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Kultur „Mord im Orient Express“

Katharina Thalbach und der Zug in die Freiheit

Freier Feuilletonmitarbeiter
Katharina Thalbach als Hercule Poirot Katharina Thalbach als Hercule Poirot
Katharina Thalbach als Hercule Poirot
Quelle: Franziska Strauss
17 lange Monate musste die milionenteure Theaterproduktion „Mord im Orient Express“ verschoben werden. Nun rollt der Showzug und das Berliner Publikum beklatscht nicht nur die Leistung der vielen Stars, sondern auch seine eigene Erlösung.

Der absolute Theater-GAU infolge von Corona ereilte vor jetzt fast 17 Monaten die Berliner Wölffer-Bühne, auch bekannt als Theater und Komödie am Kurfürstendamm. Die, einst von Max Reinhardt gegründet, waren und sind die Traditions-Boulevardkomödien-versorger der Hauptstadt. Gegenwärtig aber heimatlos, weil ihre Häuser abgerissen wurden und eben neu erstehen. Das leerstehende Schiller-Theater ist – nach dem Auszug der inzwischen sanierten Staatsoper – ihr Ausweichquartier.

Das ist natürlich groß und will gefüllt sein. Eine Million Etat hat das privat finanzierte Theater mutig in die Hand genommen, um als große, ja musicalhafte De-Luxe-Produktion, die teuerste in der Wölffer-Geschichte, Agatha Christies nostalgischen Whodunit-Dauerbrenner „Mord im Orientexpress“ als glamouröses Krimispektakel mit Gesang und Tanz sowie klingenden Darstellernamen herauszubringen und damit das Publikum zu Erdbeerbowle und guter Unterhaltung zu locken.

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Katharina Thalbach inszeniert und spielt auch den klassischen Gentleman-Ermittler Hercule Poirot, ihre Tochter und Enkelin sind mit dabei, ebenso alle drei Geschwister Pfister plus deren Ex-Familienmitglied Max Gertsch. TV-Modedesigner Guido Maria Kretschmer entwarf die prunkvollen Thirties-Kostüme, Christoph Israel komponierte und arrangierte die Musiknummern, oft mit geistigem Beistand von Cole Porter und Irving Berlin, auch von klassischen Komponisten wie Prokofiew und Tschaikowsky.

Und dann kam die Pandemie, und nichts ging mehr. Der Orientexpress blieb im Kulissendepot auf dem vorläufigen Abstellgleis, über eineinhalb Jahre lang. So war klar, warum ein dankbares Komödienpublikum jetzt endlich Katharina Thalbach als französelnden Hercule (der freilich Belgier ist) mit rasendem Applaus begrüßt, zeigt er sich erstmals im Scheinwerferlicht. Der stimmt auf das Leben ein, das wie eine Eisenbahn sei – „es geht weiter und weiter“; auch wenn es kurz in einer Schneeverwehung vor Belgrad durch einen Mord gestoppt wird.

Das gehauchte H der Thalbach

Und dann entfaltet sich mit sinnlicher Eleganz eine totale, ein wenig altmodische, aber ungemein professionell aufbereitete, am Beginn noch ein bisschen sich einruckelnde, mit vielfachem Zwischenbeifall bedachter Schauspielershow. Angefangen mit der Thalbach, die als Mann, ob Alter Fritz, Hauptmann von Köpenick oder Theaterdirektor Striese, immer am feinsten leuchtet, ein wenig melancholisch, ein wenig chaplinesk, schnarrig zart und sehr liebenswert mit ihrem gehauchten „H“.

Die Handlung, und vor allem der Täter sind hier eigentlich nebensächlich, man kennt ihn sowieso: Schließlich wurde der gemütliche Christie-Thriller mindestens fünfmal verfilmt.

So delektiert man sich an schräg perspektivischen Lokomotiven mit sich drehenden Rädern, die den eigentlichen Bühnenzug einrahmen. Der, zunächst war ein Hotel in Konstantinopel der pittoreske Spielort, rollt unter Dampf und Krach sogar von der Bühne. Dann fährt von hinten der in Art-Deco-Elementen schwelgende Salonwagen nebst Bar herein, und im zweiten Stock verschwenken sich die Schlafkabinen der zwölf Reisenden, von denen einer die erste Nacht nicht überlebt. Momme Röhrbein zeichnet für diese satte Bühnenbild-Opulenz verantwortlich.

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Für jeden ist hier der Laufsteg bereitet, vor allem aber für die zwei Primadonnen, Andreja Schneiders geisterbleiche russischen Prinzessin und Christoph Marti (mal wieder in Drag) als männerverschlingende, whiskeyfeuchte amerikanische Society-Schabracke. Anna Thalbach schluchzt kieksig die englische Hauslehrerin, Raphael Dwinger schnarrt ihren geliebten schottischen Offizier. Tobias Bonn gibt den leutseligen Wagons-Lits-Chef, Max Gertsch den soliden Schaffner. Nelli Thalbach kulleraugt eine ungarische Gräfin, Nadine Schorri ist die steife schwedische Kinderkrankenschwester, Wenka von Mikulitz die strenge deutsche Zofe. Alexander Dydna grinst smart als amerikanischer Sekretär, und Mat Schuh liegt bald da als Leiche, die sie alle im Keller haben.

Jeder hat hier sein auf den von Edelstöffchen umspielten Leib geschneidertes Solo, und trotzdem ist es facettenreiches Ensembletheater, liebevoll auscharakterisiert, raffiniert ergänzt um filmische Rückblicke und von der Seite reinfahrende Badezimmer und Kontore. Und vor allem: alles live, fein nuanciert, dankbar vom auf Abstand sitzenden Publikum (die Stammgäste des Hauses wollten das so) registriert und bedankt. Endlich wieder Amüsement und Unterhaltung! Berlin freute sich. Denn dieser Orientexpress tuckert in voller Komödienkrimifahrt. Ganz echt.

„Mord im Orient-Express“. Täglich, außer Montag, bis 19. August

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