriterien klassizistischer und ‚moderner‘ Kunstauffassungen. Mit einem weiten Kulturbegriff, der nicht nur die ‚schönen Künste‘ bzw. die ‚fine arts‘, sondern auch Sitten, Gebräuche, Symbolsysteme, Institutionen, Techniken etc. einbegreift, änderte sich das nicht zwangsläufig; auch in diesem Fall konnte die populäre Kultur als roh und/oder flüchtig, rückständig, latent animalisch etc. gelten.

Theorien hatten (und haben) darum per se eine Bedeutung bei dem Bemühen, sich dieser Kultur wissenschaftlich zu nähern. Man kann das bereits daran gut erkennen, dass in Überblicksdarstellungen zur populären Kultur gerne anerkannte Großtheorien und Methoden angeführt werden. Chandra Mukerji und Michael Schudson weisen 1986 bei ihrem umfassenden Forschungsbericht zu „popular culture studies“ extra darauf hin, dass die „objects“ der „popular culture“ nicht nur von der Soziologie, sondern auch von Disziplinen wie den Kunst- und Literaturwissenschaften, der Ethnologie, der Psychologie mit ihrer „special task of ‚interpretation‘“ untersucht werden könnten (Mukerji und Schudson 1986: 48). Entsprechend führen sie eine große Vielfalt an Methoden und Theorien an, die in Studien zur populären Kultur zum Einsatz gekommen sind, Ideologiekritik, Hermeneutik, Strukturalismus, Rezeptionsforschung etc. In jüngeren Darstellungen werden noch zusätzlich u. a. die Gender Studies genannt (z. B. Strinati [1995] 2004). All das versteht sich eigentlich von selbst; wieso sollten diese Ansätze auch nicht zur Anwendung kommen? Es geht offenbar in allererster Linie darum, die Gegenstände der populären Kultur gewissermaßen zu adeln; auch sie sind würdig genug, um von differenzierten, abstrakten Betrachtungen erfasst zu werden (indirekt wird ihnen dadurch wohl auch zugestanden, dass sie zumindest teilweise nicht vollends simpel sind). Theorien der populären Kultur wird man die genannten Ansätze darum aber nicht nennen müssen, dafür setzen sie zu wenig spezifisch an.

Zuerst zu klären bzw. zu bestimmen ist deshalb, was mit ‚populär‘ gemeint ist; daran anschließen können sich im nächsten Schritt zusammenhängende Aussagen von hohem Abstraktionsgrad, die über Definitionsvorschläge hinausgehen. Um populären Phänomenen Kontur zu geben, haben sie vor allem in sozialer und kultureller Hinsicht eine Abgrenzung erfahren. In sozialer Hinsicht sind populäre Dispositionen und Gegenstände von den Eigenschaften und Artefakten der Elite getrennt worden. Bestimmungen in kultureller Hinsicht schlossen daran zu einem großen Teil an, indem sie die populäre Sphäre besonders von jener der Gebildeten schieden. Diese Konzeptionen sind sehr oft mit einem Wertungsakzent versehen: Das Niedrige und Unverbildete ist entweder das Simple, Rohe, Effekthascherische, Gemeine, Gescheiterte, Angepasste etc. oder das Grundlegende, Lebendige, Reizvolle, Gemeinschaftliche, Authentische, Subversive usf.

In diese Bestimmungen geht leicht ersichtlich oftmals ein quantitatives Moment ein: Die ‚Elite‘ ist klein, das ‚niedere Volk‘, die ‚popular classes‘ groß an Zahl; das ‚Ungebildete‘ bzw. ‚Unverbildete‘ kommt häufig, die ‚Verfeinerung‘ bzw. das ‚Abgehobene‘ wesentlich seltener vor. Das muss teilweise nicht die Hoffnung oder Befürchtung ausschließen, dass es sich dereinst anders verhält – der Aufklärer rechnet mit der Verbreitung der Bildung, der konservative Skeptiker mit allgemeiner Nivellierung –, in den allermeisten Fällen werden die Kräfteverhältnisse aber als relativ stabil angesehen.

Im Laufe der Zeit hat sich allerdings ebenfalls – mehr oder minder unbemerkt – die Gewohnheit herausgebildet, das Populäre unabhängig von seinem häufigen Vorkommen zu identifizieren (zur Begriffsgeschichte vgl. Williams 1976, S. 198–199; Fluck 1979; MacCabe 1986; Shiach 1989; Gorman 1996; Herlinghaus 2002; Storey 2003; Storey 2005; Hecken 2007). Dann wird etwas als ‚populär‘ eingestuft, weil es niedrig, unverbildet, widerständig etc. ist, selbst wenn es gar nicht oft anzutreffen oder vielen bekannt ist.

Denjenigen, die so verfahren, ist das nicht unbedingt bewusst, vielleicht nehmen sie auch (fälschlich) an, das Einfache oder Authentische, das Sensationelle oder das Schematische sei immer hochgradig bekannt oder bei vielen beliebt. Durch die Praxis, bestimmte Eigenschaften als ‚populär‘ anzusetzen, löst sich die Betrachtung populärer Kultur von dem Augenmerk auf die große Zahl. Selbst bei jenen, die aus politischen und/oder historiografischen Gründen der ‚niedere/hohe-Kultur‘-Dichotomie ausdrücklich eine Absage erteilen, hat das nicht selten zur Folge, dass sie unter ‚populäre Kultur‘ einfach Comics, Popmusik, Graffiti, TV-Serien etc. fallen lassen, also genau das, was traditionell als ‚low‘ eingestuft worden ist, weil man von der Warte des ‚Hohen‘ annahm, bestimmte Artefakte und Genres, die man mit dem Eingängigen, Standardisierten und/oder Spektakulären identifizierte, seien Ausdruck des zahlenmäßig großen Segments der ‚niederen Schichten‘. Bei den neueren Ansätzen wird dieser ‚Klassismus‘ zwar gestrichen und mitunter auch die schlechte Bewertung des Eingängigen etc. revidiert, sie übernehmen aber insofern die alte Konzeption, als sie ‚populäre Kultur‘ an dieselben oder ähnliche Merkmale binden, nun allerdings unabhängig von dem Befund, Artefakte mit entsprechenden Merkmalen würden von einer großen Zahl geschätzt. Die Eigenschaften der Gegenstände der sog. populären Kultur stehen dadurch im Vordergrund oder machen die gesamte Bestimmung aus.

Die Möglichkeiten, populäre Kultur zu fassen, erweitern sich deshalb beträchtlich. Dies zeigt sich auch und gerade im wissenschaftlichen Rahmen. Hier gibt es eine Fülle an Vorschlägen, wie populäre Kultur auf einem hohen Abstraktionsgrad bestimmt werden soll. In der ersten Abteilung finden sich Ansätze, die an bedeutenden sozialen Unterschieden ansetzen, in der zweiten solche, die Merkmale von Artefakten und Ereignissen benennen (der folgende Überblick orientiert sich zu einem größeren Teil an Hecken 2010).

I. Populäre Kultur als Kultur der Machtlosen, der ‚niederen‘ Schichten und/oder der Ungebildeten bzw. der von der ‚hohen‘ Kultur Abgewandten. Diese Konzeption liegt in unterschiedlichen Ausprägungen vor:

  1. a)

    populäre Kultur als Kultur des Volkes im Sinne des niederen Volkes oder als Kultur der beherrschten Klassen, u. a. der Handwerker und Bauern im frühneuzeitlichen Europa (Burke [1978] 1996; Muchembled 1978; Clark 1983) oder verschiedener historischer Ausformungen der Arbeiterklasse (Hoggart 1957; Thompson [1963] 1974; Yeo und Yeo 1981) oder der „Unterschichten“ (Warneken 2006) oder der „people“ – „various formations of subordinated or disempowered people“ –, die sich auf lustvoll-widerständige Weise kulturindustrielle, massenmediale Produkte aneignen (Fiske 1989: 1–2);

  2. b)

    populäre Kultur als Gegensatz zur Kultur der Elite (Reay 1988), als „unauthorized culture“ (Parker 2011: 165), als das, was von der legitimen Kultur ausgeschlossen wird (Bourdieu 1993), als Gegensatz zur Hochkultur, als all jene „taste subcultures“, die von der „high culture“ verschieden sind (Gans 1966: 551);

  3. c)

    populäre Kultur als eine spezifische Form der ungelernten, unakademischen Rezeption bzw. produktiven Aneignung (Chartier 1984); in eine postmoderne Fassung gebracht: Populäre Kultur als die gegenwärtige massenmediale „common culture“, die auch die „elites“ einbeziehe und von der sich allenfalls die Intellektuellen ausschlössen (Burke 1984: 12);

  4. d)

    und zuletzt in dieser Gruppe eine wichtige Variante, die populäre Kultur als Kampfplatz mit historisch offenem Ausgang konzeptualisiert, als wichtigen Ort, an dem die bislang Machtlosen die Hegemonie der herrschenden Klasse, des „power-bloc“ brechen könnten oder genau umgekehrt ihnen deren Vorherrschaft weiterhin sinnvoll erscheint: populäre Kultur als eine der entscheidenden „sites where this struggle for and against the culture of the powerful is engaged; it is also the stake to be won or lost in that struggle“ (Hall 1981: 239).

II. Konzeptionen, die oft mit den vorhergehenden Ansätzen verbunden sind, aber manchmal auch ohne Angabe über Akteure (Produzenten, Rezipienten) auskommen, wenn die Merkmale populärer Kultur bestimmt werden:

  1. a)

    populäre Kultur als eine Kultur, die, im Gegensatz zur Massenkultur, noch Ähnlichkeiten (wie Direktheit und Authentizität) mit der „folk culture“ aufweist (Handlin 1964; Hall und Whannel 1964; Kellner 1995);

  2. b)

    populäre Kultur als Gegenteil der autonomen, komplexen „‚high‘ art“ (aber auch der „folk art“) (Lowenthal 1950);

  3. c)

    populäre Kultur als kunstfertig kombinierende und verwertende Konsumpraktik (Certeau 1980);

  4. d)

    populäre Kultur als postmoderne Kultur bzw. als nicht mehr streng unterscheidbarer Teil der postmodern-hybriden Kultur (Chambers 1988; Collins 1989; During 2005);

  5. e)

    populäre Kultur als moderne Überwindung der Aufteilung von hoher und niederer Kultur, als dominante „middle-of-the road forms“ (Nowell-Smith 1987: 83);

  6. f)

    populäre Kultur als Ensemble herabgesunkener, konventionalisierter moderner Darstellungstechniken, die einfache Wiedererkennungseffekte bewirken (Greenberg 1939);

  7. g)

    populäre Kultur als Ensemble von Werken, die durch Formeln und Muster geprägt sind (Nord 1980);

  8. h)

    populäre Kultur als Kultur, deren Ideale und Inhalte „conformity and conventionalism“ sind (Adorno 1957: 478);

  9. i)

    populäre Kultur als Ensemble von Produkten, die sich an einen Durchschnittsgeschmack richten (van den Haag 1957);

  10. j)

    populäre Kultur als eine Kultur, die „often incribes its effects directly upon the body: tears, laughter, hair-tingling, screams, spine-chilling, eye-closing, erections“ (Grossberg 1992: 79);

  11. k)

    populäre Kultur als „pleasurable“ (Jenkins et al. 2002: 26);

  12. l)

    populäre Kultur als Unterhaltungskultur (Shusterman 2003; Hügel 2003);

  13. m)

    populäre Kultur als ein Ensemble von Gütern, die für (fast) alle verständlich sind (Fluck 1998: 20).

Zudem gibt es noch seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Strang von Bestimmungen populärer Konfigurationen, deren Elemente unter dem Titel der ‚Masse‘ geführt werden. Oft ist ein Unterschied zu ‚populärer Kultur‘ nicht gegeben, einige Autoren verwenden die Begriffe synonym; manchmal besitzt ‚populäre Kultur‘ eine positivere Konnotation als ‚Massenkultur‘, aber auch das trifft keineswegs immer zu. Der einzige ins Auge fallende Unterschied besteht darin, dass einige Autoren die moderne Massengesellschaft nicht als eine Gesellschaft begreifen, die auf der Differenz von Masse und Elite beruht. ‚Massengesellschaft‘ bezeichnet bei ihnen eine Gesellschaft, die durch keine festen Kulturen, welche durch soziale Unterschiede geprägt sind, mehr gekennzeichnet ist. ‚Massenkultur‘ gilt ihnen folglich als eine allgegenwärtige nivellierte Konsumkultur (Schelsky [1953] 1965), deren Unterschiede in mehr oder minder rasch wechselnden Moden bestehen, oder als eine kulturell diversifizierte Gesellschaft, in der das, was einst der ‚niederen‘ und der ‚hohen‘ Kultur zugerechnet wurde, nicht länger (nur) von den entsprechend eingestuften Schichten geschätzt wird (Maase 1997: 23; für die USA um 1990 teilweise empirisch belegt durch Peterson und Kern 1996). Da ‚populäre Kultur‘ bei vielen Autoren wesentlich mehr als ‚Kunst‘ und ‚hohe Kultur‘ bezeichnet, ist jedoch insgesamt betrachtet ein Unterschied zu ‚Massenkultur‘ und sogar auch zu ‚Massengesellschaft‘ kaum oder gar nicht gegeben. Wenn unter ‚Kultur‘ von Menschen hervorgebrachte Dinge, Ereignisse, Symbolsysteme verstanden werden, umgreift ‚populäre Kultur‘ recht besehen auch das, was unter ‚Massenkultur‘ und ‚Massengesellschaft‘ fällt.

In dieser Form bedeutet ‚Theorie‘: eine Begriffsexplikation oder -festlegung auf einem recht hohen Abstraktionsniveau. Anders gesagt: Es gibt kein „‚field‘ or a ‚place‘ out there with a sign above the gate saying ‚popular culture‘“, deshalb sind „terms or names like ‚popular culture‘“ stets „designations, categorizations, differentiations, definitions“, die „could conceivably have gone by other names, definitions, metaphors“ (Bowman 2008: 198). Neben ‚niederer Kultur‘ und ‚Massenkultur‘ ist z. B. ‚Unterhaltungskultur‘ recht gebräuchlich. Wichtiger ist aber, dass mit dem Begriff ‚populäre Kultur‘ bis auf den heutigen Tag teilweise stark unterschiedliche Definitionen verbunden sind. Ist man nicht der Überzeugung, dass es eine richtige Begriffsverwendung gibt, bleibt nur zu konstatieren, dass bislang in den Wissenschaften diverse Phänomene untersucht wurden, wenn es um ‚populäre Kultur‘ ging. Der eine untersucht die Unterschichtenkultur, der andere die reizvolle, ein dritter die schematisierte, ein vierter die subversive Kultur. Dass es sich um Aspekte desselben Gegenstands handelt, ist zwar grundsätzlich möglich, trifft aber in vielen Fällen zweifellos nicht zu. Die Forschungen können darum oftmals nebeneinander laufen, ohne in Konflikt miteinander zu geraten. Untersucht wurden folglich zu einem beachtlichen Teil einfach unterschiedliche Objekte und Phänomene.

Dies gilt erst recht, wenn noch Konzeptionen hinzukommen, die sich bei der Analyse der populären Kultur auf große Zahlen konzentrieren. Ihnen geht es nicht darum, bestimmte Annahmen, was immer bzw. wesentlich populär sei – das Einfache, Reizvolle, Widerständige etc. –, definitorisch festzuhalten. Sie lassen vielmehr weitgehend offen, was substanziell populär ist, indem sie Popularität quantitativ bestimmen. Substanziell ist in ihrem Fall nur das Augenmerk auf die große Zahl; z. B. mit Blick auf die Gattung Musik: „Im Zentrum jeder Definition von Popularmusik steht die massenhafte Verbreitung von Musik, d. h. der Übergang von vorindustrieller zu industrieller Distribution“ (Gebesmair 2008: 44).

Was häufig produziert und/oder rezipiert wird, ist für sie Teil der populären Kultur oder der Massenkultur, egal um was es sich handelt. Dies muss nicht grundsätzlich über kurze oder lange Zeit etwas Anderes, Neues sein, es könnte sich aber jederzeit historisch ändern. Was immer es auch jeweils sein mag, es wird demnach zur populären Kultur gezählt, wenn es in großer Zahl auftritt. Auch von diesem Ansatz existieren unterschiedliche Varianten:

  1. a)

    die erste Variante weist ein Zusatzkriterium auf, weil sie die quantitativ feststellbare Popularität in verschiedenen Schichten der Bevölkerung als notwendiges und hinreichendes Merkmal herausstellt: Populäre Kulturgegenstände zeichneten sich durch „breite Beliebtheit quer durch die Klassen“ aus (Maase 1997: 23). Oder in einer weiteren Fassung, die nicht nur auf die Stellung im Produktionsprozess oder im sozioökonomischen Gefüge abzielt: populäre Kultur als eine Kultur, die ein großes Publikum erreicht, „that cannot be simply described by a single social variable, such as class or gender or age“ (Grossberg et al. 1998: 37);

  2. b)

    der zweiten Variante reicht (auch) die große Zahl: populäre Kultur als alle „aspects of culture, whether ideological, social, or material, which are widely spread and believed in and/or consumed by significant numbers of people“ (Hinds, Jr. 1988: 363); oder letztlich auf die erfolgte starke Rezeption abstellend: „popular culture is culture that is popular; culture that is widely accessible and widely accessed; widely disseminated, and widely viewed or heard or read“; davon zu scheiden seien Dinge, die zwar massenhaft hergestellt, aber nicht in ähnlichem Ausmaß gehört oder gesehen werden (Levine 1992: 1373).

Diese Bestimmung kann für sich geltend machen, dass sie mit der (keineswegs nur) alltagssprachlichen Bedeutung übereinstimmt, die den Gebrauch von ‚populär‘ nicht ohne eine große Zahl kennt. Allerdings kann dort durch Angabe einer Bezugsgruppe eine absolut große Zahl vermieden werden, z. B. ‚populär unter den Bewohnern der Kleinstadt xy‘. Das ist aber unproblematisch, ist es doch gerade die Aufgabe wissenschaftlicher Terminologie, einen höheren Grad an Präzision zu erzielen als die Alltagssprache. Für die Bindung von ‚popular culture‘ an ‚significant numbers of people‘ spricht auch, dass einige Konnotationen und explizite Wertungen, die mit anderen Auffassungen verbunden sind, dadurch vermieden werden. Dass ‚popular culture‘ nicht in ‚Volk‘ oder ‚niederes Volk‘ aufgeht, trennt entsprechende Konzeptionen entscheidend von politischen, normativen, oftmals auch substantialisierenden Angaben. Auch das erfüllt übliche Anforderungen an Wissenschaftssprache.

1.2 Das quantitativ Populäre – Hinweise und Einwände

Wieso konnte sich dieser Ansatz bislang dennoch nicht innerhalb der Wissenschaften durchsetzen? Dies liegt zuallererst an einer Wissenschaftsauffassung, die deren engagierten Charakter betont. Wissenschaftlichkeit wird hier gerade im Einklang mit politischen und normativen Projekten gesehen. Mit dem Begriff ‚populäre Kultur‘ (vorübergehend manchmal auch mit ‚Massenkultur‘ oder ‚Massengesellschaft‘) wird – je nach politischem Standpunkt – der Anspruch artikuliert, das ‚Volk‘ oder das ‚niedere Volk‘ oder die ‚arbeitenden Massen‘ oder die ‚popular forces‘ zu stärken oder zu schwächen. Der Terminus der ‚populären Kultur‘ besitzt in diesem Fall eine große Bedeutung und kann von den Sprachteilnehmern, die dieses Projekt verfolgen, nicht einfach durch andere Begriffe ersetzt werden, weil er eine zentrale Stellung in ihrem politischen und ästhetischen Koordinatensystem einnimmt.

Damit stehen sie sogar nicht allein, auch für andere spielte oder spielt der Begriff eine größere Rolle. Sehr häufig geht mit der Maßnahme, etwas als Teil der populären Kultur zu beschreiben bzw. zu bezeichnen, eine unmissverständliche Wertung einher. Oft ist die Wertung mit einem negativen Vorzeichen versehen; die populäre Kultur gilt als unästhetisch, ihre Gegenstände zählen zur schlechten Kunst oder zur Unkunst, ihre Urheber galten (und gelten mitunter immer noch) als moralisch zweifelhaft, ihre Rezipienten als ungebildet oder leicht manipulierbar, als politisch verantwortungslose Subjekte, die man pädagogisch bessern oder polizeilich überwachen sollte.

Regelmäßig stößt man aber auch auf gegenteilige Einschätzungen. Auch gegenwärtige Ausformungen ‚populärer Kultur‘ (nicht nur eine vergangene ‚Volks‘- bzw. Gemeinschaftskultur, die Konservative oft beschwören und Nationalisten erneut stiften wollen) werden dann gegen die ‚Dekadenz der herrschenden Klasse‘, gegen die ‚Lebensferne der Gebildeten‘ etc. politisch verteidigt und/oder künstlerisch in ein positives Licht gerückt.

Ein anderer Grund für die große Reserve bisheriger Populärkulturforschung gegenüber der quantitativen Bestimmung liegt darin, dass die Konzentration auf absolut große Zahlen empirische Ergebnisse hervorbringen kann, die nicht gut mit vorgefassten Ansichten harmonieren. John Storey z. B. räumt ein, dass „any definition of popular culture must include a quantitative dimension“, hinreichend sei dies für eine „adequate definition“ aber nicht, denn „[s]uch counting“ würde auch einige erfolgreiche Produkte der sog. „‚high culture‘“ einbeziehen (Storey 1998: 7). Wieso wäre das aber nicht „adequate“? Offenbar erst einmal nur, weil eine andere Definition, die ‚populäre‘ von ‚hoher Kultur‘ unterscheidet, vorgezogen wird. Dies erläutert aber keineswegs, weshalb das ‚angemessen‘ sein soll.

Neben der bereits erwähnten politischen Angemessenheit ist hier in einem zweiten Schritt an den Wirklichkeitsgehalt der Definition zu denken. Im Unterschied zur politischen Angemessenheit besitzt dieser Zugang den Vorteil, innerhalb der Wissenschaften weniger umstritten zu sein: Eine Begriffsbestimmung und -verwendung würde vorgezogen, weil mit ihr eine richtigere Beschreibung und Einordnung eines Wirklichkeitsabschnitts gegeben würde. Ist es aber realistisch, dass Gegenstände der ‚hohen Kultur‘ in den gegenwärtigen Gesellschaften etwa der USA, Englands oder Deutschlands keine Popularität erzielen können? Offenkundig nicht, denn in diesem Fall könnte Storey seinen Einwand gar nicht vorbringen. Richtig bleibt aber, dass eine Identifizierung populärer Kultur mit großer Zahl wenig aussagekräftig ist, weil der Untersuchung solch populärer Kultur danach nur aufgetragen wäre, große Häufigkeiten und vielleicht auch die jeweilige Verteilung der Rezipienten festzustellen, denn zur Popularität können jeweils unterschiedliche Käufer-, Zuschauer-, Hörer-, Nutzergruppen – „relativ überschneidungsfreie Segmente eines breiten Publikums“ – beitragen (Gebesmair 2008: 49).

Darum hat ein weiterer Vorschlag zur Bestimmung populärer Kultur die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit in Ländern wie den USA und Teilen Europas in den Blick genommen. Zur bekannten quantitativen Angabe („Populär ist, was viele beachten“) tritt dort als entscheidende Weiterung der Hinweis auf eine spezifische Art und Weise, dies zu ermitteln und zu präsentieren. Dies geschehe durch die öffentliche Nennung von „Wahlergebnissen“ – seien dies nun vage oder präzise Angaben, dass und wie oft z. B. etwas gekauft, bei Meinungsumfragen oder politischen Wahlen angekreuzt, auf Social-Media-Seiten gelikt, auf einem Fernseher eingeschaltet oder einem Computer angeklickt wurde. Über die Bekanntgabe von Einzelergebnissen (‚stets ausverkaufte Vorstellungen‘, ‚hohe Auflage‘, ‚33,7 % aller abgegebenen Stimmen‘, ‚500.000 verkaufte Schallplatten‘, ‚15,4 Millionen Follower‘) hinaus führten Listen, die verschiedene solcher Angaben in einer hierarchisch sortierten, zumeist begrenzten Anzahl (z. B. ‚Top Twenty‘) ausstellen: „In Charts, durch Meinungsumfragen und Wahlen wird festgelegt, was populär ist und was nicht.“ Mit der Digitalisierung und der Möglichkeit, sehr viele Wahlakte auf standardisierte Weise zu erfassen, auszuwerten, einzeln anzuzeigen und ggf. in Ranglisten zu überführen und diese mit Ziffern, Tabellen, Grafiken, Shows etc. öffentlich zu machen, vollende sich diese „populäre Kultur“ (Hecken 2006: 85–86; s. auch Hecken 2017).

Diesen Bereich in den Blick zu nehmen ist nicht neu. Theodor W. Adorno kommt bereits Ende der 1930er Jahre auf den „Pantheon von best sellers“ zu sprechen. Die Anzeige, was erfolgreich sei, trage zur „affektive[n] Besetzung“ des „Tauschwerts“ bei; geschätzt werde somit etwas, weil es bekannt und im kapitalistischen Sinne erfolgreich sei (Adorno [1938] 1973: 22, 26).

Bei Stuart Hall, dem viel zitierten Theoretiker der englischen Cultural Studies, klingt das ebenfalls an. Die „common-sense meaning“, dass etwas populär sei, weil „masses of people“ es kauften oder rezipierten, sei die „‚market‘ or commercial definition of the term: the one which brings socialists out in spots.“ Sie stehe für „manipulation and debasement of the culture of the people.“ Allerdings sei sie nicht vollständig zu verwerfen, weil man sonst den Fehler begehe, a) „working class“ und „people“ angesichts des Erfolgs kommerzieller Kultur als vollständig manipulierbar und „passive“ zu betrachten sowie b) die Möglichkeit oder Gegebenheit einer „authentic ‚popular culture‘“ und „‚real‘ working class“ anzunehmen (Hall 1981: 231–232).

Trotz dieser Einschränkung hat man in Reihen der Cultural Studies lediglich die erste, strikt negative Einschätzung Halls vertieft. Die Konstituierung des Publikums durch Top-Twenty- oder ähnliche Ranglisten – z. B. die Konstituierung des Fernsehpublikums in „terms of of television ratings“ (Frith [1991] 1999: 195) – löse misslicherweise die derart Atomisierten „von ihren Gruppenbezügen und Subkulturen, die doch erst den Rahmen für die Bedeutung von Handlungen liefern“ (Morley 1996: 38). Auch schüfen Charts lediglich einen Anschein der „democracy of taste“: „this myth of democracy tends to conceal the extent to which the agenda of consumer choices is set in the first place by an oligopoly of transnational entertainment corporations based on a logic of profit“ (Parker 1991: 210–211).

Pierre Bourdieu wiederum meint den Nachweis führen zu können, dass sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Feld künstlerischer Autonomie herausgebildet habe, aus dem kommerziell erfolgreiche Produktionen im Namen ästhetischer Interesselosigkeit entweder ausgeschlossen werden oder einen minderen Rang zugewiesen bekommen (Bourdieu [1992] 1999: 135–136, 344–345, 450). Der damit verbundene Vorrang künstlerischer Form(-Betrachtung) gegenüber funktionalen Bestimmungen des Kunstwerts diene bis in die Gegenwart (im Falle Bourdieus: bis in die 1970er und 1980er Jahre Frankreichs) zur Aufrechterhaltung der sozialen Spaltung in herrschende Klassen (mit ihrem „legitimen Geschmack“) und beherrschte Klassen („populärer Geschmack“) (Bourdieu [1979] 1982: 36, 24–25). Wissenschaftliche Aufgabe sei es, die Annahme einer wesenhaft „reinen Ästhetik“ zu durchbrechen und ihre soziohistorische Genese aufzuzeigen. In einer davon unterschiedenen „normative[n] Stellungnahme“ als Intellektueller beklagt Bourdieu gleichwohl, dass sich der „Einfluss kommerzieller Zwänge auf das kulturelle Feld“ ausweite und vertiefe, was u. a. daran zu erkennen sei, dass „die Hitlisten der Presse die autonomsten und die heteronomsten Produzenten stets munter miteinander mischen“. Dies stelle „gewiß die größte Bedrohung für die kulturelle Produktion dar“ (Bourdieu [1992] 1999: 449–450, 467, 523, 533).

Näheres erfährt man zu Ranking-Formen, -Funktionen und -Auswirkungen von den über viele Jahrzehnte wichtigsten Ansätzen zur Erforschung ‚populärer Kultur‘ – Frankfurter Schule, Cultural Studies, Feldtheorie – nicht. Obwohl sie deren Bedeutung für die kapitalistischen Gesellschaften ihrer Zeit herausstellen, widmen sie dieser Art und Weise, Popularität zu formieren und anzuzeigen, keinerlei oder nur wenig Aufmerksamkeit.

Das liegt höchstwahrscheinlich nicht allein am Bestreben, den Begriff der ‚populären Kultur‘ vor dem Zugriff durch ‚kulturindustrielle‘ bzw. ‚kommerzielle‘ Bedeutungen zu schützen. Stuart Hall z. B. möchte den Begriff „popular culture“ für „one of the sites where this struggle for and against a culture of the powerful is engaged“ reklamieren. Er hofft im Anschluss an Antonio Gramsci und Ernesto Laclau auf eine Allianz der „excluded classes“, der „‚popular classes‘“, der „popular forces“ gegen den „power-bloc“ (Hall 1981: 238).

Der bewusste oder unwillkürliche Verzicht, sich mit den Modi des quantitativ Populären zu beschäftigen, dürfte in noch stärkerem Maße mit dem Anspruch zu tun haben, ‚tief liegende‘ Verbindungen zwischen verschiedenen Objekten, Handlungen und Ereignissen zu erkennen und herauszustellen. ‚Theorie‘ meint dann nicht nur ‚Definition mit erhöhtem Abstraktionsgrad‘, sondern auch ‚Angaben zu (wahrscheinlichen) historischen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen‘ sowie ‚Hypothesen über zentrale Teile eines Ganzen‘.

Schaut man die historische Palette von Theorien zu ‚populärer Kultur‘, ‚Massenkultur‘ etc. an, findet man verschiedene solcher hoch abstrakten Schwerpunktsetzungen und Ursache-Wirkung-Annahmen vor (die oftmals auch die jeweilige Definition ‚populärer Kultur‘ mitprägen). Besonders häufig vertreten sind:

  1. a)

    populäre Kultur als etwas, das unauflöslich mit einer bestimmten sozialen Gruppe (Schicht, Klasse etc.) (die manchmal zudem regional konzentriert und gemeinschaftlich eng miteinander verbunden ist) verknüpft sei; verursacht von spezifischen Bedingungen, unter denen diese Gruppe lebt, oder von Eigenschaften, die sie wesentlich auszeichnet.

  2. b)

    populäre Kultur als Teil einer hierarchisch gegliederten oder in Klassen (die über sehr unterschiedliche Möglichkeiten, zu Macht und Reichtum zu gelangen, verfügen) aufgeteilten Gesellschaft – als Gegensatz zur ‚hohen Kultur‘; entweder als Ausdruck und Motor der Befestigung dieser hierarchischen Ordnung oder als Artikulationsform und Movens des Widerstands und der Subversion oder als wichtiger Platz des Ringens um Hegemonie;

  3. c)

    populäre Kultur als Konsequenz und Motor der entfremdeten, nivellierten, eindimensionalen Massengesellschaft oder des Monopolkapitalismus;

  4. d)

    populäre Kultur als Teil einer komplexen Gesellschaft, die Kontingenz modisch herstellt oder im Gegenteil Kontingenzerfahrungen vorübergehend, imaginär, mythisch kompensiert.

Das sind allesamt Konzeptionen, die weitreichende Behauptungen aufstellen, aber häufig schwer zu überprüfen sind. Im Falle von regional abgegrenzten Gruppen ist zumindest eine vorherrschende Kultur auf bestimmte Faktoren recht sicher zurückzuführen, sofern der Stand der Produktivkräfte noch niedrig ausfällt. In Gesellschaften der Gegenwart drängen sich aber rasch Fragen auf. Ist populäre Kultur tatsächlich entscheidend oder wichtig für die Reproduktion oder Revolutionierung der bestehenden Ordnung? Inwiefern sind bestimmte Akte, die der populären Kultur zugerechnet werden, subversiv oder affirmativ in einer Weise, die ausschlaggebend für den Fortbestand sozialer Abläufe und Strukturen ist? Ist die Trennung von ‚populärer‘ und ‚hoher Kultur‘ (noch) von Bedeutung für die konstante Perpetuierung und Legitimation der gesellschaftlichen Aufteilung in soziale Klassen?

Ob diese Fragen auf wissenschaftlichem Weg überhaupt beantwortbar sind, ist sehr fraglich. Allein innerhalb des sozialistischen Lagers gibt es z. B. rege Grundsatzdiskussionen zur politischen Bedeutung populärer Kultur: Die These, dass kulturelle Hegemonie wichtig sei für die Reproduktion oder Revolutionierung einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft, konkurriert mit der entgegengesetzten Annahme, dass der stumme Zwang der Verhältnisse – der Umstand, ohne lohnabhängige Arbeit sein Leben nicht fristen zu können – sowie die Sorge vor einer tiefgreifenden, gar revolutionären Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, bereits weitgehend ausreiche, um besagten Gesellschaftstyp aufrechtzuerhalten (Abercrombie et al. 1990: 158–162; Hill 1980). Diese Thesen besitzen zweifellos eine große Bedeutung für die jeweilige Ausrichtung der politischen Strategie, unabhängig davon, ob die Thesen richtig oder falsch sind. Eine Methode jedoch, ihre Richtigkeit oder Falschheit wissenschaftlich festzustellen, scheint es wegen der Größe der Fragestellung nicht zu geben.

Sicher feststellen lässt sich allerdings, dass Thesen dieser Art auch unter vielen Wissenschaftlern große Resonanz erfahren haben, allerdings ohne dass daraus auch nur eine annähernd übereinstimmende Linie hervorgegangen wäre. Sicher angeben lässt sich zudem, dass die Diskussion solcher Fragen und ihre verschiedenen Antworten wenig dazu beigetragen haben, die Herausstellung der quantitativen Dimension der ‚populären Kultur‘ in den Blick zu bekommen und zu analysieren.

Das vorliegende Buch reagiert auf die skizzierten bisherigen Anläufe, indem es unter dem Titel einer ‚Theorie des Populären‘ fünf Konsequenzen zieht:

  1. 1.

    Es setzt an einem bestimmten Phänomen an: der leicht zu überprüfenden Tatsache, dass zu der Auszählung politischer Wahlakte und ihrer Überführung in öffentlich präsentierte Tabellen im Laufe des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zahlreiche weitere ähnliche Darstellungen gekommen sind (zuerst vor allem in den USA, ab den 1950er Jahren zunehmend international): neben der Nennung einzelner Zahlen hierarchisch sortierte Listen der Ergebnisse von Käufen bestimmter Produkte (zu Beginn Bücher und Tonträger), von Meinungsumfragen, Einschaltquoten, angeklickten Websites, gelikten Social-Media-Beiträgen etc.

  2. 2.

    Eine Trennung zwischen Phänomenen, die auf der einen Seite der (populären) Kultur und auf der anderen Seite der (Massen-)Gesellschaft zugeordnet werden, wird nicht vorgenommen. Um das zu verdeutlichen, wird nicht eine entsprechend weite Definition unter dem Titel ‚populäre Kultur‘ vorgelegt, sondern vom ‚Populären‘ gesprochen.

  3. 3.

    Unter den Begriff des Populären fällt hier das, was viele beachten und auf das in spezieller Form hingewiesen wird: durch einzelne Mengenangaben sowie in Ranglisten, die Wahlakte nach quantitativer Maßgabe bilanzieren und öffentlichkeitswirksam präsentieren.

  4. 4.

    Diese Begriffsexplikation erfolgt nicht, um die mit einer anderen Begriffsverwendung verbundenen Untersuchungen zu negieren oder zu verdrängen. Wenn Forschungen zur ‚Unterschichtenkultur‘ oder zu TV-Sendungen oder zu ‚regionalen Gemeinschaften‘, zur ‚nicht klassischen Musik‘ etc. ausdrücklich unter dem Begriff ‚populäre Kultur‘ laufen, soll die Bedeutsamkeit dieser Untersuchungen keineswegs bestritten werden.

  5. 5.

    Die Hypothesenbildung bezieht sich eng auf die Beobachtungen und empirischen Ergebnisse, die bei der Inspektion und Analyse solcher veröffentlichten Angaben und Listen, die Ergebnisse von Wahlakten versammeln, gewonnen werden und erfolgt nicht im Rahmen einer ‚grand theory‘ oder von Thesen, deren Überprüfung kaum oder gar nicht möglich erscheint.

Der letzte genannte Punkt wird in erster Linie innerhalb der unterschiedlichen Teilprojekte des DFG-SFB 1472 „Transformationen des Populären“ verfolgt (vgl. Döring et al. 2021). Im vorliegenden Buch, das aus einer Arbeitsgruppe dieses Sonderforschungsbereichs hervorgegangen ist, soll das genannte Programm vor allem Kontur durch die Auseinandersetzung mit etablierten Theorien und Untersuchungen zur ‚populären Kultur‘, ‚Massenkultur‘ etc. erhalten.

1.3 Charts und andere quantitative Angaben

Bei der Konzeptualisierung des Populären kann teilweise an spezielle Untersuchungen zu Ranglisten (bzw. Rankings) angeschlossen werden. Ein beträchtlicher Teil der Forschung widmet sich jenen Ranglisten, in die Einschätzungen von professionellen Experten eingehen und/oder die materiale Eigenschaften von Gegenständen und Handlungen bilanzieren, etwa Universitäts-Ranglisten, Ranglisten von Unternehmen (vgl. Rindova et al. 2018; Ringel und Werron 2020). Diese können für eine Analyse des Populären infrage kommen, wenn öffentlich herausgestellt wurde, dass sie von vielen beachtet worden sind.

Auf direkte Weise ins Gebiet des Populären fallen hingegen jene Angaben, die auf Wahlakte zurückgehen, die weit überwiegend nicht aus beruflichen Gründen (von ausgewählten Experten) durchgeführt wurden und in die keine Bilanzen der Merkmale ausgewählter Objekte eingehen. Dies geschieht entweder in Form einzelner Angaben oder in Form von Ranglisten. Solche Ranglisten des Populären (Hecken 2024) zeigen auf ihren vorderen Plätzen an, dass etwas in einem bestimmten Zeitraum von vielen ausgewählt, gekauft, besucht, gehört, als Meinung vertreten, gelesen, benutzt, angeklickt etc. wurde, jedenfalls häufiger als das, was einen oder mehrere Plätze dahinter rangiert.

Manchmal gehen diese Ranglisten auf alle Wahlakte zurück, manchmal auf eine Auswahl; manchmal erheben sie den Anspruch auf Repräsentativität (z. B. bei TV-Einschaltquoten). Festgehalten werden einzelne Wahlakte, die standardisierten Verfahren unterliegen: Der Kauf eines Produkts wird z. B. durch einen Scanner festgehalten, die Äußerung einer Meinung durch angekreuzte Kästchen im Rahmen einer Umfrage, der Besuch einer Website durch die digitale Erfassung der Dauer des Seitenaufrufs eines ‚uniquely identified client‘ etc. Diese Daten werden summiert, in eine Rangfolge gebracht und in Form einer Liste oder einer Grafik veröffentlicht.

Mitunter werden auch die Summen publik gemacht; alternativ gibt es nur die Auskunft, dass etwas auf Platz 1, etwas anderes auf Platz 2 usw. steht; ob das auf Platz 1 nun 40, 15.000 oder 500.000 Wahlakte erfahren hat, bleibt in diesem Fall unbekannt oder lässt sich allenfalls durch andere Veröffentlichungen herausfinden. Manchmal gehen in die Ranglisten auch verschiedene Wahlakte ein, etwa das Streamen eines Songs und der Klick auf das entsprechende Video – oder bei der Anordnung der Treffer einer Google-Suche neben anderen unbekannten Elementen des Algorithmus die „link popularity“. Die Veröffentlichung umfasst zumeist nur einen Teil der ermittelten Daten, publiziert werden allein die ‚Top Forty‘‚ ‚Top Twenty‘, ‚Top Five‘ oder die ‚Top Three‘, im äußersten Fall die ‚Top Hundred‘; angezeigt wird nur oder in erster Linie, was von vielen oder zumindest den meisten ausgewählt wurde, mindestens die ersten drei ‚Top‘-Einträge (zu solchen Ranglisten vgl. etwa Miller 2000; Raupp 2007; Schneider und Otto 2007; Hearn 2010; Hecken 2017: Hecken 2024). Wenn es bei Internet-Veröffentlichungen von Ranglisten möglich ist, sich auch Platzierungen im drei- oder vierstelligen Bereich anzuschauen, muss man die Startseite verlassen und sich recht mühsam durchklicken, sodass besonders der ‚Top Ten‘ weiterhin eine große Bedeutung zukommt.

In der bisherigen Populärkultur-Forschung sind solche Ranglisten – wenn überhaupt –meistens lediglich zur Kenntnis genommen worden, um ihnen Daten zu entnehmen oder um sie kritisch zu betrachten. Da diese Kritik sich übergeordneten kapitalismus- und wettbewerbskritischen Einstellungen verdankte (etwa Adorno [1938] 1973; Parker 1991: 210–211; Hakanen 1998: 107), war sie rasch formuliert. Eine nähere Beschäftigung mit dem Phänomen erübrigte sich aus der Perspektive solcher Betrachter darum wahrscheinlich.

Deshalb ist es sinnvoll, einige weitere Thesen zu solchen Ranglisten zu formulieren, die zusätzliche Dimensionen und damit verbundene Diskussionsmöglichkeiten herausstellen sollen. Dies betrifft sechs Punkte: 1. Besonderheit der quantitativen Angabe; 2. Bezug von Quantität zu Qualität; 3. Substanzielle Formierungen der Daten; 4. Rankings von Bewertungen; 5. Neuerungen durch Internet-Technologien; 6. Verhältnis zu politischen Wahlen.

1. Besonderheit der quantitativen Angabe. Mit Begriffen wie ‚Volk‘, ‚großer Haufen‘, ‚Masse‘ wird traditionell angezeigt, dass es sich um viele Menschen handelt, die den ‚niederen‘ Schichten angehören. Schließt ‚populäre Kultur‘ an diesen Begriffsgebrauch an, gibt man mit ‚populäre Kultur‘ zu verstehen, dass es um kulturelle Praktiken, Ereignisse und Gegenstände geht, die bei einer bestimmten großen Menge bekannt und bei ihnen beliebt sind (im Gegensatz zu denen einer wesentlich kleineren ‚Elite‘). Im Unterschied dazu steht jener alternative Begriffsgebrauch von ‚Volk‘ und ‚Nation‘ sowie ‚Masse‘, mit dem die Zugehörigkeit der vielen Menschen zu einer bestimmten Schicht gerade nicht mehr betont werden soll, sondern deren übergreifende Einheit – entweder als ‚volkskulturelle‘ und ‚nationalkulturelle‘ Verbundenheit oder (im Fall der ‚Masse‘) als ‚irrationale‘, ‚atomisierte‘ Menge.

Etwas anderes ist es, wenn bei bestimmten Kunst- und Kulturgütern bloß hervorgehoben wird, dass sie einen ‚großen Erfolg‘ besäßen, sich am ‚besten verkauft‘ hätten, ‚stark nachgefragt‘ würden, ‚volle Säle‘ garantierten. Dies geschieht häufig aufgrund von Schätzungen und Vermutungen, die auf eigenen Eindrücken basieren (ein gut gefüllter, applaudierender Theatersaal, viele positive Erwähnungen in Journalen etc.), mitunter gründen die Aussagen aber auch auf statistischen Angaben (etwa auf der Auflagen- oder Verkaufszahl eines Buchs, der Einschaltquote, der jeweiligen Like-Ziffer). ‚Populär sein‘ bedeutet hier mindestens: bei vielen bekannt sein (und manchmal auch: von vielen geschätzt werden).

Im Unterschied zu Aussagen über ‚Volk‘ und ‚Masse‘ besitzt diese Angabe keinen substanziellen Zug, sie stellt nicht heraus, wie die Vielen und ihre Vorlieben grundlegend beschaffen sind, sondern nur, dass es sich um viele und um jeweils Bekanntes handelt. Solche Angaben über einzelne ‚Erfolge‘ bei einem größeren Publikum sind deshalb für die quantitative Ausrichtung der Rede über das Populäre von großer Bedeutung.

Bei Ranglisten des Populären wie z. B. bei Buchbestsellerlisten ist das prinzipiell nicht anders, wenn sich auch diese quantitativen Angaben auf einem anderen Niveau befinden: Bei ihnen handelt es sich um planvoll ermittelte Daten vieler Objekte, die in ein Verhältnis gesetzt und ordinal oder metrisch sortiert werden. Im Unterschied zu vielen einzelnen Eindrücken (einer ausverkauften und gefeierten Theateraufführung, eines im Bekanntenkreis kursierenden und/oder in Zeitungen gelobten Buchs etc.), bei denen die Diagnose der Bekanntheit und die der Beliebtheit sehr häufig zusammengehen, sind in den Ranglisten Quantität und Qualität jedoch öfter voneinander getrennt. Sie geben in diesen Fällen lediglich Aufschluss, dass etwas am häufigsten, zweithäufigsten usw. gekauft, besucht, gesehen, nicht aber, wie es aufgenommen wurde.

Solche Ranglisten mit Angaben über etwas Bestimmtes, das in einem festgelegten Zeitraum stärker gekauft, gesendet, gehört etc. wurde als ein, zwei, drei usw. andere solcherart bestimmte Objekte, sind abseits der Institution politischen Wahl zunächst ein firmen- oder brancheninternes Phänomen. Sie stellen dort auch eine Besonderheit dar, weil sie es nicht beim einzelnen Befund belassen (x ist populär), sondern ausgedehnt, komparativ organisiert sind (a ist am populärsten, gefolgt von b, c, d …).

Größere Bedeutung gewinnen sie, als sie nicht länger nur intern in Firmen zirkulieren und in Branchenblättern aufgeführt, sondern auch darüber hinaus bekannt werden. Der SFB 1472 „Transformationen des Populären“ bezeichnet das als „Popularisierung zweiter Ordnung“: Populäres wird behauptet, indem (im Falle der Ranglisten sogar sehr häufig regelmäßig und systematisch) öffentlich gemacht wird, dass etwas von vielen (angeblich) beachtet (= gekauft, gelikt, eingeschaltet, besucht etc.) wurde (Döring et al. 2021: 13).

Dies geschieht nicht nur durch die Publikation von Einzelergebnissen oder Ranglisten des Populären in ihrerseits ‚hoch gerankten‘ Organen (Radio- und TV-Sendungen, Illustrierten, Tageszeitungen, Social-Media-Posts) und Beiträgen, sondern auch in Form von Shows, Awards, Anzeigen, Katalogen, Artikeln, Websites, die auf solchen Einzelergebnissen und vor allem auf Ranglisten aufbauen: auf Musikcharts, Buch- und Amazon-Bestsellerlisten, Einschaltquotentabellen, Meinungsumfrageergebnissen etc. Selbst wenn sie nicht vollständig rezipiert werden, bieten sie mit ihren unterschiedlichen Dokumenten vielfältige Daten, aber auch Anlässe, um auf die ‚Top‘-Platzierten zu verweisen. Einzelne Hinweise auf große quantitative ‚Erfolge‘ und Ranglisten gehen so Hand in Hand.

2. Bezug von Quantität zu Qualität. In einer ganzen Reihe an Fällen geht aus den Ranglisten bloß hervor, dass etwas in relativ hohem oder niedrigem Maße ausgewählt (gekauft, angeklickt, angekreuzt etc.) wurde. Diese Rankings geben nicht an, ob die Objekte gut oder schlecht, besser oder schlechter seien (es heißt „Bestseller“, nicht ‚das beste Buch‘). Sie geben nicht einmal Auskunft darüber, ob diejenigen, die den Wahlakt vollzogen haben, ihr ausgewähltes Objekt gut, mittelmäßig oder schlecht finden.

Den Umschlag von Quantität zu Qualität macht oftmals allein jene Metaphorik des Hohen und Einschlagenden deutlich, die zur Benennung der Ranglisten häufig eingesetzt wird: „Top“ und „Hitparade“. Da ‚oben‘ metaphorisch zumeist eindeutig ‚gut‘ anzeigt, fällt der Übersprung von ‚hohe Platzierung‘ (= vergleichsweise oft angeklickt, häufig gekauft etc.) zu ‚gefällt vielen‘ und ‚gutes Artefakt‘ recht leicht.

Dennoch muss der Sprung erst vollzogen, muss der Zusammenhang zwischen den ‚Top-Plätzen‘ bei Käufen, Klicks etc. und der hohen Qualität der ‚Top‘-Platzierten etabliert werden. Dies gilt besonders bei Ranglisten, die Gegenstände oder Ereignisse bilanzieren, deren Qualität erst nach dem Kauf, nach dem Klick, nach dem Einschaltvorgang etc. festgestellt werden kann, weil sie zuvor nicht eingesehen werden konnten (weil Zugangsschranken existierten, weil sie sich erst nach einem längeren Rezeptionsvorgang erschließen oder – z. B. im Falle von Konzerten – noch gar nicht in der Welt waren).

Und es gilt grundsätzlich – denn der Zusammenhang von ‚oben‘ und ‚gut‘ versteht sich trotz der weithin bekannten und verwandten Metaphorik doch nicht von selbst. Das erkennt man unschwer an dem Gebrauch von Begriffen wie ‚Lo-Fi‘, ‚Underground‘ und ‚Subkultur‘. Für nicht wenige Sprachteilnehmer besitzen sie eine positive Konnotation. Dadurch wird der Vorrang des Hohen entschieden bestritten. Für die Anhänger des ‚Underground‘ etc. zeigt ‚unten‘ ‚gut‘ an.

Mit Blick auf die Ranglisten muss das zwar noch keine direkten Konsequenzen haben – auch ‚Underground‘-Titel können ‚Spitzenreiter‘ werden –, an der Reaktion der (frühen) Verfechter solchen ‚Undergrounds‘ sieht man aber, wie öffentlich gemachte Einzelergebnisse und Ranglisteninformationen genau das Gegenteil des Kurzschlusses von ‚oben‘ auf ‚gut‘ bewirken können. Auch sie orientieren sich zwar an hohen Zahlen oder den Charts, aber keineswegs um dem ‚Erfolgreichen‘ oder den ‚Top Ten‘ zu folgen. ‚Underground‘-Anhänger erhoffen oftmals gerade nicht den Charterfolg ihrer Favoriten und revidieren ihr Urteil über deren Qualität, falls dies geschieht.

Diese Reaktion teilen all jene, die ‚Kommerzielles‘ und ‚Kunst‘ voneinander absetzen oder ‚Masse‘ und ‚Klasse‘ für unverträglich halten. Da sich aus der Kritik am ‚(niederen) Volk‘ oder der ‚(nivellierten, mittelmäßigen) Masse‘ und/oder an ‚kommerziellen Konsumprodukten‘ ein sehr großer Teil der Vorbehalte gegenüber populären Artefakten, Ereignissen und Rezeptionsvorgängen speist, müssen von dieser Seite alle Versuche, ‚Top‘-Ranglistenplätze mit der Höhen-Metaphorik des Guten in Verbindung zu bringen, scharf abgelehnt werden. Höhere Platzierungen in Ranglisten, die Auskunft über Kaufhandlungen, Rezeptionsakte etc. geben, dienen ihnen vielmehr genau umgekehrt als Indikator des Schlechten. ‚Bestseller‘ steht so für ‚miserable Qualität‘, ‚Spitzenplatzierung‘ für ‚niedriges Niveau‘, ‚hohe Einschaltquote‘ für ‚Unterschichtenfernsehen‘ (wobei ‚Unterschicht‘ hier nicht in erster Linie anzeigt, dass die Betroffenen über wenig Geld und Macht verfügen, sondern ihren konstitutiv schlechten Geschmack akzentuiert; auf diese Weise kann die mangelnde Ausstattung mit Macht- und Geldmitteln freilich legitimiert werden).

Für eine Geschichte des Populären ergibt sich darum eine wichtige Untersuchungsleitlinie, die nach dem Erfolg der Ranglisten des Populären fragt. ‚Erfolg‘ bedeutet hier keineswegs nur ‚starke Beachtung‘, sondern auch und gerade, dass diese Ranglisten dazu genutzt wurden, um die oben Platzierten qualitativ auszuzeichnen. ‚Erfolg‘ bedeutet dann, im quantitativ ‚Hochstehenden‘ ein Zeichen oder einen Beweis für künstlerische oder andere Hochwertigkeit zu erkennen – und umgekehrt aus niederen Chartsrängen ‚hochkultureller‘ Güter nicht ihren ‚Adel‘, sondern ihre Rechtfertigungsbedürftigkeit abzuleiten. In welchen Organisationen und Bereichen sich solch eine „Umkehr der Beweislast“ (Döring et al. 2021: 8) abzeichnet oder dort bereits durchgesetzt wurde, wäre eine entsprechende historiografische Forschungsfrage, die sich aus der vorgeschlagenen Theorie des Populären ergibt.

Aus der Perspektive der ‚Massen‘- und/oder ‚Kommerzialismus‘-Kritiker ist es bereits alarmierend zu sehen, wenn besagte Ranglisten außerhalb von Branchenblättern veröffentlicht werden – denn durch solch eine Publikationspraxis wird angezeigt, dass die Information über ‚Top Twenty‘ etc. nicht nur für Unternehmer und das Management von Interesse seien bzw. sein sollten. Der Schluss von ‚viel gekauft‘, ‚oft eingeschaltet‘ etc. zu ‚gut‘ wird von Organen, die Ranglisten potenziellen Käufern und Rezipienten zur Kenntnis bringen möchten, auf diese Weise nahegelegt.

Da sich dieser Schluss aus den genannten Gründen jedoch nicht (für alle) von selbst versteht, bleibt es selten bei einer schlichten Veröffentlichung solcher Ranglisten in ‚Publikumsmedien‘. Die erhobenen Daten werden z. B. zumeist nicht nur egalitär in Tabellenform präsentiert, sondern grafisch so aufbereitet, dass die ‚oberen‘ Plätze hervortreten; in Shows, in denen (ausschließlich) die ‚Top‘-Platzierten auftreten, bekommt der ‚Führende‘ eine besonders emphatische Ansage und den größten Applaus; in Begleittexten oder -bildern werden ekstatische Reaktionen oder Testimonials zur Qualität der ‚Spitzenreiter‘ dokumentiert oder eigens formuliert.

Dies geschieht selbst dann, wenn die Ranglisten nur auf kleineren Datenmengen beruhen, etwa auf den Wahlakten einer überschaubaren und nicht repräsentativen Gruppe. Es geschieht ebenfalls, wenn die Ranglisten lediglich Wahlakte aus einem stark eingeschränkten Bereich anführen, etwa die Käufe von „Soul“-Singles oder die Follower-Zahlen von ‚Mom-Influencerinnen‘. In all diesen Fällen gibt es Publikationen von Ranglisten außerhalb brancheninterner Zusammenhänge – mit Präsentationsformen sowie Qualitätssuggestionen und -behauptungen, die Rhetorik und Layout buchhalterischer oder (anderer) bürokratischer Statistiken übersteigen.

3. Substanzielle Formierungen der Daten. Trotz dieser Distanz zu bürokratischen Statistiken eignen sich viele Ranglisten des Populären nicht für die älteren, substanziellen Angaben über den Zuschnitt der vielen Rezipienten. Zum einen lässt sich den Ranglisten oftmals nicht unmittelbar oder gar nicht entnehmen, wer zum relativen ‚Erfolg‘ oder ‚Misserfolg‘ beigetragen hat. Zum anderen steht von vornherein fest, dass die gewonnenen Daten auf standardisierte Erhebungen je einzelner Wahlakte zurückgehen, die stetig wiederholt werden und deshalb bei künftigen Erhebungen zu anderen Ergebnissen führen können.

Mit den holistischen und oftmals auch essenzialistischen Vorstellungen von ‚Volk‘, ‚Masse‘, ‚populärer Kultur‘ etc. harmoniert diese Vorgehensweise keineswegs. Auch im Falle von Meinungsumfragen oder Einschaltquotentabellen, bei denen oftmals untersucht und teilweise auch aufgeschlüsselt wird, auf wen bestimmte Daten zurückgehen (auf die 14- bis 49-Jährigen, auf die CDU-Wähler, auf Frauen oder Männer etc.) ändert sich das längst nicht immer, denn die dort verwendeten Kategorien stimmen häufig nicht mit denen von ‚Volk‘ und ‚Masse‘ überein.

Einfacher scheint es hingegen, von den ‚Spitzenplatzierungen‘ solcher Rankings auf den ‚Mainstream‘ zu schließen. Das gilt aber lediglich dann, wenn man mit ‚Mainstream‘ schlicht das meint, was z. B. in einem bestimmten Zeitraum, etwa einer Woche – ob von einigen tausend oder zehn- oder hunderttausend Leuten – gekauft, angeklickt etc. wurde. Möchte man unter ‚Mainstream‘ jedoch in substanzieller Manier das fallen lassen, was man mit positiver oder negativer Bewertung als das ‚Moderate‘, ‚Vernünftige‘ oder ‚Einengende‘, ‚Langweilige‘ ansieht, bieten viele solcher Ranglisten keinen Anhalt.

Historisch ist das sehr gut zu erkennen am jähen Einzug des Rock ʼnʼ Roll in die „Popular Music“-Charts der Mitt-1950er Jahre. Dadurch wurde die Überzeugung enttäuscht, es reiche aus, „Race“ bzw. „Rhythm and Blues“ sowie „Hillbilly“ bzw. „Country and Western“-Titel in eigenen Charts zu bilanzieren, um mit „Popular Music“ die ‚angemessene‘, ‚gesittete‘ ‚weiße‘ Musik als ‚Mainstream‘ zu präsentieren. In Fällen wie dem „Popular Music“-Charts-‚Erfolg‘ des Rock ʼnʼ Roll muss von den Verfechtern des ‚Common Sense‘ bzw. des ‚Normalen‘ extra deutlich gemacht werden, dass solche Charts-‚Top‘-Platzierten gerade nicht zum ‚Mainstream‘ gehören, sondern bestenfalls eine kurzzeitige Modeerscheinung darstellen.

Verbindet man mit ‚Mainstream‘ hingegen lediglich Aussagen über den zeitweiligen Zustand einer Staatengemeinschaft, Nation oder zumindest einer breiten kulturellen Gattung, liegt es nahe, sich auf Ranglisten zu konzentrieren, die Bilanzen eines sehr großen Felds bieten, etwa die ‚Top Fifty‘ aller Buchkäufe eines Jahres in Deutschland. Aus diesen könnte man dann vielleicht Angaben zu deutschen ‚Mainstream-Autoren‘, ‚Mainstream-Genres‘, ‚Mainstream-Schreibweisen‘ gewinnen. Das gilt aber nicht prinzipiell; besondere Voraussetzung dafür ist, dass die Rangliste auf den vorderen Plätzen nicht heterogen ausfällt.

Einen ‚Mainstream‘ im Sinne von Jürgen Links „Normalisierung“ können solche Ranglisten sogar in keinem Fall aufzeigen. Den „normalistischen“ ‚Mainstream‘ bildet die umfangreiche Mitte der Gaußʼschen Normalverteilung, rechts und links (oder unten und oben) flankiert von schmalen Rändern (Link [1997] 2006). Von vornherein gibt es hier die Schwierigkeit, dass der Bezug der Gauß’schen Normalverteilung auf den „normalistischen Mainstream“ nicht direkt vorgenommen werden kann, weil diese nur für stetige Variablen definiert ist. Selbst bei einer vageren, metaphorischen Verwendung bleibt aber der Umstand erhalten, dass in Ranglisten, die nur die ‚Top 100‘ oder gar die ‚Top Twenty‘ bieten, keine ‚Ränder‘ existieren bzw. ohne Erwähnung bleiben (es sei denn, man würde rein formal das, was z. B. in einer ‚Top Twenty‘-Liste auf den Plätzen 15 bis 20 rangiert, als ‚Rand‘ deklarieren).

Zudem ist völlig unklar, was an den linken und was an den rechten (bzw. oberen und unteren) ‚Rand‘ gehört. Dieses Problem kann nur gelöst werden, wenn es um spezielle Messdaten geht (etwa um Körpergrößen, dann liegen neben der zahlreich vorhandenen mittleren Größe auf der einen Seite die wenigen besonders kleinen und auf der anderen Seite die besonders langen Ausformungen). Auf andere Weise kann es ‚gelöst‘ werden, indem etwas einigermaßen genau Umrissenes (wenn auch nicht normativ exakt Festgelegtes) als das ‚Mittlere‘ und zugleich ‚Normale‘ gesetzt wird (etwa wenn auf einer politischen Skala das Sozial-Liberal-Konservative die ‚Mitte‘ darstellen soll und das Faschistische das rechte und das Kommunistische das linke ‚Extrem‘).

In Rankings, die von Platz 1 absteigend Objekte aufführen, die jeweils geringere Mengen an Wahlakten erfahren haben, sind jedoch auch solche ‚Normalitäts‘- und ‚Extremismus‘- bzw. ‚Anormalitäts‘-Anordnungen nicht abbildbar. Dass Ranglisten den ‚Mainstream‘ stets repräsentieren oder bilden, stimmt also in mehrfacher Hinsicht nicht. Um den ‚Mainstream‘ im Sinne des ‚Normalismus‘ zu konstituieren, bedarf es anderer grafischer Lösungen. Es überrascht deshalb nicht, dass bei Meinungsumfragen und Ergebnissen politischer Wahlen oftmals solche anderen Darstellungsformen benutzt werden – im Gegensatz etwa zu den Präsentationen von Buchbestsellern, Konsumgüterhits, Trending Topics etc.

4. Rankings von Bewertungen. Meinungsumfragen unterscheiden sich noch in weiteren Hinsichten (unabhängig von der Darstellungsform ihrer Ergebnisse) von Ranglisten, die über Klicks, Käufe, Besuche etc. Auskunft geben. Sie haben zwar mit diesen Ranglisten gemein, dass ihre Ermittlung standardisiert erfolgt (den Befragten werden alternative Vorgaben gemacht, aus denen sie etwas auswählen), mit ihnen können aber im Unterschied zu den anderen Ranglisten auch qualitative Einschätzungen ermittelt werden. Weiß man nach Ansicht der anderen Ranglisten nur, dass etwas gekauft oder angeklickt wurde (nicht aber, ob es z. B. auch gelesen oder gar gerne gelesen wurde), bieten einem die veröffentlichten Meinungsumfragen mitunter Daten an, die auf Fragen nach Vorlieben und Abneigungen, nach politischen oder künstlerischen Urteilen beruhen.

Die Duden-Definition von ‚populär‘ – ‚bekannt und beliebt‘ – kann so auch einmal bei den standardisierten Popularitäts-Ranglisten mit Bedeutung gefüllt werden. Dies geschieht aber bei solchen Ranglisten des Populären im Regelfall nur bei Umfragen zu im weitesten Sinne politischen Themen. Ob z. B. bestimmte Influencer, Bücher, TV-Sendungen, die an der Spitze von Ranglisten platziert sind, über hohe Beliebtheitswerte verfügen, wird selten separat untersucht. Die quantitativen Daten – etwas ist oft gekauft, angeklickt etc. worden – werden zumeist wohl bereits als Ausweis für eine qualitative – positive – Wertschätzung angesehen, darum unterbleibt eine eigenständige Überprüfung mittels Meinungsumfragen.

5. Neuerungen durch Internet-Technologien. Enorm verbreitet haben sich die Bilanzen von Wahlakten auf Internet-Websites, insbesondere Social Media. Eine unüberschaubare Zahl von Daten zeigt nicht nur die Häufigkeit der Zugriffe und Feed-Optionen an – z. B. wie viele Follower eine Social-Media-Seite hat –, sondern auch in Form von Ranglisten, was User an Konsumgütern, Dienstleistungen und Angeboten aller Art – vom Radiergummi bis zum Auto, vom Roman bis zu den Kundenrezensionen Dritter, vom Maklerservice bis zur Ferienreise – mehr oder weniger für ‚gut‘ befunden haben (vgl. etwa Hearn 2010; Cardon 2016; Sharkey et al. 2023).

Die traditionelleren Ranglisten sind dadurch aber keineswegs verdrängt worden. Im Unterschied zur Prä-Internet-Zeit gibt es sie nun auch a) für enorm große Felder (z. B. eine gemeinsame Rangliste für alle verkauften Bücher eines Internet-Anbieters, nicht abgetrennt nach Sparten wie „Belletristik“ und „Sachbuch“, aus denen zudem in der Spiegel-„Bestseller“-Liste u. a. alle wiederaufgelegten Titel ausgeschlossen sind), b) für eine große Vielzahl an Segmenten („Amazon-Bestseller“ in „Popmusiktheorie“, in „Fachbücher Soziologie“, in „Sozialgeschichte“, in „Medienforschung“ usw.). Die zweite wichtige Änderung liegt darin, dass nun viel häufiger in solchen Ranglisten des Populären die qualitativen Bewertungen vieler User (ohne nachgewiesenen bzw. zugerechneten Expertenstatus) versammelt werden (z. B. bei Waren auf Amazon, die jeweils in einer Rubrik von der besten bis zur schlechtesten „Durchsch. Kundenbewertung“ hierarchisch sortiert werden). Eine dritte wichtige Neuerung besteht in dem oftmals jetzt sehr raschen Takt der Ranglistenaktualisierung.

Die etwas älteren Ranglisten des Populären sind in ihren Möglichkeiten oftmals begrenzt, weil man sie nicht leicht in andere Formate überführen kann. Die Musikcharts sind deshalb so bekannt (gewesen), weil sich die kurzen Singles sehr gut für Radio- und TV-Shows eignen; mit der Präsentation der Charts-Daten verbunden ist das Abspielen der hoch platzierten Stücke. Bei Filmen und Büchern z. B. geht das nicht. Dies ändert sich zwar auch in der Internet-Ära nicht, dafür gibt es aber nun zahlreiche Möglichkeiten, sowohl die Einschätzungen als auch einige Praktiken der User standardisiert zu quantifizieren und öffentlich zu machen: Likes, Sharing-Aktivitäten etc. Diese Daten sind in immens großer Zahl öffentlich und begleiten vor allem Social-Media-Nutzer permanent.

Die Ubiquität der quantitativen Angaben im Social-Media-Bereich führt aber nicht zu einer entsprechenden Steigerung an Ranglisten. Zwar gibt es zahlreiche Ranglisten wie die auf Amazon, die zum Teil auf der Mitwirkung der User gründen, auch gibt es z. B. auf X (früher: Twitter) eine Liste – „Trending Topics“ –, die zumindest partiell ein Ranking darstellt, dennoch kann von einer Allgegenwart der Top-Ten- und ähnlichen Ranglisten keine Rede sein. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass einige der Daten, welche die Plattformbetreiber nicht in Ranglisten überführen, durch andere Medienunternehmer ‚gerankt‘ werden (wenn sie etwa in Zeitschriften oder auf Websites Followerzahlen in Rankingform bringen und so die ‚beliebtesten Mode-Influencer‘ o. Ä. ausloben).

Angesichts der allgegenwärtigen quantitativen Angaben im Social-Media-Bereich bleibt es deshalb mitunter den Usern überlassen, Vergleiche vorzunehmen und damit eigene, zumeist nicht fixierte, nicht veröffentliche Rangfolgen zu verbinden. Da sie selbst Teil von Social Media sind, können sehr viele User die Daten nutzen, um sich selbst mit anderen, ähnlich mäßig populären Usern in ein Verhältnis zu setzen – wer 435 Follower besitzt, hat 17 mehr als derjenige mit 418 –, aber natürlich auch um Abstände zwischen z. B. Beyoncé und Taylor Swift zu beobachten.

Die Angaben quantitativer Popularität erinnern dadurch an den – vereinzelten – Zustand vor ihrer Überführung in Ranglisten. Im Unterschied zur Zeit vor Billboard-Charts, New York Times-Buchbestsellerliste, Gallup-Umfragen, TV-Einschaltquoten etc. handelt es sich jetzt aber um eine immense Fülle an einzelnen, in Social Media permanent veröffentlichten Daten. Sie gehen zwar nicht mit einer vergleichbar exponentiellen Fülle an Ranglisten des Populären einher, sehr wohl aber mit einer starken Steigerung der Menge an publizierten Rankings dieser Art.

6. Verhältnis zu politischen Wahlen. Betrachtet man all diese standardisiert erfolgten und darum leicht messbaren Wahlakte, führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass sie mit der Methodik und Praxis politischer Wahlen übereinstimmen. Im Unterschied zur politischen Wahl finden sie jedoch in sehr kurzen Abständen statt und nicht im Rhythmus von vier oder fünf Jahren. Die Ranglisten solcher Wahlakte werden oftmals monatlich, wöchentlich, täglich oder sogar noch häufiger aktualisiert.

Im Gegensatz zur politischen Wahl, die u. a. Abgeordnete in Parlamente befördert, gibt es vor allem keine gesetzlich festgelegten Konsequenzen. Der Erstplatzierte der Musikjahrescharts z. B. hat kein Anrecht darauf, im Schulunterricht vorzukommen oder Präsident einer Akademie zu werden. Es kann aber in Organisationen bindende Verabredungen geben, wie mit den Ranglistenersten zu verfahren ist, etwa dass sie in einer Sendung gespielt werden oder eine Trophäe bekommen.

In Untersuchungen zu Ranglisten wie z. B. Musik- und Einschaltquoten-Charts spielt die Nähe zur politischen, demokratischen Wahl und ihren Präsentationsformen zumeist keine Rolle. Über den „neue[n] Kapitalismus“ heißt es etwa: „Es ist wichtiger, in die Charts zu kommen, als gute Qualität zu liefern“, entscheidend sei die erzielte Aufmerksamkeit. „Wo einmal die Schärfe der Argumente entschied, da ist nun das Ranking entscheidend“ (Franck 2010: 217, 230–231). Auf die Sphäre der Politik wird das nicht übertragen; ein entsprechendes Urteil, das politische Ranking nach Wahlen trete an die Stelle des zutreffenden Arguments, begegnete wohl auch größeren Widerständen und liefe Gefahr, als reaktionär, anti-demokratisch, elitär etc. eingestuft zu werden.

Bestrebungen, Charts etc. umgekehrt als Teil einer ‚Konsumentendemokratie‘ auszugeben, stoßen tatsächlich regelmäßig auf starken Widerstand. Es handle sich lediglich um eine Vortäuschung demokratischer Verhältnisse: „The arena within which the audience responds is so limited as to be a confirmation of its own muteness“ (Parker 1991: 211). Oder mit Blick auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen: Solche Meinungsforschung begünstige und dokumentiere einen „Typus Meinung“, der von „kulturindustriell gesteuerten Meinungsinhalte[n]“ abhänge und „vorformuliert übernommen, flexibel in der Wiedergabe“ sei – eine „‚bloße‘“ und keine „reflektierte, in literarischer und räsonierender Auseinandersetzung gebildete Meinung[]“ (Habermas 1962: 267–268).

Immerhin belegt solche Kritik an Versuchen, die genannten Vorgänge und Verfahren als ‚demokratisch‘ einzustufen, dass Bestsellerlisten, veröffentlichte Ergebnisse von Meinungsumfragen etc. ein bedeutender Teil gegenwärtiger kultureller, gesellschaftlicher Wirklichkeit sind. Die starken Abwehrreaktionen engagierter Wissenschaftler aus dem Spektrum der Neuen Linken zeigen auch die Befürchtung an, dass die Orientierung an den vorderen Plätzen solcher Listen Legitimität gewinnt.

Der vorliegende Band übersetzt diesen Befund in die Aussage, dass die Berufung auf solche hohen Ranglistenergebnisse nicht nur in Sphären der Politik, der Unterhaltungsindustrie und der Massenproduktion eine bedeutende Konkurrenz zu einzelnen qualitativen Angaben darstellt. Das Vorgehen, Ansichten und Entscheidungen auf die Wesenserkenntnis einer Sache, auf unumstößliche Prinzipien und Werte und/oder auf die Autorität von Weisen, Experten oder (anderen) Machthabern zu gründen, stellt in diesem Fall nicht mehr den einzigen Modus dar oder wird sogar außer Kraft gesetzt. Zusätzlich oder alternativ findet Berücksichtigung, dass etwas von vielen beachtet oder geschätzt wird, die weit überwiegend nicht zu den Experten etc. gehören. Dass der Hinweis auf solche Häufigkeiten keineswegs mehr nur kursorisch erfolgt, sondern regelmäßig und systematisch in unterschiedlichen Ranglisten öffentlich ausgestellt und inszeniert wird, bekräftigt diese Alternative. Auch Bereiche, deren wichtige Akteure annehmen, sie widersetzten sich dem ‚Mainstream‘, der ‚Masse‘, dem ‚Kommerzialismus‘ etc., werden teilweise in Ranglisten erfasst: Independent Charts, Top-Hundert-„Bestseller in Literaturkritik & Theorie“ bei Amazon, etc. Auch im Bereich etwa der staatlich geförderten Kunst, der Informationsmedien und der Wissenschaft ist es in der Gegenwart nicht (mehr) selbstverständlich, sich (allein) auf das Wahre, Objektive, Schöne oder Interessant-Moderne zu berufen. Auch oder gerade systematisch aufbereitete Daten zur Häufigkeit von Vorlieben, Ansichten, Konsumentscheidungen etc. finden Berücksichtigung: Zitationsindex, Ranglisten der meistbesuchten Ausstellungen, Einschaltquoten öffentlich-rechtlicher Sendungen, Visits und Likes auf Websites und Social-Media-Accounts, Meinungsumfragen zu politischen Themen und zur Beliebtheit von Parteien und Politikern etc.

1.4 Schluss

Öffentliche Angaben zu (weit überwiegend) nicht (nur) von Experten vorgenommenen Wahlakten machen nach der hier vorgeschlagenen Definition das Populäre aus, sofern diese Angaben auf Zählungen beruhen (oder vorgeben, darauf zu beruhen) und in Ranglisten die häufigsten hervorheben – oder im Falle einer einzelnen Angabe das (mit) am häufigsten Gezählte nennen. Solche Angaben sind in der Gegenwart mindestens in Nordamerika und Europa omnipräsent.

Die Überprüfung bisheriger Theorien der populären Kultur sowie die Ausbildung einer neuen Theorie des Populären, die an diese Vorgänger teils anknüpft und sie weiterführt, teils aber auch deutliche Unterschiede zu ihnen aufweist, soll im Lichte dieser weithin unstrittigen Beobachtung geschehen. Im vorliegenden Band werden dafür erste Proben genommen.

Dies geschieht zum einen, indem gut eingeführte Theorien zur populären Kultur vorgestellt und mit Blick auf die in diesem Band vorgebrachte Definition des Populären analysiert und diskutiert werden. Dazu gehören die Beiträge von Theresa Specht zu Theorien des populären Wissens, wie sie innerhalb der Geschichtswissenschaft und in den Cultural Studies vorgebracht worden sind (Kap. 2), von Hans Velten zu populärer Aufmerksamkeit und Beachtung (Kap. 3), von Jörg Döring zu Adornos Kritik an Kulturindustrie und Positivismus (Kap. 4), von Niels Werber zu den Versuchen, Niklas Luhmanns Systemtheorie für theoretische Entwürfe des Populären zu nutzen (Kap. 5), und von Viktoria Ehrmann zu Habermasʼ Überlegungen zur (demokratischen) Öffentlichkeit (Kap. 6).

Es erfolgt zum anderen, indem einige wichtige Begriffe und Konzepte, die keineswegs nur in bisherigen Theorien der populären Kultur von Bedeutung gewesen sind, auf ihre Tauglichkeit für die hier vorgestellte Konzeption des Populären geprüft werden. Im Aufsatz zu „Die politische Kategorie ‚Populismus‘ und die Praxis demokratischer Wahl“ werden nicht nur gängige publizistische, parteipolitische und wissenschaftliche Theorien und Bestimmungen des Populismus untersucht, sondern auch einige Modi der demokratischen Wahl und vor allem der Darstellung von Wahlergebnissen (Kap. 7). Sebastian Berlich und Daniel Stein widmen sich einer zentralen philologischen und kunstwissenschaftlichen Kategorie, dem Genre (Kap. 8). Laura Désirée Haas analysiert im Zusammenhang von literatur- und kulturwissenschaftlichen Theorien die Bedeutung des Paratexts für die Behauptung des Populären (Kap. 9). Anne Deckbar beschäftigt sich u. a. erneut mit den Cultural Studies, insbesondere mit den Fan Studies, um anschließend einen eigenen Ansatz im Rahmen der Analyse digitaler Fan Fiction zu bewähren (Kap. 10). Simone Schmid stellt verschiedene wirtschaftswissenschaftliche Studien zu Ratings, Rankings, Brands, Celebrity und Reputation vor, um Unterschiede und Ähnlichkeiten zu den Ranglisten des Populären zu erhellen (Kap. 11).

Diese Aufsätze belegen, dass die vorgestellte Theorie des Populären mit einigen früheren Ansätzen gut vermittelbar ist. Sie lässt sich keineswegs allein mit liberalen oder ‚wertfrei‘ vorgetragenen ökonomischen Theorien vereinbaren, die bestimmte Marketingbemühungen (wie sie nicht zuletzt in der Verfertigung mancher Ranglisten des Populären zum Ausdruck kommen) auf der Firmenseite mit den Anforderungen von Konkurrenz und Massenherstellung bzw. der beabsichtigten Erzielung von Skalenvorteilen in Zusammenhang bringen – und auf der Kundenseite etwa mit der Reduzierung von Auswahlunsicherheiten (aktuell dazu Schenk 2021). Sie lässt sich ebenfalls grundsätzlich leicht von Anhängern der Kulturindustrie-Kritik Adornos (Kap. 4), des Hegemonie-Konzepts aus Reihen der Cultural Studies (Kap. 7) und der Öffentlichkeitstheorie Habermasʼ (Kap. 6) benutzen. Sie alle können Hinweise zur quantitativen Behauptung des Populären problemlos bei ihren Zeitdiagnosen und Analysen in kritischer Absicht berücksichtigen.

Umgekehrt ist das freilich nicht unmittelbar möglich, weil die hier vorgestellte Theorie des Populären wichtige Befunde und Begriffe dieser Richtungen nicht teilt oder verwendet. Insgesamt geht sie vorsichtiger (oder nach anderer Lesart: beschränkt) vor. Sie verwirft deshalb auch nicht die genannten Ansätze, sondern übernimmt viele ihrer Anregungen, die für eine Analyse der quantitativen Behauptung des Populären von Bedeutung sind (besonders die Leitlinie, die präsentierten Zahlen und Ranglisten des Populären nicht mit einer ‚nüchternen Darstellung der Wirklichkeit‘ zu verwechseln, sondern sie hauptsächlich als Instrument, diese zu gestalten, anzusehen).

Zudem behindert sie keineswegs Untersuchungen zu populärem Wissen (Kap. 2), zu Fans (Kap. 10), zu sozialer Ungleichheit (Kap. 1.2) und deren Legitimation sowie zur Kultur von Machtlosen (Kap. 1.2; Kap. 2). Sie sperrt sich lediglich dagegen, solche Überlegungen und Analysen (stets) unter dem Titel des ‚Populären‘ bzw. der ‚populären Kultur‘ laufen zu lassen. Solch eine Begriffsverwendung knüpft nolens volens an die traditionelle Verwendung des ‚Volk‘-Begriffs an, die den ‚niederen Schichten‘ bindend schlechten Geschmack etc. unterstellt. Selbst wenn die Wertung ins Positive gewendet wird, bleibt die Identifizierung von ‚populär‘ mit Nicht-Gebildeten, Subalternen bzw. ‚Einfachem‘, ‚Eingängigem‘, ‚Authentischem‘ etc. erhalten. Diesen Begriffsgebrauch möchte die hier vorgebrachte Theorie des Populären unbedingt vermeiden. Sie schlägt vor, die genannten Untersuchungen in anderem Rahmen durchzuführen, etwa im Rahmen von Analysen zur ‚proletarischen Kultur‘, zu ‚Fans‘, zu ‚Subalternen‘ etc. (nicht aber dem zur ‚Populärkultur‘ o. Ä.).

Darum definiert sie Populäres als das, was viele beachten. Woraus diese Vielen sich zusammensetzen und was von ihnen beachtet wird, bleibt demnach unbestimmt und folglich der Überprüfung durch historische Analysen überlassen. Deshalb ist von vornherein keineswegs ausgeschlossen, dass z. B. auch aus den ‚Mittelschichten‘ Populäres hervorgeht oder ‚Komplexes‘ populär wird – es ist aber nicht eingeschlossen bzw. vorausgesetzt. Was populär wird, bleibt offen (wenn dies auch mindestens partiell bestimmten – veränderlichen, deshalb historisch zu untersuchenden – Einschränkungen unterliegt).

Aufgabe der Wissenschaften kann es ebenfalls sein, jeweils festzustellen, was populär war. Dabei darf sie keinesfalls einfach die kursierenden Angaben übernehmen, sondern muss sie überprüfen. Mit Blick auf solche kursierenden Angaben – einzelne Wahlergebnisse, Ranglisten des Populären – ist es ihre weitere Aufgabe, systematisch wie historiografisch herauszuarbeiten, ob (und wenn ja, auf welche Weise) mit diesen Angaben das Populäre im mehrfachen Wortsinn behauptet wurde. Sie könnte im Anschluss daran eigene Ranglisten vorlegen, um z. B. jenen Charts, die lediglich Kaufakte bilanzieren, Listen von populären Rezeptionsakten an die Seite zu stellen oder entgegenzuhalten. Sie würde in diesem Fall mit den Kaufcharts um Beachtung konkurrieren.

Die hier vorgestellte Theorie des Populären überlässt es auch recht weitgehend den einzelnen Wissenschaften, jeweils zu bestimmen, ab welcher größeren Menge etwas als populär eingestuft werden sollte. Sie drängt nur darauf, dass etwas, das nur in einer relativ kleinen Gruppe bzw. insgesamt wenig populär ist, nicht berücksichtigt wird. Ausgeschlossen werden soll, dass Comics, Popmusikstücke, Influencer-Videos etc., die bloß eine mäßige Beachtung erfahren, im Rahmen von Untersuchungen zum Populären analysiert werden (es spricht natürlich nichts dagegen, sie in anderem Zusammenhang zu betrachten). Die Tradition, durchweg alle Comics, Popmusikstücke, Influencer-Videos der ‚populären Kultur‘ zuzurechnen, sollte ein Ende finden. Anders pointiert: Vermieden werden soll etwa, dass unter dem Zeichen des Populären (weiterhin) das untersucht wird, was zu den ‚subkulturellen‘, ‚subversiven‘, ‚avancierten‘, ‚ästhetischen‘, aber nur von wenigen geteilten Vorlieben des jeweiligen Wissenschaftlers gehört. Die hier vorgebrachte Definition des Populären eröffnet den Weg bzw. legt nahe, u. a. Anna Todd (Kap. 10), Pandorya (Kap. 9), Modern Talking, Horoskope, Helmut Schmidt zu untersuchen.

Geringe Vorgaben ergehen ebenfalls mit Blick auf die Art und Weise, welche Modi bei der Erfassung des Populären berücksichtigt werden müssen. Mit Bedacht wird nur auf die ‚Beachtung‘ verwiesen. Es ist gemäß dieser Definition nicht nötig, dass eine kreative Aneignung, eine bewusste Auseinandersetzung, eine hohe oder kontemplative Aufmerksamkeit (Kap. 3) gegeben ist, damit etwas zum Populären geschlagen wird (wenn es in großer Zahl vorliegt). Ausgeschlossen wird es aber keinesfalls, denn all dies geht mit Beachtung einher.

Die Konzentration auf ‚Beachtung‘ weicht von der geläufigen Definition ab (www.duden.de zu einer wichtigen Bedeutung von ‚populär‘: „bei sehr vielen bekannt und beliebt“ [Duden 2023]). Dieser Kunstgriff wird vorgenommen, um auch das, was bei vielen unbeliebt ist und gerade deshalb Beachtung findet, in Untersuchungen des Populären aufnehmen zu können. Dass etwas viel beachtet wird und zugleich weit überwiegend beliebt ist, wird dadurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Es bedarf wiederum besonderer Analysen, um die jeweiligen Verhältnisse herauszufinden.

Legt man nur die Aussagen der letzten sieben Absätze zugrunde, lässt sich wahrscheinlich wenig Kritisches gegen die hier vorgeschlagene Theorie des Populären einwenden. ‚Positivistisch‘ (Kap. 4) ist sie zweifellos nicht. Sie statuiert weder, dass z. B. Charts und Meinungsumfragen ‚objektive‘ und/oder ‚wertvolle‘ Ergebnisse lieferten, noch, dass die als populär behaupteten Phänomene ‚gut‘ seien oder immer ‚populär‘ bleiben müssten.

Sie bezweifelt bloß nicht, dass Angaben zu Wahlergebnissen richtig bzw. wahr sein könnten. Welche Angaben das sind (etwa dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Menge x eine TV-Sendung eingeschaltet oder ein Kästchen bei einer Meinungsumfrage oder einen Kreis bei einer Bundestagswahl angekreuzt hat), überlässt sie zur Beantwortung besonderen Untersuchungen.

Zudem übernimmt sie nicht den Standpunkt, dass quantitative Angaben zu Wahlakten wertlos oder ein Indikator des Schlechten seien. Ihre nicht von vornherein negative (aber auch nicht affirmative) Stellung zu solchen Phänomenen übersetzt sie sich darum lediglich – um das mit Nachdruck zu wiederholen – in den Auftrag, genau zu untersuchen, wie die Behauptungen des quantitativ Populären zustande kommen.

Sicher könnte man dennoch unverändert darauf bestehen, dass es unbedingt notwendig sei, den Begriff ‚populär‘ nicht mit der äußerst gängigen Bedeutung ‚von vielen beachtet‘ zu versehen, sondern (auch) kleine Szenen, wenig gesehene TV-Sendungen, kaum bekannte ‚populistische‘ Politiker etc. als Teil der ‚populären Kultur‘ einzuordnen. Im strikten Sinne widerlegen kann man eine Definition aber nicht, man kann nur versuchen, eine andere attraktiv zu machen.

Zu den wichtigsten herkömmlichen Mitteln, solche Attraktivität zu erweisen, gehört es, die Wirklichkeitsnähe einer Theorie hervorzuheben. Kulturgeschichtlich fällt es leicht, den Nachweis zu erbringen, dass Verweise auf eine große Zahl an Wahlakten bereits frühzeitig erfolgten – selbstverständlich keineswegs zwangsläufig aus dem Grund, um etwas zu legitimieren, sondern auch (oder gerade), um die Minderwertigkeit von etwas herauszustellen.

Die hier vorgestellte Theorie geht aber darüber hinaus. Sie ist (wenn auch nicht auf eine unauflösliche Art und Weise) mit einer Gegenwartsdiagnose verbunden. Diese sieht die Behauptung des Populären durch sehr viele unterschiedliche Arten, gezählte Beachtung zu vermelden, auszustellen und recht häufig wirkungsvoll zu etablieren, zumindest in Nordamerika und weiten Teilen Europas seit einigen Jahrzehnten in hohem Maße verwirklicht.

Dies bedeutet natürlich nicht, dass z. B. alle Charts immer eine gleichbleibende Bedeutung besäßen bzw. selbst Popularität erzielten; die Popmusikcharts etwa haben zuerst durch das Formatradio und später durch Anbieter wie Spotify an Beachtung verloren. Auch ist nach wie vor auffällig, dass sich selbst in der ökonomischen Sphäre nicht wenige Firmen und Akteure keineswegs nur an Ranglisten des Populären orientieren, sondern auch oder allein an anderen Rankings (Kap. 11).

Durch Internetseiten wie die von Amazon finden sich freilich mittlerweile ungemein viele Konsumgüterprodukte in öffentlich gemachte Ranglisten des Populären einsortiert (was zuvor hauptsächlich CDs, Büchern, Filmen vorbehalten war). Selbst das publik gemachte und rasch vom vernetzten Computer aus käuflich erwerbbare, riesige Angebot des ‚long tail‘ (das sich dort z. B. als einzelne Ware auf Platz 77, 187, 1043, 267.895 oder 1.345.289 findet) hat bislang nicht auf breiterer Front dazu geführt, die Popularität der ausgewiesenen ‚Spitzenreiter‘ zu verringern und die geringe Popularität der übrigen Einheiten zu steigern (Benghozi und Benhamou 2010; Tan et al. 2017). Gleiches gilt auch für viele Bereiche, in denen nicht (nur) die landesweiten oder gar internationalen ‚Top Ten‘, sondern dem Social-Media-Nutzer u. a. oder vor allem sog. ‚personalisierte‘ Elemente (Unternährer 2021) algorithmisch angezeigt werden.

Dennoch ist es ein hoch bedeutsamer Umstand, dass populäre Social-Media-Seiten wie YouTube, Instagram, Facebook, TikTok gar nicht oder kaum mit veröffentlichen Ranglisten des Populären arbeiten. Offenkundig sind sie zu dem Schluss gekommen, dass es nicht gelingen kann, den Nutzer sehr lange auf der Seite zu halten, wenn ihm hauptsächlich solche Ranglisten bzw. deren ‚Top Ten‘ oder ‚Top Fifty‘ angeboten werden, obwohl sie nun in äußerst rasch aktualisierter und differenziert ausgestalteter Form vorliegen (könnten).

Allerdings zeigen die Social-Media-Plattformen a) eine immense Fülle an einzelnen Wahlergebnissen an, sodass es b) Drittanbietern und vor allem auch den jeweiligen Usern sehr leicht möglich ist, jederzeit eine eigene hierarchische Komparatistik vorzunehmen. Eine Wendung gegen die quantitative Behauptung des Populären sieht fraglos anders aus.

Zudem darf nicht aus dem Blick verloren werden, dass im Sinne des hier vorgelegten Ansatzes auch die publizierten Ergebnisse von Meinungsumfragen, Einschaltquotenmessungen, politischen Wahlen etc. zum Populären zählen. Insgesamt dürfte darum der Realitätsgehalt dieser Theorie des Populären ebenso außer Frage stehen wie ihre Bedeutung für die Beschreibung der zeitgenössischen Wirklichkeit.

Außer Frage steht jedoch auch, dass mit dem hier vorgelegten Ansatz keinerlei Begriffe, Hypothesen und Kausalzusammenhänge offeriert werden, die einem helfen könnten, im Einzelnen das zu untersuchen, was jeweils als ‚populär‘ quantitativ behauptet worden ist (Kap. 5). Dies mag man kritisch sehen oder gar als Armutszeugnis betrachten. Zu ändern ist das nicht. Es ist erzwungen von der These, dass nicht ein für alle Mal feststeht, was als Wahlergebnis und in den Ranglisten des Populären auf den vorderen Plätzen genannt wird.