Reinhard Heydrich: "Der kultivierte Nazi ist ein Mythos" - WELT
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Literatur Reinhard Heydrich

"Der kultivierte Nazi ist ein Mythos"

Chefkorrespondent
Zehn Jahre lang hat sich der französische Schriftsteller Laurent Binet mit Gestapo-Chef Reinhard Heydrich beschäftigt. Jetzt erscheint "HHhH" auf Deutsch.

Für jemanden, der zehn Jahre seines Lebens mit Leben und Verbrechen Reinhard Heydrichs verbracht hat, wirkt Laurent Binet ziemlich entspannt und lebensfroh. In einem blauen Twingo fährt der 39-Jährige rasant am Treffpunkt an der Porte Saint Cloud vor und parkt pariserisch in dritter Reihe. „Steigen Sie ein, wir fahren zu mir“, ruft er. Fünf Minuten später sitzen wir in seiner kleinen Wohnung, die randvoll ist mit Büchern, Prag-Fotos und einem Poster der Rockband „Stalingrad“. Binet war ihr Sänger. Für seinen Roman "HHhH" (Himmlers Hirn heißt Heydrich), wurde er 2010 mit dem Prix Concourt du Premier Roman ausgezeichnet.

Welt Online : Das Attentat, das die Widerstandskämpfer Jan Kubis, ein Tschechoslowake, und Jozef Gabcík, ein Slowake, im Mai 1942 auf Reinhard Heydrich verübten, den Reichsprotektor der Nationalsozialisten in Prag, ist für einen französischen Autor Ihrer Generation nicht unbedingt ein naheliegendes Buchthema. Wie sind Sie auf den Stoff gestoßen?

Laurent Binet : Ich bin 1996 während meines Militärdienstes sieben Monate in die Slowakei gegangen, um dort als Lehrer zu arbeiten. Ich wusste nicht viel über das Land, ich kannte nur ein paar Fußballer wie Lubomir Moravcík, der in Frankreich gespielt hatte, oder den Tennisspieler Miloslav Mecír. Aber mein Vater, der Geschichtslehrer war, hatte mir von dem Attentat auf Heydrich erzählt. Also begann ich zu recherchieren.

Welt Online : Als Sie in die Slowakei kamen, haben Sie also gleich mit den Recherchen begonnen?

Binet : Nein, das war ein längerer Weg. Am Anfang spürte ich eine gewisse Neugierde für kuriose Details: Die Sten-Maschinenpistole, die in dem Moment Ladehemmung hatte, als Jozef Gabcík auf Heydrich schießen wollte; das Ende der Geschichte, als sich die Attentäter in der Kirche Sankt Cyrill und Method gegen Hunderte SS-Leute verteidigten und man sie mithilfe der Feuerwehr in der Krypta zu ertränken versuchte. Das hat mich sehr beschäftigt. Aber der Auslöser war letztlich, als ich ein, zwei Jahre später zum ersten Mal die Kirche in Prag sah. Die Einschusslöcher im Mauerwerk, die Reste des Tunnels, den die Attentäter noch zu graben versucht hatten. Das hat mich sehr bewegt. In diesem Moment habe ich mir gesagt: „Du musst diese Geschichte erzählen.“

Welt Online : Ihr Roman wird durchzogen von der Stimme des Erzählers, der sich die ganze Zeit die Frage stellt, ob es möglich ist, diese Geschichte zu erzählen. War dieser Kommentar von Anfang an geplant?

Binet : Ich stand vor dem Problem: Wie kann man eine wahre Geschichte erzählen? Und ich wollte dem Leser über diese Auseinandersetzung Rechenschaft ablegen. Ich stand vielleicht auch noch unter dem Einfluss meines vorherigen Buchs, das war das Tagebuch eines Lehrers. In gewisser Weise habe ich das Rezept beibehalten: kurze Kapitel mit Interventionen des Autors. Es ist auch kein Zufall, dass der erste Autor, den ich in meinem Buch erwähne, Milan Kundera ist. Denn die Metalepse ist eine Stilfigur, die mir bei Kundera immer gefallen hat.

Welt Online : Man merkt Ihrem Erzähler an, wie sehr ihm daran gelegen ist, kleine Geschichten zu „retten“, Namen wenigstens zu erwähnen.

Binet : Ja, absolut. Alle diese Geschichten, die man nicht mehr kennt, faszinieren mich. Wenn ich manche Namen nur in ein paar Zeilen erwähne, dann halte ich damit anderen Autoren eine Strickleiter hin und hoffe, dass sie die annehmen – und die Geschichte erzählen. Jetzt hat ein französischer Sportjournalist die Geschichte vom Widerstand der Fußballmannschaft von Dynamo Kiew aufgegriffen, die ich in „HHhH“ erwähne. Er macht einen Film darüber.

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Welt Online : Sie liefern in Ihrem Buch eine pointierte Kritik von Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ , dessen Skandalerfolg mitten in die Phase fiel, da Sie an Ihrem Buch arbeiteten. Littell ist für Sie „Houellebecq bei den Nazis“. Sie kritisieren, dass Littells Protagonist Max Aue nicht so sehr die Mentalität der Nazis, sondern den Nihilismus unserer Zeit verkörpere. Wie kommen Sie darauf?

Binet : Claude Lanzmann hat über „Die Wohlgesinnten“ etwas gesagt, das ich sehr treffend fand: Er fand, das Buch habe gewisse Qualitäten, aber die „überbordende Psychologisierung“ hat ihn gestört. Für mich ist das noch eine euphemistische Formulierung (lacht). Ich habe allgemein den psychologischen Roman ein wenig satt. Was Littell betrifft, der nutzt vor allem ein Stilmittel, das ich mir strikt untersagt habe: den inneren Monolog. Es gibt zwar sicherlich einige Meisterwerke der Literatur, die innere Monologe verwenden, aber sobald man sich an ein historisches Sujet wagt, finde ich das unehrlich. Mir wäre es schwergefallen, Tote zum Sprechen zu bringen. Ich fühle mich nicht in der Lage, mich in den Kopf eines anderen hineinzuversetzen, der so weit von mir entfernt ist. Egal, ob es sich um Heydrich oder um seine Attentäter handelt. Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, aus politischen Gründen sein Leben aufs Spiel zu setzen. Das habe ich noch nie probiert. Vielleicht gibt es Leute, die in der Lage sind, dies zu vollbringen. Littell reproduziert das Klischee vom kultivierten Nazi, der Kant liest. Aber diese Klischees entstammen eher einer Mythologie, welche die Nazis selbst produziert haben, als der Realität. Die Realität waren eine Million SA-Mitglieder, die brutale Bestien waren, degenerierte Halbadelige wie Göring oder Leute, die nicht besonders gebildet waren, wie Himmler oder Hitler. Wer einer Figur wie Max Aue noch am ehesten entspricht, ist Heydrich. Das macht ihn besonders, aber selbst wenn er dem Klischee nahe kommt – er war kein Intellektueller. Er hatte ein bisschen Nietzsche gelesen, wie alle anderen, und schlecht verstanden.

Welt Online : Das heißt aber, Sie haben in Ihren Recherchen durchaus einige Beobachtungen über die Psychologie der Nazis gemacht, selbst wenn Sie sich nicht erlauben, diese in den Roman fließen zu lassen?

Binet : Ja, ich glaube, dass die Durchschnittspsyche des Nazis eine Mischung aus Zynismus und Fanatismus ist. Aber ich ziehe es vor, dem Leser einige objektive Elemente zu liefern, damit er sich selbst ein Bild machen kann. Ich konzentriere mich auf die Handlungen. Manchmal kann man natürlich nicht verhindern, sich Fragen zu stellen. Aber der Rückgriff auf den inneren Monolog ist schon ein brutaler Übergriff auf das Bewusstsein des Lesers. Da ziehe ich es vor, ihm gelegentlich meine eigenen Fragen mitzuteilen. Das führt dann zu jenen Kapiteln, wo ich mich frage, was die Figur in einer bestimmten Situation wohl gedacht haben könnte. Da riskiere ich dann manchmal, mir vorzustellen, was etwa Heydrich angesichts einer bestimmten Situation hätte denken können. Aber ich mache es sehr selten, und ich greife nicht auf dieses Mittel der direkten Gedankenübertragung zurück, die der innere Monolog letztlich ist. Ich hielt es für nötig, deutlich zu machen, dass ich es war, der sich die Frage stellte, und es absolut nicht sicher war, dass Heydrich in diesem Moment das gedacht hat.

Welt Online : Wenn man an einem derart schweren und auch deprimierenden Sujet lange arbeitet, wie verändert sich das eigene Verhältnis zum Thema? Gab es Perioden, wo es Ihnen zu viel war?

Binet : Ja, vielleicht habe ich auch deshalb zehn Jahre gebraucht, um das zu schreiben, und nicht nur wegen der aufwendigen Recherchen. Das lag vielleicht auch daran, dass es ein bisschen zu heftig gewesen wäre, mich dem Thema hundertprozentig zu widmen. Es gab schon Momente, wo mir das Thema zu Kopf gestiegen war und ich befürchtete, zu Heydrich zu werden (lacht). Da merkte ich dann, dass es eine leichte Überdosis war. Gleichzeitig hatte ich einen Wissensdurst, der größer wurde. Jedes Buch regte mich an, mindestens drei weitere zu lesen. Aber irgendwann musste ich mich bremsen, denn mir wurde klar, dass ein Leben nicht ausreichen würde, um alles über diese Geschichte zu erfahren. Das ist wie bei jeder anderen Geschichte.

Welt Online : Nachdem Sie sich zehn Jahre lang mit diesem Thema befasst hatten: Haben Sie heute das Gefühl, diese Verirrung in der Menschheitsgeschichte besser zu verstehen? Oder landen auch Sie immer wieder bei der Frage: „Wie konnte das passieren?“

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Binet : Sagen wir, im Laufe meiner Recherchen habe ich ein paar Hypothesen zusammengetragen, aber ich habe keine definitive Antwort. Ich habe den Eindruck, dass sie auch sonst niemand gefunden hat. Aber ich beobachte, wie die Geschichtsschreibung Fortschritte macht – und dann wieder hinter diese zurückgeht. Man glaubte eine Weile, der Nationalsozialismus sei das ultimative Paradox: totale Barbarei – hervorgegangen aus extremen Kultiviertheit. Aber das war eben nicht so einfach. Die Nazis waren nicht so kultiviert, sie waren mehrheitlich keine preußischen Aristokraten in Führungspositionen. Die haben mitgemacht und das zugelassen, aber die Kultur, welche diese Barbarei zugelassen hat, ist nicht dieselbe wie jene, die sie hervorgebracht hat. Darüber wird weiter nachgedacht werden müssen.

Laurent Binet: „HHhH“. Aus dem Französischen von Mayela Gerhardt. Rowohlt Verlag. 448 S., 19,95 Euro .

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