26. Juli: Philipp Scheidemann - Demokratiegeschichten
Demokratiegeschichten

26. Juli: Philipp Scheidemann

„Das Alte und Morsche ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!“

Mit diesen Worten verkündet Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Balkon des Reichstagsgebäudes in Berlin aus die Republik. Noch heute, über 100 Jahre später, erinnern sie uns an den Beginn der ersten gesamtdeutschen Demokratie.

Doch was lässt sich über den Mann sagen, der diese Worte gesprochen hat?

Philipp Scheidemann – die frühen Jahre

Philipp Heinrich Scheidemann wird am 26. Juli 1865 in Kassel geboren. Er wächst in einer Handwerkerfamilie auf, sein Vater ist Tapezierer- und Polstermeister. Nach dem Schulabschluss beginnt er eine Ausbildung zum Schriftsetzer und Buchdrucker, die er 1883 abschließt. Noch im selben Jahr tritt er in die Buchdruckergewerkschaft und in die zu diesem Zeitpunkt verbotene SPD (damals noch Sozialistische Arbeiterpartei) ein. Seine Gründe dafür gibt er später wie folgt an:

„Nach acht Uhr kam ich wieder in die elterliche Wohnung, nach einer effektiven Dienstzeit von zwölf Stunden am ersten Lehrtage. Bei diesen zwölf Stunden blieb es nicht leider nicht, denn mit der später erfolgten Zuweisung in die Zeitungssetzerei wurde die Arbeitszeit noch viel ungeregelter, auf jeden Fall länger. Hinzu kam die regelmäßige Arbeit am Sonntag. Einen Schutz für Arbeiter gab es damals ebenso wenig, wie ein Gewerbegericht, Betriebsräte oder Erwerbslosenversicherung.“

Auszug aus „Ich bin der neue Stift“, Unbekannte Tageszeitung, unbekanntes Datum, SPD-Parteiarchiv.

Zwar gibt es 1883 noch keinen staatlich organisierten Arbeitsschutz. Doch die Stimmen, die dies fordern, werden lauter. Und die Gewerkschaften und die Arbeiterpartei fordern dies am lautesten. Ein Grund für viele Arbeiter:innen, ihnen beizutreten.

1890 wird das Verbot der SPD schließlich aufgehoben. Im selben Jahr erringt die Partei ihren ersten Wahlsieg.

Die sozialdemokratischen Reichtagsabgeordneten im Jahr 1889. Ein Jahr später verdreifachte sich ihre Zahl. © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

Politischer Aufstieg

Bis 1895 arbeitet Scheidemann im Druck, dann beginnt er, für sozialdemokratische Zeitungen zu arbeiten. Als Redakteur ist er zuerst für die Mitteldeutsche Sonntagszeitung, dann für die Fränkische Tagespost in Nürnberg, das Offenbacher Abendblatt sowie das Casseler Volksblatt tätig.

Ein hohes politisches Amt nimmt er erstmals 1903 ein: Für den Wahlkreis Düsseldorf zieht er in den Reichstag des Kaiserreichs ein. Bei den Wahlen 1907 und 1912 gelingt im die Wiederholung des Erfolgs. Und 1912 erfolgt ein weiterer Höhepunkt: Als erster Sozialdemokrat wird Scheidemann zum Vizepräsidenten des Reichstags gewählt. Das Amt tritt er jedoch nicht an – Scheidemann verweigert den Antrittsbesuch beim Kaiser. Ein Affront, der mit der Ausübung des Amts nicht vereinbar ist.

Ein Jahr später trifft ein Schicksalsschlag die SPD. August Bebel, Gründer und langjähriger Vorsitzender der Sozialdemokratie, stirbt. Nach dem Tod des Vorsitzenden übernehmen Scheidemann und sein Parteigenosse Hugo Haase den Vorsitz der Fraktion.

Scheidemann im Ersten Weltkrieg

In den folgenden Jahren war Scheidemann nicht in der Lage, sein Amt voll auszufüllen und auszuführen. Der Erste Weltkrieg machte „Alltagspolitik“ unmöglich.

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“

Wilhelm II.

Auch die SPD schließt sich (größtenteils) dem vom Kaiser proklamierten „Burgfrieden“ an. Im Angesicht von äußeren Bedrohungen sollen innere Konflikte beigelegt werden. Wenige Tage vor Kriegsausbruch hatte die SPD noch Friedensdemonstrationen organisiert. Das ändert sich mit Kriegsbeginn, viele Kriegsgegner:innen in der SPD wechseln die Seiten. Einerseits wollen viele von ihnen nicht länger als „vaterlandslose Gesellen“ dastehen und ihren Patriotismus zeigen. Andererseits wird auch an der SPD das sogenannte „August-Erlebnis„, die Euphorie in der Bevölkerung bei Kriegsbeginn, nicht spurlos vorangegangen sein.

Propagandfoto: Deutsche Soldaten aus Eisenbahnwaggon winkend, August 1914; Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1994-022-19A / Tellgmann, Oscar / CC-BY-SA.

Erst in den nächsten Monaten bilden sich wieder kritische Gegenstimmen heraus. Scheidemann selbst vertritt in den Kriegsjahren eine Position zwischen rechtem und linken Flügel seiner Partei. Er erhofft sich nach Kriegsende einen Verständigungsfrieden, in dem es weder zu Gebietsannexionen noch zu Kriegsentschädigungen kommen soll.

Spätestens 1918 ist für die Generäle absehbar, dass das Kaiserreich den Krieg nicht gewinnen kann. Die Lage an der Front ist aussichtslos, viele der Soldaten und der Bürger:innen sind längst kriegsmüde. Soziale Missstände verstärken den Druck auf die Politik weiter.

Scheidemann bleibt die Kriegsjahre über SPD-Fraktionsvorsitzender, im Juni 1918 wird er dann tatsächlich Vizepräsident des Reichstages. Im Oktober bildet sich die erste parlamentarische Reichsregierung unter Reichskanzler Prinz Max von Baden. Der politische Druck ist zu groß, Veränderungen müssen her. Scheidemann wird Staatssekretär des Kabinetts.

Das neu gebildete Kabinett kann allerdings nicht verhindern, dass im November in Wilhelmshaven und Kiel aus die Revolution ausbricht. Binnen weniger Tage bilden sich Arbeiter- und Soldatenräte. Im gesamten Reich gehen Menschen für das Ende des Kriegs und einen politischen Neubeginn auf die Straße.

Gründung der Republik

Ausrufung der Republik am 9. November 1918: Philipp Scheidemann spricht vom Westbalkon des Reichstagsgebäudes aus; Foto: gemeinfrei.

Am 9. November 1918 erklärt Reichskanzler Max von Baden die Abdankung des Kaisers. Dies ist nicht mit Wilhelm II. abgesprochen, doch zwei Tage später verlässt er das Reich und geht ins Exil in die Niederlande.

Nach der Verkündung der Abdankung legt Scheidemann gemeinsam mit anderen sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern sein Amt als Staatssekretär nieder. Kurze Zeit später schlägt dann seine große Stunde: Gegen 14 Uhr ruft er vom Balkon des Reichstags die deutsche Republik aus. Damit kommt er Karl Liebknecht um zwei Stunden zuvor, der von einem Balkon des Berliner Schlosses die „freie sozialistische Republik“ verkündet.

Während der Revolutionsphase wird Scheidemann Mitglied des Rates der Volksbeauftragten, in dem er insbesondere für die Finanzpolitik zuständig ist. Als provisorische Regierung fungiert der Rat bis zur Berufung der neuen Regierung im Februar 1919 und gestaltet den Übergang vom Kaiserreich zur Republik.

Politiker in der Weimarer Republik

Im Januar 1919 wird Scheidemann in die Weimarer Nationalversammlung gewählt. Bei der Wahl zum Reichspräsidenten unterliegt er jedoch seinem Parteikollegen Friedrich Ebert. Allerdings beauftragt Ebert ihn mit der Regierungsbildung, Scheidemann wird Reichsministerpräsident.

Erste Kabinettssitzung der neuen deutschen Reichsregierung unter Scheidemann am 13.2.1919 in Weimar; Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R08282 / CC-BY-SA 3.0.

Lange übt er dieses Amt nicht aus. Scheidemann kann die Bedingung des Versailler Vertrags nicht akzeptieren und spricht sich gegen seine Unterzeichnung aus.

„Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns diese Fessel legt?“

Scheidemann über die Unterzeichnung des Versailler Vertrags.

Die Mehrheit der SPD ist allerdings für die Unterzeichnung, daraufhin tritt Scheidemann zurück.

Politik nach dem Rücktritt

Zwar nimmt Scheidemann in der Reichsregierung keine hohen Posten mehr ein, doch engagiert er sich weiter stark in der Politik. Von 1919 bis 1925 ist er Oberbürgermeister in Kassel. Auch sein Reichstagsmandat behält Scheidemann bis 1933. Er tritt weiterhin offensiv für seine Überzeugungen ein.

So kritisiert er beispielsweise nach dem Kapp-Putsch den Umgang der SPD-Regierung mit Republikfeinden. Er wirft ihr vor, letztere nicht aus der Reichswehr ausgeschlossen zu haben. Desweiteren fordert er eine starke Trennung zwischen Regierungs- und Parteipolitik, um eine Abhängigkeit zwischen beiden zu vermeiden.

Attentat auf Scheidemann

Als populärer Politiker und Anhänger der Weimarer Republik ist Scheidemann ihren Gegner verhasst. In den frühen 1920er Jahren kommt es zu einigen Anschlägen auf Repräsentanten der Weimarer Republik, etwa auf Außenminister Walther Rathenau. Im Juni 1922 verüben Mitglieder der Organisation Consul auch ein Attentat auf Scheidemann. Sie spritzen ihm Blausäure ins Gesicht, können ihn jedoch nicht schwerer verletzten. Ab diesem Zeitpunkt trägt Scheidemann eine Pistole mit sich herum.

Exil nach 1933

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernehmen, emigriert Scheidemann. Als einer der bekanntesten und führenden Sozialdemokraten muss er mit Verfolgung rechnen. Wenige Tage nach dem Reichstagsbrand flieht er nach Salzburg, von dort aus über mehrere Stationen und Jahre (bis 1935) nach Dänemark. Schon 1933 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.

In Dänemark veröffentlicht er unter einem Pseudonym seine Beobachtungen und Einschätzungen über die Lage in Deutschland. Zurück nach Deutschland reist er nicht mehr.

Grab von Philipp Scheidemann auf dem Hauptfriedhof Kassel; Foto: XenonX3.

Am 29. November 1939, wenige Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, verstirbt Philipp Scheidemann in Kopenhagen. Seine Worte, die die Weimarer Republik einläuteten, sind bis heute unvergessen.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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