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Privat ist privat

Kurzvisite am Taj Mahal: Helmut und Hannelore Kohl im Jahr 1986 Kurzvisite am Taj Mahal: Helmut und Hannelore Kohl im Jahr 1986
Kurzvisite am Taj Mahal: Helmut und Hannelore Kohl im Jahr 1986
Quelle: PA/dpa
Lange sah es so aus, als seien der Privatmann Kohl und seine Familie ein Musterbeispiel dafür, dass ein Leben in der Spitzenpolitik normal ablaufen kann. Später kam eine junge Frau, die ihn wirklich zu verstehen schien.

Helmut Kohls Privatleben? So etwas geht eigentlich niemanden etwas an. Aber dann kam der Freitod Hannelore Kohls, es kam Helmut Kohls zweite Ehe, und mit diesen Ereignissen kamen Mutmaßungen, Erklärungen, boshafte oder wohlmeinende Darstellungen und schließlich die Bücher. Die Familie hat das Thema auf eine Weise behandelt und öffentlich gemacht, die von den einen wegen der Offenheit bewundert, von anderen aus demselben Grund als grotesk empfunden wird.

Helmut Kohls ältester Sohn Walter schilderte Anfang 2011 seine Sicht der Dinge.

Walter Kohl äußert sich zum Tod seines Vaters

Nach dem Tod von Altkanzler Helmut Kohl zeigt sich sein Sohn tief betroffen. Der Kontakt zu großen Teilen der Familie war vor längerer Zeit abgebrochen. Es kam nie zu einer Versöhnung.

Quelle: N24


Der langjährige Memoiren-Ghostwriter Heribert Schwan folgte wenige Monate später mit einer Biografie Hannelore Kohls. Kohls jüngerer Sohn Peter ergänzte die Neuauflage einer älteren Lebensbeschreibung der Mutter mit einem Vorwort, das sich streckenweise wie die Notizen zu einem zweiten Buddenbrooks-Roman liest. Schwan, Kohl und die Söhne verstrickten sich in Prozesse. Manche der Widersacher gingen in Talkshows oder gaben Interviews.


Und so gibt es nun die haarsträubende Lage, dass zum Beispiel über Hannelore Kohls Flucht aus Leipzig je nach Fundort Folgendes zu lesen ist: Sie sei als Zwölfjährige damals im Chaos unglücklich gestürzt und habe deshalb zeitlebens Rückenprobleme gehabt; sie sei von russischen Soldaten vergewaltigt und anschließend aus einem Fenster geworfen worden; Helmut Kohl habe von der Vergewaltigung nichts gewusst; Helmut Kohl habe von ihr durchaus gewusst, aber den Eindruck erweckt, als bezweifle er den Wahrheitsgehalt; die Familie Kohl habe die Tragödie nicht nur gekannt, sondern auch vermutet, Hannelore Kohls Mutter habe ihre Tochter den Soldaten preisgegeben, um selber verschont zu bleiben.

Was soll jemand, der diese so trost- wie pietätlosen Widersprüche vorgesetzt bekommt, damit anfangen? Wie soll man in einem derartig verbissenen Ringen um die Charakterisierung des angeblich „wirklichen Helmut Kohl“ jemals herausfinden, was den Tatsachen entspricht und was nicht?

Zu Gast in Talkshows: Peter (l.) und Walter Kohl
Zu Gast in Talkshows: Peter (l.) und Walter Kohl
Quelle: dpa


Das Ringen wird wohl noch geraume Zeit so weitergehen und vielleicht sogar an Heftigkeit zunehmen. Jeder in diesem Deutungskampf beansprucht eine von niemandem geteilte Vertrautheit mit Helmut oder Hannelore Kohl. Jeder will nicht nur eine bestimmte Interpretation durchsetzen, sondern auch seine persönliche Ehre wahren, und oft diejenige Helmut oder Hannelore Kohls. Die Söhne sehen das ganz gewiss so, Maike Kohl-Richter ebenfalls und das Nichtfamilienmitglied Heribert Schwan mit Blick auf seine berufliche Reputation offenkundig auch.

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Dabei gerieten Dinge in die Öffentlichkeit, die sonst nie publik geworden wären. Peter Kohl hat in einem Buch geschrieben, die Liebesbeziehung seines Vaters zu Maike Richter habe womöglich vor dem Freitod Hannelore Kohls begonnen. Das haben manche vermutet; aber das waren Überlegungen von Menschen, die auch sonst vieles vermuten. Es ist etwas ganz anderes, wenn es plötzlich eine gewissermaßen familienoffizielle Bestätigung gibt – aber eben nicht unumstößlich, sondern auch wieder nur als raunende Andeutung.

Der Sohn schreibt nicht: Ich habe das damals gesehen. Er schreibt: Ich habe von meinem Bruder gehört, dass es sich so verhalten haben soll; er wiederum hat es ebenfalls gehört, von einem „engsten Vertrauten“ Helmut Kohls. Es ist offen, was genau dieser Vertraute erfahren hatte und von wem. Darum bleibt der gesamte Vorgang streng genommen Hörensagen, wenn auch keineswegs unplausibel.

Entspannte Familienatmosphäre

Die ganze hässliche Fehde kam für die Öffentlichkeit überraschend. Lange Zeit sah es so aus, als seien der Privatmann Kohl und seine Familie ein Musterbeispiel dafür, dass ein Leben an der Spitze der Politik normal ablaufen kann – soweit das angesichts der Zwänge und auch Bedrohungen möglich ist. Dieser Eindruck herrschte keineswegs nur bei Zeitungslesern. Jemand, der vor 1989 privat in Kohls Haus war, der Söhne wegen, erlebte eine unaufgeregte, sehr entspannte Familienatmosphäre – Jahrzehnte bevor diese Zeit nun als Doppelleben und Fassadenharmonie präsentiert wird. „Schlänglein“, sagte Kohl 2001, war für seine Frau ihr wichtigster und liebster Kosename. Mit „Dein Schlänglein“ unterzeichnete sie im Juli 2001 ihren Abschiedsbrief. (Heribert Schwan sagte in einem Interview: Sie hat Schlangen gehasst.) Es gibt Überraschungen im Leben. Aber Vorsicht ist am Platz.

Helmut Kohl war ein Familientier. Bei vielen Menschen in Führungspositionen gibt es verfeindete oder entfremdete Geschwister, bei Kohl nicht. Seine acht Jahre ältere, im September 2003 gestorbene Schwester Hildegard hat bis zur Spendenaffäre das Rampenlicht zwar systematisch gemieden. Aber dann warf sie sich für ihren Bruder öffentlich in die Bresche. Helmut Kohl hat fast keinen Familientag seiner weit verzweigten Familie ausgelassen, auch nicht in angespannten politischen Lagen. Davon erfuhr die Presse nichts. Obwohl auch diese Treffen politisch werden konnten, wie alles bei Helmut Kohl. Mit einem Vetter aus dem bayerischen Kitzingen, schreibt Heribert Schwan, habe er 1976 den Einmarsch der CDU in Bayern durchgespielt, als die CSU die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag aufgekündigt hatte.

Im Grünen: Familie Kohl im Jahr 1981 am Wolfgangsee
Im Grünen: Familie Kohl im Jahr 1981 am Wolfgangsee
Quelle: pa/Heinz Wiesele/dpa


Als ein Mitglied der Verwandtschaft zeitweise in Bonn wohnte, gab es natürlich Kontakt. Das wäre ein fabelhafter Anlass für die üblichen Gerüchte gewesen. Kohl war es gleichgültig. Sollen die Schwätzer der Bundeshauptstadt doch reden. Kohl nahm 1960 auch selbstverständlich seine Schwiegermutter im Haus auf – bis zu ihrem Tod 1980. Das war keineswegs ein Beweis privater Herrschsucht, im Gegenteil. Helmut Kohl brachte ein Opfer. Denn bevor die Familie später den größeren Bungalow in Ludwigshafen bezog, verzichtete er für Irene Renner auf ohnehin beengten Platz. Ein ehrgeiziger Familientyrann inmitten seiner entscheidenden Aufstiegskämpfe hätte auf einem Arbeitszimmer bestanden und die Schwiegermutter ins Altenheim einziehen lassen.

Auf den Familientagen frönte der Zooliebhaber Kohl einer seiner heimlichen privaten Leidenschaften, der Fachsimpelei über Landwirtschaft und Tiere. Kohls Vater stammte aus einer Landwirtschaftsfamilie in Unterfranken, die Familie der Mutter aus einer Bauernfamilie in der Pfalz, genauso wie Hannelore Kohls Vater Wilhelm Renner. Kohls Vater Hans ging mit 14 Jahren von der Schule ab, denn die wirklich nicht reiche Familie hatte ein schweres Schicksal. Sieben von elf Kindern starben vor dem zehnten Geburtstag. Hans wollte Geld verdienen. Er wurde nach einer Müllerlehre Berufssoldat. Als Oberleutnant erlebte er den Zusammenbruch seiner Welt; in der Republik war er ein gewissenhafter Finanzbeamter.

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Helmut Kohls Mutter Cäcilie Schnur war die Tochter eines sehr angesehenen Ludwigshafener Volksschullehrers und Organisten. Noch 40 Jahre nach dessen Tod kamen die Schüler bei einem runden Geburtstag zu Gedenkfeiern zusammen. Kohls Familie war von religiösen und auch von gesellschaftlichen Traditionen in mancher Hinsicht sehr geprägt. Als Kohl in der Spendenaffäre sein Ehrenwort gab, niemals Geld für sich privat abgezweigt zu haben, sagte seine Schwester: „Unser Vater war bereits preußischer Offizier im Ersten Weltkrieg. Sie können sich wohl vorstellen, was in unserer Familie ein Ehrenwort bedeutet.“

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Der Geruch von Heu, Getreide, von Ställen, Tieren und überhaupt der Natur faszinierte Kohl. Mit sechs Jahren kam er in den Sommerferien zum ersten Mal auf den Hof seiner fränkischen Verwandtschaft. Dorthin reiste er dann jedes Jahr bis 1941. Die letzten beiden Eisenbahnfahrten durfte er mit zehn und elf Jahren allein absolvieren. Zum ersten Mal wie ein Erwachsener unterwegs!

Im Krieg züchtete Helmut Kohl Kaninchen und Seidenraupen. Die Raupen brachten Geld, denn die Seide wurde vom NS-Staat für Rüstungszwecke aufgekauft. Bauern hatten im Krieg auch leidlich zu essen. Im Juli 1945, als die Brotration im französisch besetzten Ludwigshafen auf 200 Gramm im Monat sank, beschloss Kohl, Landwirt zu werden. Das war in der Hungerzeit so verlockend wie heute die Vorstellung, als Start-up-Unternehmer zu Wohlstand zu kommen.

Hannelore, ein kaum zu unterschätzender Faktor

Kohl wurde kein Landwirt. Sein größtes Freizeitvergnügen aber wurden Wanderungen durch Wald und Flur, entweder im Pfälzer Wald oder im Odenwald. Das Ziel waren immer Klöster oder Gasthöfe. Zusammen mit den Sommerurlauben im Salzkammergut und der Osterkur in Tirol zeigen seine Vergnügen einen erdverwurzelten Menschen, dem man noch als Bundeskanzler mit zwei Dingen große Freude machen konnte – mit Holzspielzeug zum Beispiel und mit Büchern zur Geschichte.

Der Vater: Helmut Kohl mit Walter (l.) und Peter
Der Vater: Helmut Kohl mit Walter (l.) und Peter
Quelle: IMAGO


Kohls Wissensdurst war unersättlich und ohne jede ideologische Scheu. Unmittelbar nach dem Krieg war er in zwei private Debattenkreise geraten, bei einem Mitbegründer der Ludwigshafener CDU und bei seinem Mathematiklehrer, einem Kommunisten, der später in die SBZ ging. Als Bundeskanzler verschlang er nachts Geschichtswerke und Biografien und machte sich die Freude, die Verfasser privat anzurufen. Oft zu deren großer Verblüffung.

Hannelore Kohl war ebenso wissbegierig, aber auf andere Art, und das war für Helmut Kohls Weg ein kaum zu unterschätzender Faktor. Ihr Vater hatte Elektrotechnik studiert und arbeitete im Ersten Weltkrieg für die junge Luftwaffe. Er stand an der vorderen Front dessen, was damals technischer und in gewisser Weise auch gesellschaftlicher Fortschritt war. Ihre Mutter stammte aus der Bremer Juristenfamilie Merling. Ein Merling war Miteigentümer des Herrenausstatters Mey & Edlich, der sich mit mehreren Hoflieferantentiteln schmückte.

Die tischtennisbegeisterten Merling-Töchter taten allerdings etwas völlig anderes, als sich in Traditionen zu fügen. Hannelore Kohls Mutter Irene und Tante Ilse gingen Anfang der 20er-Jahre auf eigene Faust ins pulsierende Berlin. Schon das war für Hanseatenfamilien revolutionär. Die beiden Töchter machten dort aber auch noch auf exotischen Feldern Karriere. Hannelores Mutter Irene wurde Ansagerin im neuen Rundfunk. Tante Ilse ging ins Showbusiness und wurde erst Operetten-, dann Musicalsängerin. Man kann mutmaßen, dass beide, wären sie 40 Jahre später geboren, 68er geworden wären.

Die Tante aus Amerika

Besonders Ilse sorgte aus der Ferne bis in Kohls Kanzlerzeit für eine besondere Familienprägung. Helmut Kohl ist der einzige Bundeskanzler mit einer (wenn auch angeheirateten) Verwandten auf dem amerikanischen Nationalfriedhof Arlington. Dort liegt Ilse Renner als „Ilse M Spitz“ begraben. Unter dem Künstlernamen Marwenga hatte sie schon 1924 ihre erste Rolle in New York, im „Student Prince of Heidelberg“, der das Lied „Gaudeamus Igitur“ in den USA populär machte. Das sah wie der große Durchbruch aus.

Es folgten weitere New Yorker Engagements. Auf Programmheften schaut eine selbstbewusste junge Frau mit Bubikopf die Zuschauer an. Ilse Marwenga kam freilich über Remakes bekannter Musicals in einst großen, nun abgetakelten Musicaltheatern nicht mehr hinaus. Der Tonfilm beendete den ersten großen Broadway-Hype und damit auch ihre Karriere. Als sie mit ihrem jüdischen Freund 1933 als Ilse Marvenga nach New York emigrierte, blieben ihr nur Tourneen durch Provinztheater.

Sie kehrte schließlich nach New York zurück und tat dort, was Hannelore Kohls Mutter schon 1929 getan hatte – sie heiratete und gab ihren Beruf auf. Ihr Mann war nicht der Berliner Freund, sondern Allan G Spitz, Offizier der New Yorker Nationalgarde. Am 23. Dezember 1941, zwei Wochen nach Hitlers Kriegserklärung an die USA, stand sie noch einmal in der Zeitung, als Mitorganisatorin eines Kinderfaschings auf einem Militärstützpunkt. Major Spitz kam 1947 als Militärverwalter ins besetzte Göppingen. Anschließend im Koreakrieg eingesetzt und als Oberst pensioniert, lebte er mit Ilse in Eatontown (New Jersey), 50 Kilometer südlich Manhattans. Allan Spitz starb 1978 und wurde in Arlington beerdigt. Hannelore Kohls Tante folgte ihm 1997 mit 101 Jahren und ruht nun in Sichtweite des Pentagons, Sektion 65, Grab 2645.

Hannelore Kohls Weltläufigkeit

Für Hannelore Kohl war die Saga um die schmissige amerikanische Tante wichtiger Teil ihres Familiengefühls. Wie wichtig, ließ sie im Juni 1987 erkennen. Damals bekam sie in Washington als erste Deutsche die Internationale Verdienstmedaille der USO, der United Service Organization, die seit 1941 die kulturelle Unterhaltung der US-Fronttruppen übernimmt. Hannelore Kohl bekam die Auszeichnung für ihren Einsatz zur Betreuung amerikanischer Soldaten in der Pfalz. Nach der Verleihung im Fort McNair tat Hannelore Kohl etwas Ungewöhnliches. Sie fuhr zehn Kilometer nach Westen in den Vorort Fairfax zum Wolftrap-Theater. Dort sah sie sich eine Neuinszenierung des „Student Prince“ an. Einmal im Leben Ilses großen amerikanischen Durchbruch von 1924 sehen! Kohls hatten zu Hause eine Schallplatte der alten Aufnahme. Hannelore Kohl kannte das Stück auswendig.

Ihre Weltläufigkeit verhinderte, dass ihr Mann dieselbe feindliche Enge spürte, mit der so manche CDU-Politiker das Großbürgertum betrachteten. Für den Erfolg seiner CDU und für Kohls Neigung zur FDP als Partner war das wichtig.

Hatte Helmut Kohl eigentlich echte Freunde? Offenbar. André Leysen gehörte zu ihnen, ein belgischer Unternehmer, später lange bei Agfa-Gevaert. Die Brüder Fritz und Erich Ramstetter ganz bestimmt, der eine katholischer Studiendekan, der andere Pfarrer in Ludwigshafen. Der Rechtsanwalt Stephan Holthoff-Pförtner zählte zu ihnen. Dann Politiker, mit denen Kohl mehr als nur ein Erfahrungsaustausch verband – der Franzose Jacques Delors, der Spanier Felipe Gonzalez, beide Sozialisten. Kohl hatte auch Unternehmer und Manager wie Leo Kirch, Hanns-Martin Schleyer zum Freund. Und Ärzte aus Ludwigshafen oder Mannheim.

In vielem anders als ihr Mann

Hannelore Kohl hatte so gut wie keine Freundinnen oder Freunde aus dem gesellschaftlichen Spitzenbereich. Sie hatte ihre Jugendfreundinnen Irene und besonders Rena, die im selben Leipziger Haus wohnte, sowie eine Kollegin aus ihren frühen BASF-Jahren. Die Priorin eines Ludwigshafener Krankenhauses kam in den 90er-Jahren dazu. Rena Krebs „begleitete konstruktiv und kritisch“ die Hannelore-Kohl-Biografie Heribert Schwans. Das spricht sehr dafür, dass dieses Buch nicht einfach nur eine von vielen Darstellungen ist.

Hannelore Kohl war in vielem schon sehr anders als ihr Mann, der das sehr genau wusste. „Das Einteilen der Menschheit nach parteipolitischen Richtlinien in Freund und Feind war ihr unbegreiflich“, sagte er einmal. Damit brachte er den vielleicht wichtigsten, aber keineswegs einzigen Unterschied auf den Punkt. Helmut Kohl aß gern süß und deftig, Hannelore überhaupt nicht. Der Bundeskanzler war beim Kofferauspacken ein Ordnungsfanatiker. Seine Frau war das Gegenteil davon. „Ich kann in Minuten ein Hotelzimmer verwüsten“, sagte sie.

Helmut Kohl war vor seinem schweren Sturz am 23. Februar 2008 kaum krank, bis auf eine Prostataentzündung 1989 und arthritische Kniegelenke, die ihm ab ungefähr 2005 schwer zu schaffen machten. Hannelore Kohl war häufiger krank, ab 1993 ständig. Helmut Kohl brachte schon am ersten Schultag 1936 gleich die halbe Klasse zu sich nach Hause, als Anführer. Cliquen waren um ihn, solange er lebte. Seine Frau verzichtete auf eine solche Korona. Manchmal ließ sie durchblicken, dass sie wusste, wie anders sie war. Wenn ihr Mann von anderen aufgezogen wurde, „hat sie immer mitgemacht. Und zwar kräftig“, sagte Kohl zu einer Biografin. Gemeint waren private, aber auch politische Runden.

In einem Boot: Das Ehepaar Kohl 1986 am Wolfgangsee
In einem Boot: Das Ehepaar Kohl 1986 am Wolfgangsee
Quelle: IMAGO


Das von Helmut Kohl als Ferienort später so bevorzugte Salzkammergut hatte seine Frau schon 1942 in den Sommerferien kennengelernt. Damals verlebte ihre Familie am Mondsee die letzten unbeschwerten Ferien. Danach verlor Hannelore Renner Kindheit und Jugend. Eine Schwester ihrer Sandkastenfreundin Rena starb an Kinderlähmung, die Luftangriffe auf Leipzig und die Flucht folgten. Vielleicht war dieser Urlaub am Mondsee Hannelore Kohls leuchtende Erinnerung an ein Leben, das nicht wiederkam.

Zeitlebens hat sie die Berge nicht mehr gemocht, zeitlebens wollte sie, ganz anders als Helmut Kohl, weit weg. Ehe man sich versah, hatte sie sich 1952 ein halbes Jahr als Au-pair in Paris organisiert – zu einer Zeit, in der Deutsche kaum je nach Paris kamen. Anschließend stieg sie als Auslandssekretärin bei BASF zügig zur Schlüsselkraft in den Exportabteilungen auf. Gewandt, charmant und selbstbewusst, wäre sie heute sofort in ein Traineeprogramm für künftige Führungskräfte gekommen. Sie strebte ins Ausland, ans Meer, an die Sonne. In den 70er-Jahren verwirklichte sie den Wunsch. Kaum waren die Osterferien da, flog sie mit den Söhnen und Kohls Büroleiterin Juliane Weber nach Übersee – erst Nordafrika, dann Mexiko oder die Karibik. Weit weg.

Fort aus der Enge des politischen Alltags ihres Mainzer Hauses. Fort von der ewigen Angst vor Terroranschlägen, fort von der deswegen immer höher gezogenen Gartenmauer um das Grundstück. Im Herbst 1977 fanden Ermittler in einer RAF-Wohnung eine Liste mit den Namen Kohl, Buback, Ponto, Schleyer. Außer Kohl waren alle schon durchgestrichen. Helmut Kohl sagte zu einem Freund: So etwas hebt die Lebensfreude nicht. Besonders nicht bei seiner Frau, die die Schutzmaßnahmen gegen die RAF als extrem beengend empfand und das auch später immer wieder thematisierte. Die Lichtallergie nach einem zweiten Penicillinschock 1993 war der Höhepunkt einer Fesselung dieser so weltzugewandten Leipzigerin.

Beide hatten ein Kriegsschicksal

Ihre Leipziger Herkunft hat Kohls Horizont nach Osten geöffnet. Helmut Kohl sagte zwar, seine Professoren hätten ihm die Bedeutung des liberalen Preußens nahegebracht. Es waren nicht nur die Professoren.

Das Kanzlerpaar war sich bei allen Unterschieden aber auch sehr ähnlich. Beide hatten die Augenform ihrer Mütter geerbt. Beide hatten Kampfgeist. Beide hatten ein Kriegsschicksal. Welches genau, könnte für Historiker bei Helmut Kohl noch einmal eine Rolle spielen. Die Darstellungen der letzten beiden Wochen bis zum 8. Mai 1945 weichen eklatant voneinander ab. Einem Biografen sagte Kohl Ende der 80er-Jahre, er sei am 20. April 1945 in Bad Reichenhall vom HJ-Chef Artur Axmann auf Hitler vereidigt worden und entsinne sich noch genau dessen schriller Stimme.

Ein anderer Biograf mit Zugang zu Kohl schrieb, diese Vereidigung durch Axmann habe schon am 3. April stattgefunden. In seinen Memoiren schrieb der Bundeskanzler, er könne sich nicht mehr genau erinnern, wer der Redner gewesen sei. In der einen Biografie setzt Kohl sich schon am 26. April aus Berchtesgaden ab, in einer anderen erst am 6. Mai. In einer steht, Kohl habe einmal aus München HJ-Material abgeholt. In einer anderen, Kohl sei damals als HJ-Kurier häufig unterwegs gewesen, auch nach Wien.

Gute Tänzer, sehr musikalisch

Im „Reichenhaller Tagblatt“, in einschlägigen Archiven und Stadtgeschichten findet sich kein Hinweis darauf, dass Axmann im April 1945 je in Reichenhall war. Das „Tagblatt“ hätte das damals noch propagandistisch groß aufgemacht. Die letzte dokumentierte Vereidigung von HJ-Jungen durch Axmann fand am 1. April in Strausberg bei Berlin statt. Am 20. April begleitete Axmann Hitler im Garten der Reichskanzlei zur letzten Runde mit Hitlerjungen.

Die Gemeinsamkeiten endeten nicht beim Kriegsschicksal. Helmut und Hannelore Kohl schwammen gern. Beide waren Fußballfans. Beide rauchten – Helmut Kohl bis Mitte der 80er-Jahre leidenschaftlich Pfeife, Hannelore Kohl hin und wieder eine Entspannungszigarette. Beide waren in ihrer Jugend gute Tänzer, beide waren sehr musikalisch. Der Bundeskanzler liebte Barockmusik und Jazz. Seine Frau mochte die französische Romantik, italienische Opern und den Blues. Es funkte zwischen ihnen bei „In the Mood“. Das Stück galt fortan als Kohls Lieblings-Jazzmelodie. 50 Jahre später fragte ein Bundesminister, der den spürbar missgelaunten Bundeskanzler auf einer Geburtstagsfeier empfing: „Wollen Sie ,In the Mood‘ hören, Herr Bundeskanzler?“ „Nein, jetzt nicht!“, stieß Kohl zwischen den Zähnen hervor. Privat ist privat.

Natürlich gab es Gerüchte über ihn. Denen entkommt niemand in einer Hauptstadt, schon gar kein Bundeskanzler. Frauen! Die Fälle, in denen eine Frau sich ganz sicher war, Helmut Kohl habe im Vorübergehen einen intensiven Blick auf sie geworfen, sind zahlreich. Auch im Kanzleramt gab es sie. Ob daran etwas Wahres war, steht hier nicht zur Debatte. Es hat sehr wahrscheinlich sogar gestimmt, obwohl nicht immer aus dem Grund, den viele annahmen. Es klingt absurd, das aufzuschreiben, aber Kohl mit seiner feinen Antenne für gesellschaftliche Entwicklungen wollte als Kanzler Frauen in die Politik bringen. Er war ständig auf der Suche nach einer jungen künftigen Politikerin, auch nach jungen Mitarbeiterinnen.

Entscheidender Machtkampf

So war er immer schon. 1975 sagte er als Ministerpräsident zu einem Buchautor: „Wenn ich durchs Land ziehe, und es fällt mir irgendwo ein gescheiter Versammlungsleiter auf, der es gut macht, dann habe ich die Angewohnheit, mir einen Zettel zu schreiben. Den stecke ich mir ins Portemonnaie. Ein paar Tage danach, wenn die Zettelwirtschaft zusammengetragen wird, forsche ich nach, wer ist das. Dann verschaffe ich mir seinen Lebenslauf. Und dann kann es sein, dass ich ihn hierher einlade. Einen Studenten aus Münster habe ich gerade auf diese Weise eingeladen.“ Kohl fand das nicht zuletzt aus autobiografischem Grund wichtig.

Er war 1990 der Einiger Deutschlands geworden, weil er ab Mitte der 50er-Jahre mit einer auf ihn eingeschworenen Jugendtruppe den Mainzer Ministerpräsidenten Peter Altmeier in die Enge getrieben und schließlich gestürzt hatte. Es war sein entscheidender Machtkampf, und er hatte gnadenlos die Jugend gegen das Alter ins Feld geführt. Natürlich wollte er verhindern, dass ihm dasselbe als Kanzler passierte. Also taxierte er junge Menschen in seinem politischen Umfeld. Das glaubhaft zu machen, obwohl Kohls Amtsvorgänger mit einem 50 Jahre alten Seitensprung in die Medien ging, ist schwierig. Es ist noch schwieriger, weil es zu Kohls Mainzer Zeit die üblichen Gerüchte gab und aus seiner Bonner Zeit noch etwas mehr.

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Quelle: dpa


Und die junge Beamtin in der Wirtschaftsabteilung des Kanzleramts, Maike Richter? Wenn stimmt, was Peter Kohl zu wissen glaubt, trat die Situation fünf oder sechs Jahre nach dem Vollzug der deutschen Einheit ein – mit einer gewissen, wenn auch tragischen Folgerichtigkeit, die wieder mit Kohls politischem Denken zusammenhing.

Nach allem, was man bisher angedeutet bekam, hatte Hannelore Kohl in den 90er-Jahren einen großen Wunsch: endlich wieder privat leben zu können, ohne Politik, ohne den Stress des Amtes, ohne Parteienstreit. Die deutsche Einheit war vollzogen. Im Spätherbst 1991 hatte es den furchtbaren Autounfall des Sohnes Peter gegeben; sein Überleben empfand sie als Wunder. Ihre Krankheit quälte sie schrecklich, die Haut war manchmal blau angelaufen und extrem schmerzempfindlich geworden, die Lichtallergie nahm in Schüben zu. Das Fest zum 60. Geburtstag, das nach den ganzen Ehrungen für ihren Mann nun auch einmal groß sein sollte, hatte sie ausfallen lassen müssen. Monatelang ertrug sie keinen Menschen außer ihrer eigenen Familie. Es wurde Zeit, den Stab in andere Hände zu geben.


Und nach allem, was man weiß, hatte Helmut Kohl zur selben Zeit fast panische Angst, sein Lebenswerk könne ihm vor seinen Augen zersplittern. Der Jugoslawienkrieg weckte in Europa alte nationalistische Gefühle. Der Euro, in Kohls Weltbild das einzige wirksame Gegengift, war noch nicht durchgesetzt. Kohls designierter Nachfolger Wolfgang Schäuble habe nicht die Autorität, das zu tun, sagten Kohls engste politische Berater. Nur deshalb, so stellt Kohl es dar, habe er 1998 doch noch einmal kandidiert.

Im Licht der Familiengeschichte Kohls ist das stimmig. Sein Onkel Walter Schnur, der ältere Bruder seiner Mutter, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Kohls älterer Bruder wurde in seinem Andenken Walter getauft und fiel im Zweiten Weltkrieg. Im Gedenken an beide nannte Helmut Kohl seinen eigenen ältesten Sohn ebenfalls Walter. Als Kohls Mutter das erfuhr, fragte sie: „Forderst du damit nicht das Schicksal heraus?“ Kohls Antwort: „Ich verspreche dir, dass er nicht in einem Krieg zwischen europäischen Staaten sterben wird.“ So sagte er es 1996 französischen Gesprächspartnern, als der Bosnienkrieg ebenso wie die Einführung des Euro im Schwebezustand verharrte. Er fügte hinzu: „Dieses Versprechen möchte ich halten.“

Vor der Fraktion deutete er damals mit seltener Offenheit an, er sei in einer für ihn extrem schwierigen Lage. Es gebe, ließ er anklingen, private Aspekte dabei. Heribert Schwan schreibt, dass Hannelore Kohl auf Kohls Beschluss, dann doch zu kandidieren, mit einem seltenen Wutausbruch reagierte.

Inmitten dieser aufgewühlten Gefühle trat plötzlich eine junge Beamtin in seinen Gesichtskreis, intelligent, apart anzuschauen – und hundertprozentig von Kohls historischer Mission überzeugt. Eine Frau, die in ihrer schwärmerischen Überzeugungsstärke dem jungen Kohl ähnelte. Maike Richter gehörte zu der Generation, für die Kohl sich rund um die Uhr einsetzte, damit sie nicht in einen Krieg gezogen würde – einen Krieg, der viel dichter vor der Tür zu stehen schien, als die Öffentlichkeit es wahrnahm. Im Gegensatz zu Kohls Söhnen (und damals auch bereits zu seiner Frau) nahm sie glühend Anteil an seinem Tun. Der Bundeskanzler könnte das Gefühl gehabt haben: Endlich versteht mich jemand. Endlich sieht jemand, was für mich auf dem Spiel steht.

Gelöst und entspannt

Hannelore Renner hatte Helmut Kohl im Frühsommer 1948 zum ersten Mal in einer Gastwirtschaft wahrgenommen. Nach einem kurzen Stromausfall war von ihrem Tisch eine Weinflasche verschwunden, damals ein Luxusartikel. Ihre Freundinnen gerieten in Wut. Am Nachbartisch machte ein groß gewachsener Schüler eine ziemlich überflüssige Bemerkung dazu. „Wer ist denn dieser unverschämte Typ?“, fragte Hannelore Renner. Der Typ wurde „Helle“ gerufen. Es war Helmut Kohl. In der Tanzstunde traf man sich wieder. Es war eine unwiederbringliche, aber Mitte der 90er-Jahre auch eine tief versunkene Zeit.

Mitte der 90er war „Helle“ der Anführer und Patriarch Europas. Er sprach mit Moskau und Washington auf Augenhöhe, er war ein wandelnder Erfahrungsschatz, dem in seiner direkten Umgebung trotzdem nicht mehr allzu viele unvoreingenommen zuhören mochten. Da kam eine junge Frau, die genau das tat.

Es gibt Situationen auch im Leben von Bundeskanzlern, ganz besonders bei Helmut Kohl, da wird ein starker Mann weich. Als die Verbindung 2005 offiziell gemacht war, haben manche alten Begleiter angedeutet, Kohl zum ersten Mal gelöst und entspannt erlebt zu haben.

Sein Sohn Walter schrieb im Juni 2015 über sich selber: „Lange Jahre habe ich mich nach innerem Frieden gesehnt, nach einer neuen Weise des Umgangs mit den alten Erlebnissen und den Rahmenbedingungen meines Lebens, meiner Herkunft.“ Das ging seinem Vater vermutlich genauso. Besonders nach 1989, als er auf der Höhe seines Ruhmes stand – aber alleine mit der Weltlage, mit seinen Ängsten und mit sich selbst.

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