Scheidemann: "Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?"
Ministerpräsident Scheidemann plädiert vor der Nationalversammlung in einer emotionalen Rede für die Ablehnung der Friedensbedingungen. In diesem Kontext fällt auch sein berühmter Ausspruch von der "verdorrenden Hand". Wie bereits in der Verhandlungsstrategie des Außenministers Brockdorff-Rantzau in Versailles sichtbar wurde, sorgt die Emotionalisierung der Debatte dafür, dass rationallen Argumenten wenig Raum bleibt. Wie Scheidemann das von ihm geforderte Konzept eines sittlichen "Arbeitsfrieden" angesichts der äußerst schwachen Verhandlungsposition Deutschlands umsetzen möchte, bleibt sein Geheimnis. Scheidemanns Ausführungen darüber, dass Deutschland so oder so einen harten Frieden unterzeichnen müsse, gehen in seiner übrigen Polemik unter.
Volltext:
Meine Damen und Herren! Die Deutsche Nationalversammlung ist heute zusammengetreten, um am Wendepunkt im Dasein unseres Volks gemeinsam mit der Reichsregierung Stellung zu nehmen zu dem, was unsere Gegner Friedensbedingungen nennen. [...]
Meine Damen und Herren! Überall in Berlin hängt das Plakat, das für unsere armen Brüder in der Gefangenschaft werktätige Liebe wachrufen will: traurige, hoffnungslose Gesichter hinter Gefängnisgittern. Das ist das richtige Titelbild für diesen sogenannten Friedensvertrag;
(lebhafte Zustimmung.)
das ist das getreue Abbild von der Zukunft Deutschlands! 60 Millionen hinter Stacheldraht und Kerkergittern, 60 Millionen bei der Zwangsarbeit, denen die Feinde das eigene Land zum Gefangenenlager machen!
Ich kann Ihnen aus dem unglaublich feinen Gitterwerk, mit dem uns Luft und Licht, mit dem uns jeder Ausblick auf Erlösung verhängt und versagt werden soll, - ich kann Ihnen aus diesem Gitterwerk nicht jedes Stäbchen vorführen. Bei genauerem Zusehen entdeckt man immer wieder eine Schlinge, in der sich die Hand verfängt, die sich in die Freiheit hinausstrecken will. Sie haben nichts vergessen und wohl nur hinzugelernt, was Vernichtung, was Zerstörung heißt.
Lassen Sie mich außerhalb unserer Grenzen beginnen. Deutschland wird, wenn diese Bedingungen angenommen würden, nichts mehr sein eigen nennen, was außerhalb dieser seiner verengten Grenzen liegt. Die Kolonien verschwinden; alle Rechte aus staatlichen oder privaten Verträgen, alle Konzessionen oder Kapitulationen, alle Abkommen über Konsulargerichtsbarkeit oder ähnliches – alles, alles verschwindet! Deutschland hat im Ausland aufgehört zu existieren. […]
Das ist das Kerkerbild nach der einen Seite, dem Ausland zu: ohne Schiffe – denn unsere Handelsflotte geht in die Hände der Entente über, ohne Kabel, ohne Kolonien, ohne ausländische Niederlassungen, ohne Gegenseitigkeit und Rechtsschutz, ja selbst ohne das Recht, mitzuwirken bei der Festsetzung der Preise für die von uns als Tribut zu liefernden Waren, für Kohle, pharmazeutische Artikel usw. – ich frage Sie: wer kann als ehrlicher Mann, ich will gar nicht sagen als Deutscher, nur als ehrlicher vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?
(Lebhafter Beifall.)
Und dabei sollen wir die Hände regen, sollen arbeiten, die Sklavenschichten für das internationale Kapital, Frondienste für die ganze Welt leisten? Den Handel im Ausland, die einstige Quelle unseres Wohlstandes zerschlägt man und macht man uns unmöglich.
[…]
Wir haben Gegenvorschläge gemacht, wir werden noch weitere machen. Wir sehen, mit Ihrem Einverständnis, unsere heilige Aufgabe darin, zu Verhandlungen zu kommen. Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar!
(Minutenlanger brausender Beifall im Hause und auf den Tribünen. -
Die Versammlung erhebt sich. -
Erneutes stürmisches Bravo und Händeklatschen)
[...]
Würde dieser Vertrag wirklich unterschrieben, so wäre es nicht Deutschlands Leiche allein, die auf dem Schlachtfelde von Versailles liegen bleibe. Daneben würden als ebenso edle Leichen liegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unabhängigkeit freier Nationen, der Glaube an all die schönen Ideale, unter deren Banner die Entente zu fechten vorgab, und vor allem der Glaube an die Vertragstreue.
(Lebhafte Zustimmung.)
Eine Verwilderung der sittlichen und moralischen Begriffe, das wäre die Folge eines solchen Vertrages von Versailles, das Signal für den Anbruch einer Zeit, in der wieder, wie vier Jahre lang, nur heimtückischer, grausamer, feiger, die Nation das mörderische Opfer der Nation, der Mensch des Menschen Wolf wäre.
Wir wissen es und wollen es ehrlich tragen, daß dieser kommende Friede für uns ein harter sein wird. Wir weichen nicht um Fadens Breite von dem zurück, was unsere Pflicht ist, was wir zugesagt haben, was wir ertragen müssen. Aber nur ein Vertrag, der gehalten werden kann, ein Vertrag, der uns am Leben läßt, der uns das Leben als unser einziges Kapital zur Arbeit und zur Wiedergutmachung läßt, nur ein solcher Vertrag kann die Welt wieder aufbauen.
(Lebhafter Beifall und Zustimmung.)
Solchem Vertrag unsere Unterschrift! Seinen Bestimmungen unsere Treue! Seinen Auflagen all unsere Kraft und Arbeit!
Nicht der Krieg, sondern dieser harte, kasteiende Arbeitsfriede wird das Stahlbad für unser aufs tiefste geschwächte Volk sein!
(Lebhafte Zustimmung.)
Der Arbeitsfriede ist unser Ziel und unsere Hoffnung. Durch ihn können wir den berechtigten Forderungen unserer Gegner gerecht werden, durch ihn allein aber auch unser Volk wieder zu völliger Gesundung führen. Wir müssen von der Niederlage und den Krankheiten der Niederlage gesunden, ebenso wie unsere Gegner von den Krankheiten des Sieges! [...]
Gewiß: Wehe denen, die den Krieg heraufbeschworen haben! Aber dreimal wehe über die, die heute einen wahrhaften Frieden auch nur um einen Tag verzögern!
(Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)
Quelle:
Stenographische Berichte der Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung, 39. Sitzung, 12. Mai 1919, S. 1082-1084.
In: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000011_00353.html.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Scheidemann#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1979-122-29A,_Philipp_Scheidemann.jpg