Spengler, Oswald, Politische Schriften, Preussentum und Sozialismus, Einleitung - Zeno.org

Einleitung

[3] Diese kleine Schrift ist aus Aufzeichnungen hervorgegangen, die f�r den �Untergang des Abendlandes�, namentlich den zweiten Band bestimmt, die teilweise sogar der Keim waren, aus dem diese ganze Philosophie sich entwickelt hat.1

Das Wort Sozialismus bezeichnet nicht die tiefste, aber die lauteste Frage der Zeit. Jeder gebraucht es. Jeder denkt dabei etwas andres. Jeder legt in dieses Schlagwort aller Schlagworte das hinein, was er liebt oder ha�t, f�rchtet oder w�nscht. Aber niemand �bersieht die historischen Bedingungen in ihrer Enge und Weite. Ist Sozialismus ein Instinkt oder ein System? Das Endziel der Menschheit oder ein Zustand von heute und morgen? Oder ist er nur die Forderung einer einzelnen Klasse? Ist er mit dem Marxismus identisch?

Der Fehler aller Wollenden ist, da� sie das, was sein sollte, mit dem verwechseln, was sein wird. Wie selten ist der freie Blick �ber das Werden hin! Noch sehe ich niemand, der den Weg dieser Revolution begriffen, ihren Sinn, ihre Dauer, ihr Ende �berschaut h�tte. Man verwechselt Augenblicke mit Epochen, das n�chste Jahr mit dem n�chsten Jahrhundert, Einf�lle mit Ideen, B�cher mit Menschen. Diese Marxisten sind nur im Verneinen stark, im Positiven sind sie hilflos. Sie verraten endlich, da� ihr Meister nur ein Kritiker, kein Sch�pfer war. F�r eine Welt von Lesern hat er Begriffe hinterlassen. Sein von Literatur ges�ttigtes, durch Literatur gebildetes und zusammengehaltenes Proletariat war nur so lange Wirklichkeit, als es die Wirklichkeit des Tages ablehnte, nicht darstellte. Heute ahnt man es – Marx war nur der Stiefvater des Sozialismus. Es gibt �ltere, st�rkere, tiefere Z�ge in ihm als dessen Gesellschaftskritik. Sie waren ohne ihn da und haben sich ohne ihn und gegen ihn weiter entfaltet. Sie stehen nicht auf dem Papier, sie liegen im Blut. Und nur das Blut entscheidet �ber die Zukunft.[3]

Wenn aber der Sozialismus nicht Marxismus ist – was ist er dann? Hier steht die Antwort. Heute schon ahnt man sie, aber den Kopf voller Pl�ne, Standpunkte, Ziele wagt man nicht, sie zu wissen. Man fl�chtet vor Entscheidungen von der ehemaligen energischen Haltung zu mittleren, veralteten, milderen Auffassungen, selbst zu Rousseau, zu Adam Smith, zu irgend etwas. Schon ist jeder Schritt gegen Marx gerichtet, aber bei jedem ruft man ihn an. Indessen ist die Zeit der Programmpolitik vorbei. Wir sp�ten Menschen des Abendlandes sind Skeptiker geworden. Ideologische Systeme werden uns nicht mehr den Kopf verwirren. Programme geh�ren in das vorige Jahrhundert. Wir wollen keine S�tze mehr, wir wollen uns selbst.

Und damit ist die Aufgabe gestellt: es gilt, den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien. Den deutschen, denn es gibt keinen andern. Auch das geh�rt zu den Einsichten, die nicht l�nger verborgen bleiben. Wir Deutsche sind Sozialisten, auch wenn niemals davon geredet worden w�re. Die andern k�nnen es gar nicht sein.

Ich zeichne hier nicht eine jener �Vers�hnungen�, kein Zur�ck oder Beiseite, sondern ein Schicksal. Man entgeht ihm nicht, wenn man die Augen schlie�t, es verleugnet, bek�mpft, vor ihm fl�chtet. Das sind nur andere Arten es zu erf�llen. Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Altpreu�ischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Br�dern hassen, sind ein und dasselbe. Das lehrt nicht die Literatur, sondern die unerbittliche Wirklichkeit der Geschichte, in der das Blut, die durch nie ausgesprochne Ideen gez�chtete Rasse, der zur einheitlichen Haltung von Leib und Seele gewordne Gedanke �ber blo�e Ideale, �ber S�tze und Schl�sse hinwegschreitet.

Ich z�hle damit auf den Teil unserer Jugend, der tief genug ist, um hinter dem gemeinen Tun, dem platten Reden, dem wertlosen Pl�nemachen das Starke und Unbesiegte zu f�hlen, das seinen Weg vorw�rts geht, trotz allem; die Jugend, in welcher der Geist der V�ter sich zu lebendigen Formen gesammelt hat, die sie f�hig machen, auch in Armut und Entsagung,[4] r�misch im Stolz des Dienens, in der Demut des Befehlens, nicht Rechte von andern, sondern Pflichten von sich selbst fordernd, alle ohne Ausnahme, ohne Unterschied, ein Schicksal zu erf�llen, das sie in sich f�hlen, das sie sind. Ein wortloses Bewu�tsein, das den einzelnen in ein Ganzes f�gt, unser Heiligstes und Tiefstes, ein Erbe harter Jahrhunderte, das uns vor allen andern V�lkern auszeichnet, uns, das j�ngste und letzte unsrer Kultur.

An diese Jugend wende ich mich. M�ge sie verstehen, was damit ihrer Zukunft auferlegt wird; m�ge sie stolz darauf sein, da� man es darf.

1

Unt. d. Abdl. I, S. 62.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. M�nchen 1933, S. 3-5.
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