KULTUR
Rainer Maria Rilke (1875 � 1926): Therapie durch Dichtung
Auf dem Weg zu seinem inneren Gleichgewicht avancierte die Literatur zu einem Medium der eigenen Befreiung. Am 29. Dezember vor 90 Jahren starb der Dichter.
Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben hei�t; fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Mu� ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. [�]� (1). F�r ihren Adressaten waren Die Briefe an einen jungen Dichter Ratschlag; f�r ihren Verfasser Selbstvergewisserung. Am 4. Dezember 1875 wurde er als Ren� Maria Rilke in Prag geboren. Die Rolle die ihm zugedacht war: �der Wiedergeborene�.
Rilkes Mutter weigerte sich, seine Geschlechtszugeh�rigkeit zu akzeptieren, betrachtete ihn als Ersatz f�r die zuvor verstorbene Tochter und erzog und kleidete ihn �wie ein kleines M�dchen� (2). 1885, auf Wunsch des Vaters in das raue Leben der Milit�r-Unterrealschule St. P�lten entlassen, verbrachte der den Anforderungen einer solchen Ausbildung nicht gewachsene Junge die meiste Zeit �geistig vergr�mt� auf der Krankenstation. Gleichzeitig �entwickelte sich zu jener Zeit der Trieb zu dichten�. Denn nur die Lyrik (Resignation, Die Waise) �verschaffte� ihm �schon in seinen kindlichen Anf�ngen Trost� (3). �Die Bew�ltigung von fernsten, dunkelsten Kindererinnerungen� (4) begann im Sommer 1897. Mittels Prosa und Drama (Das Familienfest, Ewald Tragy, Generationen) �ber krankmachende Mutter-Sohn-Beziehungen in einer von innerer Leere gepr�gten Kindheit setzte Rilke sich mit der eigenen Biografie auseinander. In der ganzen Konsequenz zeigte sich der eingeleitete Prozess der pers�nlichen und k�nstlerischen Selbstfindung des Dichters in dessen Namens�nderung: Ren� wurde zu Rainer. �Und das alles geschah, weil ich Dir begegnen durfte, [�]� (5).
Geliebte Lou Andreas-Salom�
Die in Petersburg aufgewachsene Schriftstellerin Lou Andreas-Salom� (1861�1937), eine der ersten weiblichen Studierenden an der Universit�t Z�rich, NietzscheFreundin und -Biografin, galt aufgrund ihrer Intellektualit�t, aber vor allem ihrer Liebesaff�ren in der zeitgen�ssischen Gesellschaft als schillernde Pers�nlichkeit. Mit ihrer schriftstellerischen Arbeit ging stets der Versuch einer Bew�ltigung von Lebensfragen einher. Demnach war sie bestrebt, auch Rilke �auf einen so ganz bestimmten Weg der Gesundheit unerm�dlich hin(zuweisen)� (6), und best�rkte ihn darin, sich vollst�ndig der Kunst zu widmen. Vice versa waren es die pers�nliche Beziehung zu �u�erst begabten, hochsensiblen und psychisch labilen Menschen (zuvor Nietzsche und R�e) und �das Miterleben der Au�erordentlichkeit und Seltenheit des Seelenschicksals eines Einzelnen� (7), die ihr den Weg zur Freud�schen Tiefenpsychologie weisen sollten. Nach ihrer Begegnung brach der 22-J�hrige sein Studium in M�nchen ab und folgte der Geliebten nach Berlin. Fortan widmeten sie sich gemeinsam kunsthistorischen und philosophischen Studien und der eigenen schriftstellerischen Arbeit. Lou regte ihn an, tagebuchartig seine Beobachtungen und Reflektionen niederzuschreiben (Florenzer Tagebuch, 1898; Schmargendorfer Tagebuch, 1899). Verse und Szenen, Novellen und Skizzen in neuem Stil entstanden sowie die Lou gewidmeten Liebesgedichte (Dir zur Feier, 1897�1900). Die vier Jahre andauernde Liebesbeziehung mit der 15 Jahre �lteren Frau war f�r den �junge(n) Rainer� � zu diesem Zeitpunkt noch nicht der �zukunftsvoll gro�e Dichter, der er werden sollte� (8) � ein Befreiungsschlag. Gleichzeitig offenbarte sich die Abh�ngigkeit Rilkes, der, gepr�gt von Selbstzweifeln und Sehnsucht, stets auf der Suche war nach emotionalem Halt. Lou f�hlte sich zusehends eingeengt und war �damit R. fortging, [�] einer Brutalit�t f�hig� (9). In einem als Letzter Zuruf betitelten Brief k�ndigte sie ihm die lebenswichtig gewordene Gewohnheit des �Allesmiteinanderteilens� auf. Gleichzeitig musste er erfahren, dass ihre Bereitschaft, �da� ich immer wieder mich von Dir an Deine Seite zur�ckziehen lieߓ, einem Rat des psychiatrisch erfahrenen Arztes Dr. Pineles geschuldet war, und ausschlie�lich in therapeutischer Absicht geschah. �Das was Du und ich den �Andern� in Dir nannten, � diesen bald deprimierten, bald excitirten, einst Allzufurchtsamen, dann Allzuhingerissenen, � das war ein ihm wohlbekannter und unheimlicher Gesell, der das Seelische krankhafte fortf�hren kann [�] in�s Geisteskranke.� Jedoch: �Ich f�hlte: Du w�rdest genesen, wenn Du nur standhieltest!� (10)
Isolation und Selbstzweifel
�Wie ist es m�glich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns v�llig unfa�bar sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzul�nglich, im Entschlie�en unsicher und dem Tode gegen�ber unf�hig sind, [�]� (11). Diese Frage treibt den fiktiven Ich-Erz�hler in �Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge� am Schauplatz Paris um. Am Rande des Existenzminimums, isoliert von seinen Mitmenschen, gequ�lt von �ngsten vor Krankheit sowie Zweifeln an seinen dichterischen F�higkeiten, sind die vielf�ltigen Sinneseindr�cke der franz�sischen Metropole f�r ihn kaum zu ertragen. Schreibend versucht sich der hochsensible 28-j�hrige Malte seiner selbst zu versichern; sucht in Kindheitserinnerungen die Ursachen f�r seine Verzweiflung, in fremden Biografien nach Deutungsmustern f�r die eigene Existenz. Doch dieses Selbst, das dem Romanprotagonisten Halt und Orientierung bietet, bleibt stets ein tempor�res. Auch sein Sch�pfer erkannte: �Nur in den (so seltenen) Arbeitstagen werde ich wirklich, bin, nehme Raum ein wie ein Ding [�]. Aber immer wieder, nach solchen Stunden des Eingef�gtseins, bin ich der fortgeworfene Stein, der so m��ig ist, da� das Gras des Nichtsthuns Zeit hat auf ihm lang zu werden� (12). Rilke war bereits seit April 1901 mit der Malerin Clara Westhoff (1878�1954) aus der K�nstlerkolonie Westerworde verheiratet und Vater einer Tochter. F�r seine Weiterentwicklung bedurfte es jedoch einer mit den famili�ren Bed�rfnissen unvereinbaren Form von Einsamkeit. Zudem gelang es ihm nicht, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, und gab unbewusst die Leiderfahrung der eigenen Kindheit, den Schmerz der emotionalen Verlassenheit, an sie weiter. Auch materielle Not belastete und zwang ihn zur Annahme von Auftragsarbeiten. Paris, wo er eine Abhandlung �ber den Bildhauer Auguste Rodin schrieb, ist ihm �[�] sehr, sehr fremd�, ihn ��ngstigen die vielen Hospit�ler, [�] Heere von Kranken, Armeen von Sterbenden� (13). Rilkes Sensibilit�t dem von anderen empfundenen Schmerz gegen�ber, das Gef�hl, in Mitleidenschaft gezogen zu werden � �Es ri� mich aus mir heraus in ihr Leben hinein, [�], durch alle ihre beladenen Leben (hindurch)� (14) � zwang ihn, diese Empathie aus sich herauszustellen und in Dichtung (Buch der Bilder, 1902; Das Stundenbuch III � Das Buch von der Armut und vom Tode, 1905; Neue Gedichte,1907; Malte, 1910) zu verwandeln.
Auf diese Ver�ffentlichungen folgte bei Rilke, inzwischen als bedeutender Dichter anerkannt, eine jahrelange Schaffenskrise. Sein Zustand, eine alle Lebensbereiche ergreifende Verunsicherung und Unzufriedenheit, war so extrem, dass er 1912 ernsthaft �ber eine psychoanalytische Behandlung nachdachte und Kontakt mit Viktor Emil Freiherr von Gebsattel aufnahm. Lou Andreas-Salom�, die gerade am Ersten Psychoanalytischen Kongress in Weimar teilgenommen hatte, und sich zur Praktikerin ausbilden lie�, riet ihm jedoch ab. Erkannte sie doch die Gefahr, dass die Therapie zum k�nstlerischen Verstummen f�hren w�rde. Sp�ter nahm auch Rilke aus demselben Grunde hiervon Abstand und betrachtete vielmehr seine Dichtung als �eine Art Selbstbehandlung�, auf die er �mit zehn, zw�lf Jahren schon [�] gekommen� (15) war. Seine Anstrengungen, einen neuen dichterischen Zugriff auf die Welt zu finden, gipfelten in seinem bedeutendsten lyrischen Werk, das ihn zehn Jahre lang besch�ftigten sollte. �Was ich hervorbringen durfte, dazu haben alle Elemente meines Daseins [�] in unbeschreiblicher Gleichgesinnheit zusammengewirkt; Geist, K�rper, Seele � [�] und die Leistung ergab sich jedesmal an einem geheimnisvollen H�hepunkt ihrer Eintracht� (16). An die Stelle der d�steren Grundstimmung vergangener Jahre trat bei Rilke ein nie gekanntes Gl�cksgef�hl, eine neue Anschauung auf die Welt mit dem Ziel, das Leben zu bejahen, die Welt zu r�hmen. In den Duineser Elegien fand er Antwort auf die Frage, warum das Leben des Menschen sinnvoll und wertvoll sei: nicht weil es immer gl�cklich, aber immer einzigartig ist � �Hiersein ist herrlich.� (17)
Sandra Kr�mer
8. Februar 1924. In: L�ck R (Hg.): Rainer Maria Rilke. Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. 2 B�nde. Frankfurt a. M. 1977. Bd. 2; 966.
Gesamtdarstellungen: Freedman R: Rainer Maria Rilke. Band 1: Der junge Dichter 1875–1906. Aus dem Amerikanischen von Curdin Ebneter. Frankfurt a. M. u. a. 2001/Ders.: Rainer Maria Rilke. Band 2: Der Meister 1906–1926. Aus dem Amerikanischen von Curdin Ebneter. Frankfurt
a. M. u. a. 2002/Martens G, Post-Martens A: Rainer Maria Rilke. Reinbek b. Hamburg 2008/ Nalewski H (Hg.): Rilke. Leben, Werk und Zeit in Texten und Bildern. Frankfurt a. M. u. a. 1992 / Schank St: Rainer Maria Rilke. M�nchen 1998.