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Sport Otto Rehhagel wird 85

„Ich erhänge mich erst, wenn alle Stricke reißen“

„Ich habe so viel erlebt, Angst kenne ich nicht“ – Otto Rehhagel „Ich habe so viel erlebt, Angst kenne ich nicht“ – Otto Rehhagel
„Ich habe so viel erlebt, Angst kenne ich nicht“ – Otto Rehhagel
Quelle: picture alliance/dpa/Uwe Anspach
Trainer Otto Rehhagel hat die Fußball-Bundesliga geprägt wie kaum ein anderer. Zum Denkmal, behaupten seine Feinde, habe dem demokratischen Diktator lediglich eine Einsicht gefehlt.

Zu den kürzesten Altherrenwitzen gehört der mit dem Rentner, der in panischer Angst in die Sprechstunde hastet und sagt: „Herr Doktor, ich hatte seit Tagen keinen Stuhl!“ Darauf der Arzt: „Na dann setzen Sie sich doch erst mal.“

Bei dem älteren Herrn, der am Mittwoch 85 wird, ist das ganz anders. Otto Rehhagel fliegt immer noch rüstig nach New York, steigt dort aufs Empire State Building und schaut, 350 Meter hoch, von der Aussichtsplattform ohne Kreislaufzittern und Zähneklappern hinunter auf den Hudson River. Als einer wissen wollte, ob ihn keine Höhenangst plage, hat der Alte den Ahnungslosen aufgeklärt: „Ich habe so viel erlebt, Angst kenne ich nicht.“

Voriges Jahr war das. Big Otto war auf Besuch im Big Apple, um die Dokumentation „King Otto“ zu präsentieren, eine Rückschau auf seine grandiose Trainerkarriere, und auch bei der Premiere im Museum of Modern Art stand er immer noch bühnenreif und stabil seinen Mann.

Ein Mann der ersten Bundesligastunde: Rehhagel (M.) attackiert 1963 als Hertha-Verteidiger seinen Frankfurter Gegenspieler Erwin Stein
Ein Mann der ersten Bundesligastunde: Rehhagel (M.) attackiert 1963 als Hertha-Verteidiger seinen Frankfurter Gegenspieler Erwin Stein
Quelle: ah li_A/ dpa/ picture alliance

Die Frisur ist grauer geworden, aber nach wie vor dicht, und die Figur ähnelt immer noch der des Jungverteidigers Rehhagel in den 1960ern bei Hertha BSC und in Kaiserslautern – schnittig ist er den gegnerischen Flügelstürmern seinerzeit derart in die Parade gefahren, dass sogar noch die Zuschauer in den vorderen Reihen Schienbeinschützer trugen.

„Mit 50 in der Klapsmühle“

Jetzt ist Rehhagel genau Mitte 80, sieht aber aus wie 60 und kommt gefälliger daher, als er es mit ungefähr 40 befürchtet hat. Damals, als er mit dem Satz berühmt wurde: „Du musst als Trainer genug verdienen, um mit 50 in der Klapsmühle erster Klasse liegen zu können.“ Er hat mehr als das hinbekommen. Fast überall wird er heute als Halbgott verehrt, als König Otto auf dem Betzenberg, als heldenhafter Rehakles in Athen oder als oberster Stadtmusikant in Bremen. Dort, an der Stätte seiner frühen Wundertaten, soll der Altkanzler Willy Brandt anlässlich einer Bremer Meisterfeier den Trainer zu später Stunde gefragt haben: „Herr Rehhagel, darf ich jetzt gehen?“

Rehhagel war „Otto der Große“. Aber auch so einer fängt klein an. Der Schreiber hier hat ihn noch erlebt, als er träumend am Spielfeldrand stand. 1979 war das, der Jungtrainer Rehhagel gastierte mit Arminia Bielefeld in Stuttgart, und vor dem Spiel bestaunte er die VfB-Stars Hansi Müller, Dieter Hoeneß und Karlheinz Förster beim lockeren Warm-up. Vermutlich ahnte er schon, dass sie seinen Arminen gleich mit 5:1 die Hucke vollhauen würden. So eine Truppe, schwärmte er, wolle er auch einmal trainieren. „Wissen Sie“, sagte er, „mein Vater war Bergmann in Essen, immer am gleichen Ort, Zeche Helene. Nach 25 Jahren bekam er eine goldene Uhr, und dann ist er früh gestorben. Ich will mehr als die Schornsteine sehen.“

Zweimal wurde Rehhagel mit Werder Bremen Deutscher Meister, hier im Jahr 1988
Zweimal wurde Rehhagel mit Werder Bremen Deutscher Meister, hier im Jahr 1988
Quelle: Bongarts/ Getty Images

Das ist ihm gelungen. Rehhagel hat alles gesehen und alle Rekorde gebrochen. Er stand als Verteidiger und Trainer in mehr als 1000 Spielen seinen Mann, und irgendwann war er im Besitz der meisten Siege, der meisten Unentschieden, der meisten Niederlagen, der meisten Tore und der meisten Gegentore. Nicht einmal die höchste Niederlage ließ sich Rehhagel entgehen, das 0:12 seiner Dortmunder gegen Gladbach anno 1978, mit dem er sich seinen ersten Spitznamen verdiente: „Otto Torhagel“. Der BVB hat ihn auf der Stelle entlassen, aber das gehört jetzt nicht hierher – nicht an seinem Geburtstag.

„Schwachsinnige Frage“

Schicken Sie ihm übrigens keine Rosen zum Ehrentag! Dieser Symbolik hat Rehhagel nie getraut, sondern als Realist stets gesagt: „Wenn ich ein paar Spiele verliere, lassen die Leute an den Blumen, die sie mir zuwerfen, plötzlich die Töpfe dran.“ Das gesunde Misstrauen hat sich ausgezahlt: Europameister, Europacupsieger, DFB-Pokalsieger, dreimal Deutscher Meister. Zum Denkmal, behaupten seine Feinde, habe Otto lediglich die Einsicht gefehlt, dass nicht er allein den Fußball erfunden hat.

Rustikal war Rehhagel schon als Verteidiger. „Bei mir zählen als Verletzungen nur glatte Brüche“, hat er dann als Trainer gesagt und 1982 sogar Morddrohungen getrotzt, indem er sich bei einem Spiel von Werder in Bielefeld mit einer kugelsicheren Weste auf die Bank setzte. Rehhagel hasste Heckenschützen. Den ZDF-Reporter Günter-Peter Ploog giftete er einmal an: „Schwachsinnige Frage.“ Worauf Ploog entgegnete: „Es gibt auch schwachsinnige Antworten.“

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Kein Erfolgstrainer vor und nach Rehhagel war ähnlich spannend, speziell für die Presse. Er konnte richtig sperrig werden, einmal sagte er: „Ich beantworte nur Fachfragen.“ Was einen dieser Griffelspitzer prompt in die pfiffige Wortmeldung trieb: „Ich muss morgen das Kinderzimmer meiner Tochter streichen, welche Dispersionsfarbe würden Sie mir empfehlen?“ Das passte, denn Rehhagel hatte als junger Otto eine Malerlehre absolviert, und sein erstes Erfolgsrezept soll gelautet haben: „Dat Fenster muss beim Tapezieren zu, sonst rutscht dat Ding vonne Wand.“

Picassos blaue Periode

Damals, in Essen, lernte er auch seine Frau Beate kennen. Sie liebte Kunst und Kultur, und bald wusste auch Rehhagel allerhand über Romeo und Julia, zitierte Hamlet und Rilke und ließ seine Freundschaft zu Placido Domingo nicht unerwähnt. Fußballreporter wussten vor Pressekonferenzen nie, ob Rehhagel über die Blutgrätschen seines Abwehrkämpen Borowka reden würde oder über Picassos blaue Periode, die melancholische Phase des Malers von 1901 bis 1904. Jedenfalls erfuhr man, dass Rehhagel gelegentlich im Louvre war, neben Franz Beckenbauer krönte er im Frack den Wiener Opernball, und in München soll er seine Türklingel mit dem Namen „Rubens“ getarnt haben, als er den FC Bayern trainierte.

Weit mehr als „nur“ die Ehefrau: Ohne seine Beate ist Otto Rehhagel nicht denkbar. Sie ist seine Vertraute, Managerin und Bodyguard gegen aufdringliche Journalisten
Ohne seine Beate ist Otto Rehhagel nicht denkbar. Sie ist seine Vertraute, Managerin und Bodyguard gegen aufdringliche Journalisten
Quelle: Andreas Rentz/ Getty Images

Sein Glück hat Rehhagel dort nicht gefunden, beim FC Hollywood drängelten sich zu viele eigene Götter. Nach acht Wochen meckerte der Kleinkünstler Mehmet Scholl: „Wir haben immer noch keine Taktik.“ Später setzte er nach: „Rehhagel oder ich. Jetzt tut’s einen Schlag. Und wenn sie mich rausschmeißen, ist es mir auch wurscht.“

Die Bayern haben dann Rehhagel rausgeschmissen, und sein nächstes Bremen hieß Kaiserslautern. Dort durfte er der altbewährte „demokratische Diktator“ sein („Bei mir kann jeder sagen, was ich will“) und als lodernder Motivationskünstler wieder zeigen, dass Disziplin und Teamgeist die beste Taktik schlagen. „Ich kritisiere Sie als Fußballer, aber als Mensch sind Sie mir heilig“, sagte er zu seinen Kickern – und die gingen mit ihm durch dick und dünn.

Wie in Bremen ist er wieder übers Wasser gewandelt und hat daraus Wein gemacht. Aus der Zweiten Liga stieg er mit den Pfälzern auf, hat sich anschließend gleich im ersten Spiel mit einem Sieg beim FC Bayern für die erlittenen Demütigungen gerächt („Es gibt einen Fußballgott!“), und am Ende der Saison waren seine Aufsteiger deutscher Meister. Mehr kann man als Trainer vom Leben nicht erwarten, und es sah danach kurz so aus, als sei Rehhagel mit seinem Latein am Ende. Seine Meister kriselten, der Otto-Motor stotterte, und sein Schweizer Star Ciriaco Sforza meckerte: „Die Zeit von Befehl und Gehorsam ist vorbei.“

Mitten hinein in den Verdacht, dass sein Führungsstil mitsamt seinen Taktik- und Trainingsvorstellungen in die Mottenkiste gehört, hat er dann als Nationaltrainer die Griechen übernommen, ihnen über Nacht, so der Mittelstürmer Charisteas, „die deutschen Tugenden beigebracht“, und unter dem fassungslosen Kopfschütteln der Fußballwelt triumphierten die Griechen bei der EM 2004 mit dem Spielsystem: Hinten dicht, und vorne hilft der liebe Gott.

Europameister sind sie geworden, mit einem Trainer von gestern und einem Fußball von anno Tobak, mit ordinärem Ausputzer, alte Schule. Aber an dem Punkt lächelt Rehhagel nur milde, wenn er als alter weißer Mann heute noch gelegentlich seine Vorträge hält, und sagt: „Modern spielt der, der gewinnt.“

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Als er sich am Ende, mit 73, noch Hertha BSC im Abstiegskampf antat, hat das Gewinnen nachgelassen, was seiner Lebensleistung aber keinen Abbruch tut. Was ihm keiner mehr nehmen kann, ist der Jubelschrei, mit dem sich der ZDF-Reporter Rolf Töpperwien anno 1992 bei der Heimkehr der frischgebackenen Europacupsieger von Werder Bremen vom Flughafen meldete: „Jetzt! Jetzt betritt Otto Rehhagel deutschen Boden!“

Und jetzt, am Mittwoch, wird der aufregendste unter den deutschen Erfolgstrainern 85. Und viel spricht dafür, dass er auch die 100 irgendwann vollmacht, so gut ist er noch zu Fuß, und auch sein berühmter Humor hält ihn aufrecht. Den dicken Rucksack seiner geflügelten Worte hat er jedenfalls mit dem Schwur bereichert: „Ich bin Optimist, ich erhänge mich erst, wenn alle Stricke reißen.“

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