Am Freitag, dem 5. Januar, um 11 Uhr, wird Wolfgang Schäuble in Offenburg beigesetzt. Den öffentlichen Trauergottesdienst in der evangelischen Stadtkirche gestaltet die evangelische Landesbischöfin Heike Springhart. Das SWR-Fernsehen überträgt die Trauerfeier live im Fernsehen. Aus diesem Anlass finden Sie hier den Nachruf von Peter-Michael Diestel, dem letzten Innenminister der DDR.
Wolfgang Schäuble war für mich, solange ich politisch denken kann, ein ständig präsenter Faktor in der deutschen Politik. Vor drei Tagen sprach ich mit Egon Krenz über Wolfgang Schäuble. Krenz teilte mir mit, dass Schäuble schon als Staatskanzleichef in den 80er-Jahren ein agiler Gesprächspartner bei deutsch-deutschen Gesprächen war.
Ich habe Wolfgang Schäuble Ende Januar 1990 während eines Parteitages der DSU (der Deutschen Sozialen Union) in der Leipziger Oper kennengelernt. Ich war Generalsekretär dieser neuen Partei. Für uns in der DSU war Schäuble schon damals das Gehirn der CDU. Wolfgang Schäuble saß neben mir. Wir hatten über zwei Stunden Zeit, uns gedanklich auszutauschen – wie das eben so ist, wenn man im Präsidium sitzt. Ich habe ihn als neugierig erlebt – und das auf angenehme Weise. Außerdem habe ich ihn zu keinem Zeitpunkt als besserwisserischen Westpolitiker wahrgenommen.
Wenn man ihn beobachtet hat, erkannte man ganz schnell seinen messerscharfen Verstand, einen Verstand, der Angst machen konnte. Alles, was wir in den Gesprächen, die letztendlich auch zur deutschen Einheit geführt haben, besprochen hatten, fand auch so statt, wie Schäuble es versprochen hatte. Mein Gesprächspartner hat mich bewegt. Ich habe einen solchen präzise analytisch denkenden Menschen nie mehr kennenlernen dürfen.
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Übermenschliche Kraft
Plötzlich wurde ich Anfang April 1990 stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister für die Zeit der deutschen Wiedervereinigung. Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister, war mein direkter Gesprächspartner für die Dinge, die noch vor uns liegen sollten. Drei Tage nach meiner Berufung in diese beiden Ämter verabredeten wir uns zu Ostern im Jahr 1990 in Bonn und führten erste Gespräche. Ich kann mich noch sehr an die eigentümliche Atmosphäre erinnern, vor allem an die Neugier der ihn umgebenen Oberhäuptlinge der bundesdeutschen Nachrichtendienste, für die Schäuble zuständig war. Was diese Männer von mir, dem Geheimdienstminister, wissen wollten, war hochinteressant.
Einer dieser Herren gab mir einen kleinen Zettel mit den besten Wünschen für den Nachhauseweg. Diesen Zettel habe ich heute noch. Auf dem Blatt Papier waren, glaube ich, acht Namen höchstkarätiger Geheimdienstler aus dem Osten notiert, mit denen die Westbeamten in Kontakt treten wollten. Mir und Schäuble ist es gelungen, die ungleichen Ergebnisse aus der Zeit des Kalten Krieges so zu gestalten, dass sie den Prozess der Wiedervereinigung nicht störten.
Es gab sehr viel Neues aus der ursprünglich gegeneinander gerichteten geheimdienstlichen Arbeit zu klären, Unterschiede zwischen Ost und West, die nivelliert werden mussten. Einmal, aber wirklich nur einmal erklärte mir Wolfgang Schäuble, dass ich den Bundeskanzler Helmut Kohl nicht „bösgläubig“ machen dürfte. Ich kannte diesen Begriff nicht, aber Wolfgang Schäuble hat ihn mir erklärt. Wir hatten anfangs völlig übereinstimmende Auffassungen, wie mit dem nachrichtendienstlichen Erbe der DDR, den Stasi-Unterlagen usw. umzugehen ist.
Unsere Rechtsauffassungen waren hier identisch. Dies hat sich jedoch später geändert, als man von westlicher Seite sowohl die Brisanz als auch die Kraft für Totschlagargumente in den Stasi-Akten erkannte. Wir haben uns dann später häufig wieder getroffen, in der Regel zu den Geburtstagen unseres gemeinsamen Freundes Lothar de Maizière. Unsere Gespräche waren immer angenehm, ich habe Schäuble mit Bewunderung zugehört. Meine Bewunderung für ihn hatte ihren Ursprung in seiner übermenschlichen Kraft: jener Kraft, mit der er sein schweres Los getragen hat. Schäuble war für mich so stark, dass ich gar kein Mitleid mit ihm hatte, denn ich empfand ihn immer als den Stärkeren. Sein Fleiß, seine Präzision und seine Fähigkeit, analytisch und zugleich juristisch zu denken, habe ich bewundert.
Wolfgang Schäuble war nicht mein Freund
Mit Wolfgang Schäuble ist das Gehirn der CDU gegangen. Es wäre schön, wenn Verstand und Gehirn nachwachsende Rohstoffe wären. Wolfgang Schäuble ist mit Sicherheit für die vielen Erfolge der CDU nach der Wende in Deutschland verantwortlich, aber auch für die Misserfolge und damit für die fast vollständige Ausgrenzung ostdeutscher Persönlichkeiten aus der Führung des gesellschaftlichen Lebens dieser Republik. Wolfgang Schäuble war nicht mein Freund – wir respektierten uns. Es ist schön, dass mich nie jemand gefragt hat, ob ich traurig war, als ich von seinem Tod erfahren habe. Ich habe geweint.
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