Wenn Walter jetzt hier wäre, da säße, wo jetzt Rainer Bock sitzt in diesem Berliner Hotelfoyer, hätte das Aufnahmegerät nicht viel zu tun gehabt. Walter ist der Möbelpacker, den Rainer Bock spielt, in David Nawraths Gentrifizierungsfamilienthriller „Atlas“. Walter ist ein Schweiger, einer, der sich unsichtbar macht, sich totstellt aus Gründen.
Rainer Bock ist Walters glattes Gegenteil. Walter, sagt Rainer Bock, das habe ihn so gereizt, ist von „meiner Persönlichkeit, von meinem sozialen Umfeld so ganz weit weg“. Bock ist einer, der das Unsichtbare sichtbar macht.
Einer, der – durch einen messerscharfen Blick, ein Drehen des Kopfes, ein bedrohliches Runzeln – in Minuten ein Mindestmaß von Text in lebende Menschen verwandelt, die Aggregatzustände ihrer Psyche herausspielt. So, dass sie aus dem Hintergrund einer Geschichte herauswachsen, nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen.
Mehr als Minuten hatte er selten. In Michael Hanekes „Weißem Band“, in Christian Petzolds „Barbara“, in „Inglourious Basterds“, in Spielbergs „Gefährten“, etwas mehr als deutscher Chemielaboringenieur in „Better Call Saul“ und zuletzt als Marinekommandant im „Boot“. Bock hat es zum international anerkannten Meister im Kurzstreckenschauspiel gebracht.
Das erste Mal
„Atlas“ ist das erste Mal, dass sein Spiel einen (Kino-)Film trägt. Walter ist in beinahe jeder Szene zu sehen. Alles kreist um ihn. Walter ist Angestellter eines Entrümpelungsunternehmens in Frankfurt, das sich spezialisiert hat auf das Warmentmieten für einen kurdischen Clanchef. Sie lösen Wohnungen auf, in denen noch Mieter leben.
Walter war Gewichtheber. Er schleppt dreimal mehr weg als die Jungen, sagt sein Chef, der einzige Viertelfreund, den er hat. Wenn er abends in seine kahle Wohnung kommt, legt er sich auf den Boden, um seinen schmerzgeplagten Körper zu kühlen.
Walter duckt sich, dreht sich weg. Manchmal hört man ihn schwer atmen, hört, was es ihn kostet, seine Gefühle zu unterdrücken, sein „Kraftfeld“ (Bock). Früher hat das nicht geklappt. Da hat er Polizisten krankenhausreif geschlagen. Da ist die Ehe zerbrochen. Da hat er den Sohn verloren.
Er fürchtet, dafür könnte er belangt werden. In die Scheiße will er nicht wieder. Dann steht er in der Reihe seiner Kollegen in einem leergeräumten Haus, in dem nur noch eine Familie wohnt, einem Mann gegenüber, der sein Sohn sein muss.
Erstmal Muckibude
David Nawrath hat seine Entmietungsbelegschaft nicht zum Praktikum in ein Umzugsunternehmen geschickt. Anders als Thomas Stuber, für dessen anderen großen deutschen Kleineangestelltefilm, das Supermarktgabelstaplerliebesdrama „In den Gängen“, Peter Kurth und Franz Rogowski Gabelstaplerführerscheine machen mussten.
Rainer Bock – der ein großartiger Menschenbeobachter ist, ein Sätzesammler, ein Gestenzusammenträger – hat, sobald er daheim in München ein Umzugsunternehmen bei der Arbeit sah, „den diskreten Fußgänger markiert, der hört, wie geredet wird, wie geguckt, wie getragen wird, wie der Umgang miteinander ist“.
Und er war, sagt er, ein Dreivierteljahr „in der Muckibude, um meinen bis dahin doch sehr erschlafften Oberkörper wieder in Form zu bringen“. Bock bewegt sich beängstigend anders als sonst durch diesen Film. Die Feinheit seines Spiels hat die Muskelspannung nicht verändert.
Bock, dessen Antrieb, sagt er, Menschenliebe ist und der Wille, Geschichten zu erzählen, ist ein Spieler, in jeglicher Hinsicht. „Den Bock“, hat Brian de Palma, in dessen Erotikthriller „Passion“ Bock ein Inspektor war, gesagt, „kann man alles spielen lassen.“
Bloß keine Monologe
Monologe hat er immer gehasst. Schon auf dem Theater. Schon bei Shakespeare. „Spielen“, sagt er, „wird eigentlich erst dann interessant, wenn man einen Partner hat, jemandem gegenübersteht, der auf einmal was völlig Ungeplantes tut. Und man darauf reagieren muss.“ Deswegen, und wegen Kollegen wie Uwe Preuss, Nina Gummich, Roman Kanonik, Thorsten Merten und Albrecht Schuch, sei die Arbeit an Nawraths Ensemblefilm so ein Genuss gewesen.
Bis Bock Schauspieler wurde, hat er mehr Umwege genommen als fast jeder andere. 1954 geboren in Kiel. Sein Vater hatte Buchhändler werden wollen, bevor er von seinem Onkel in dessen Sackgroßhandlung zitiert wurde, die er später übernahm. Vielleicht daher die Langmut über den kurvigen Lebensweg des Sohnes.
Der war ein, sagt er, „widerspenstiger Schüler“. Die Vorstellung, direkt nach der Schule auf die Universität zu gehen, war ihm ein Graus. Außerdem wollte er Meeresbiologe werden, was aber angesichts seiner Mathe-, Physik- und Chemieschwäche jahrelanger Nachhilfe bedurft hätte.
So wurde er erst mal nichts. Jobbte, fuhr Säcke durch die Gegend und zu den Raiffeisenfilialen in Norddeutschland, was einerseits keine ganz schlechte Vorbereitung für „Atlas“ war und andererseits seine lebenslange Liebe zum Norden begründete (einmal im Jahr muss der naturalisierte Münchner nach Sylt, sonst geht’s ihm schlecht).
Im Anti-AKW-Dorf
Er gab sich, sagt er, der Spielsucht hin, bekam es in den Griff. Dann kam die Anti-AKW-Bewegung. Bock machte „eine klassische Apo-Polit-Karriere“, lebte im Anti-AKW-Dorf in Grohnde. Bis die 200 Protestler von 4000 Polizisten abgeräumt wurden. „Es hatte eine große politische Kraft, dieses Dorf“, sagt Bock. Es waren die späten Siebziger.
Kleiner Exkurs in die Gegenwart. Die Schülerproteste kann er verstehen. Auch den Vorwurf, seine Generation habe zu wenig getan für den Umweltschutz. Im Moment, sagt er, „gibt’s zum Glück auch eine inhaltliche Kehrtwende und eine etwas größere Rigorosität in dem, was verlangt wird, dass man fast wieder Hoffnung haben könnte.“
Er selbst schämt sich, nicht weiter aktiv zu sein. Wird immer wieder angefragt, doch an Veranstaltungen teilzunehmen. Verweigert sich aber, weil ihn „Parteistallgeruch von Haus aus nervös macht“.
Weil Bock damals panische Angst vor Gefängnis und Psychiatrie hatte, bog er ein weiteres Mal ab. Und gründete mit Karl-Heinrich Effinghausen, einem seiner schwulen Freunde, ein Café nach dem Vorbild des Berliner „Café Lila“.
Urszene bei den Bocks
So etwas gab es nicht in Kiel. Weiße Wände, Kuchenbuffet, Frühstückskarte, grüne Palmen, Kleinkunst, diverses Publikum. Hatten sie auf ihren Wochenendtrips mit dem VW Bus über die alte B5 in West-Berlin kennengelernt.
Als der unstete Sohn das Café verkaufte, zu dem der Vater den Anschubkredit gegeben hatte, kam es im Wohnzimmer der Bocks zu einer Urszene. Die beiden Eltern in ihren Sesseln, der Sohn mit dem Rücken zu ihnen am Fenster. „Ich schaute raus und sagte: ,Ich wollte euch übrigens nur sagen, als Nächstes gehe ich auf die Schauspielschule.‘
Totenstille. In meiner verklärten Erinnerung höre ich meine Mutter in ihrer Blechschachtel nach ihren Tabletten fingern. Und mein Vater sagte nach einer unendlichen Pause: ,Wenn du das machst, geb’ ich dir 400 Mark im Monat dazu.‘“
Geschichte einer Verspätung
Den Rest könnte man als Geschichte einer Verspätung erzählen. Mit Ende zwanzig auf die Schauspielschule. Ochsentour durch die Theaterprovinz. Kiel, Schleswig, Heidelberg, Mannheim. Dann Stuttgart und München. Als ihm in München der Intendant Martin Kusej kündigt und er kein festes Theaterengagement mehr hat, geht die Filmkarriere los.
Fünfzig ist er, als er bei Jo Baiers „Stauffenberg“ mitspielt. Fünf Jahre später ist er General Schönherr in Tarantinos „Inglourious Basterds“ und der finstere Dorfarzt bei Michael Haneke. Das ist der Durchbruch. Bock dreht im Durchschnitt fünf, sechs Filme im Jahr. Immer wieder fiese Typen mit messerscharfen Blicken, die sich infolge seiner schauspielerischen Fürsorge psychologisch auffälteln.
Es ist schön, dass man weiß, wie böse er gucken kann. Es ist noch schöner, dass er es normalerweise nicht tut. Solange man nicht fragt, ob er jetzt eine Stasi-Nazi-Pause einlegt. Da verlässt er die Komfortzone seiner Ausgeglichenheit. Es zwinge ihn ja keiner in die Uniformen.
Es ist, sagt er, „mein ganz klitzekleiner Beitrag für eine Form, nennen Sie’s Wiedergutmachung. Ich kann nichts wiedergutmachen, aber ich kann meinen Beitrag dazu leisten, sich weiter mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, die wir haben.“