Napoleons Beresina-Übergang: „Diejenigen, deren Elend hier mit dem Tod sein Ende fand, waren die Glücklichen“ - WELT
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Kopf des Tages Napoleons Beresina-Übergang

„Unter dem Eis sah man Leichen über die ganze Breite der Wasserfläche“

Um Napoleon den Rückzug abzuschneiden, zog der russische Admiral Tschitschagow im November 1812 an die Beresina. Dank einer Finte gelang der Grande Armée der Übergang. Aber Zehntausende Nachzügler fanden einen entsetzlichen Tod.
Freier Autor Geschichte
Napoleons Armee an der Beresina Napoleons Armee an der Beresina
28. November 1812: Obwohl die russischen Truppen zu spät angreifen, wird der Übergang über die Beresina für die französischen Nachzügler zum Fiasko
Quelle: picture alliance / Mary Evans Pi
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Die Beresina (belosruss: Bjaresina) ist ein rechter Nebenfluss des Dnjepr, der sich nach gut 600 Kilometer bei Homel mit diesem vereint. Da er an seinem Mittellauf oft nur gute 20 Meter breit und nicht allzu tief ist, friert er im Winter schnell zu. Allerdings sorgte im November 1812 kurzfristiges Tauwetter dafür, dass die Eisdecke brach und der Wasserstand deutlich höher war als üblich.

Das machte die Beresina zu einem ernsthaften Hindernis für Napoleons Grande Armée. Die hatte ab Mitte Oktober das vom Brand verwüstete Moskau endlich verlassen und schleppte sich nun auf der Route zurück, die sie schon auf ihrem Hinmarsch ruiniert und verkotet hatte; ständig bedrängt von nachrückenden russischen Truppen und dem einsetzenden Winter. Den Übergang über die Beresina zu gewinnen, wurde für Napoleon I. zum entscheidenden Nadelöhr.

Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow
Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow (1767–1849), russischer Admiral und Heerführer
Quelle: Wikipedia/Public Domain

Der russische Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow (1767–1849) erhielt den Befehl, dies zu verhindern. Der Sohn eines Marineoffiziers aus niederem Adel hatte eine steile Karriere gemacht. Bereits als Fünfjähriger war er als Adjutant seines Vaters in die russische Flotte eingetreten. Schon 1788 war er Kapitän, gelangte nach der Beseitigung Zar Pauls I. 1801 in die Entourage Alexanders I. und wurde 1802 mit 35 Jahren zum Marineminister ernannt.

Da er zuvor einige Zeit in England gelebt hatte, hatte Tschitschagow eine Vorstellung vom technischen und gesellschaftlichen Vorsprung des Westens. Er fürchtete die Royal Navy und bewunderte Napoleon. In St. Petersburg galt er als einer der maßgeblichen Unterstützer eines Bündnisses mit Frankreich, was ihm viele Gegner eintrug. Der junge Zar aber bewunderte den unkonventionellen Admiral und übertrug ihm nach der Invasion Napoleons 1812 das Kommando über die Moldauarmee, nachdem deren Chef Michail Kutusow zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen ernannt worden war.

Während Napoleon mit seiner bereits arg dezimierten Armee in Moskau auf Friedensfühler Alexanders wartete, hatte Tschitschagow seine 60.000 Mann von der osmanischen Grenze nach Norden marschieren lassen. Dort deckte er die russische Flanke zunächst gegen das österreichische Korps, das an der Seite Napoleons nach Russland vorgedrungen war. Ende Oktober erhielt er von Kutusow den Befehl, den Franzosen den Übergang über die Beresina zu verlegen. Das sollte den übrigen zarischen Armeen die Möglichkeit geben, den Gegner auf dem Ostufer einzuschließen und zu vernichten.

Um die Österreicher in Schach zu halten, teilte der Admiral seine Armee. Mit 27.000 Mann zielte er auf Minsk, das die Franzosen zu einer Nachschubbasis ausgebaut hatten. Am 16. November zog er in Minsk ein. Siegesgewiss erließ Tschitschagow eine Proklamation an seine Soldaten:

„Napoleons Armee ist auf der Flucht. Der Mann, der alles Übel über Europa gebracht hat, befindet sich in ihren Reihen. Wir schneiden ihm den Rückzugsweg ab. Es kann durchaus sein, dass es dem Allmächtigen gefällt, seine Bestrafung der Menschheit zu beenden und ihn uns in die Hände zu liefern. Daher will ich, dass jeder seine Beschreibung kennt: Er ist von geringer Größe, untersetzt, bleich, mit kurzem, dickem Hals, einem großen Kopf und schwarzem Haar. Um alle Eventualitäten auszuschließen, nehmt alle Personen von geringem Wuchs gefangen und bringt sie mir.“

Das trug dem Admiral zahlreiche untersetzte Gefangene ein – aber keinen Napoleon. Der erreichte mit dem Kern seiner Truppen, rund 45.000 Mann, am 25. November den Ort Borisow (Baryssau) am Mittellauf der Beresina. Dort gab es eine Brücke, die aber in den Kämpfen zwischen den Vorhuten beider Armeen inzwischen in Flammen aufgegangen war.

J. Suchodolski, Uebergang ueber Beresina Napoleonische Kriege: Russischer Feldzug 1812. - 'Uebergang ueber die Beresina'. - (26.-28. November 1812, Rueckzug der franzoesischen Armee aus Russland). Gemaelde, um 1859, von January Suchodolski (1797-1875). Oel auf Leinwand, 52 x 77 cm. Posen, Muzeum Narodowe. E: Crosing of the Beresina /Suchodolsky Napoleonic Wars: Russian Campaign 1812. - 'The Crossing of the Beresina' (26/28 Nov.1812, retreat of the Grande Armee). Painting, c.1859, by January Suchodolski (1797-1875). Oil on canvas, 52 x 77 cm. Poznan, National Museum. F: J. Souchodolsky, Passage de la Berezina Guerres napoleoniennes : Campagne de Russie 1812. - 'Passage de la Berezina'. - (26-28 novembre 1812, retrait de la Grande Armee francaise de Russie). Tableau, vers 1859, de January Suchodolski (1797-1875). Huile sur toile, H. 0,52 , L. 0,77. Poznan, Musee National.
Napoleons Übergang über die Beresina (ca. 1859) – von January Suchodolski
Quelle: picture-alliance / akg-images

Tschitschagow stand also vor dem Problem, den Fluss über Dutzende Kilometer abschirmen zu müssen. Die Bitte an den russischen General Peter von Wittgenstein, sich mit ihm zu vereinen, ignorierte dieser geflissentlich. Er operierte im Norden der Grande Armée und hätte die Beresina wohl rechtzeitig überqueren können. Aber er mochte sich nicht dem Befehl Tschitschagows unterstellen. Auch teilte er dessen Respekt vor Napoleons Feldherrngenie, sodass er lieber mit dem Gros der russischen Truppen Fühlung hielt, die dem Kaiser in respektvollem Abstand folgten.

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Da er das Hochufer bei Borisow besetzt hielt, ging Tschitschagow davon aus, dass Napoleon sich nördlich oder südlich einen anderen Übergang suchen würde. Dass der Franzose auf Minsk und dessen Magazine halten würde, schien ihm die wahrscheinlichste Lösung zu sein. Darin wurde er auch von Kutusow bestärkt, der ihm in einem Brief voraussagte, Napoleon werde sich nach Süden wenden, wenn er Borisow blockiert vorfinden würde.

Da auch Napoleon einen (kleinen) Teil seiner Truppen nach Süden schickte, schluckte der Admiral den Köder. Während er diese verfolgte, marschierten die Franzosen jedoch nach Norden, nach Studjanka, wo ein General eine Furt entdeckt hatte. Umgehend begannen Pioniere mit dem Bau von zwei Brücken.

USSR. The view shows the Crossing over Berezina on November 29, 1812 painting (middle 19th cenutry) by French painter Jean Victor Adam. Reproduction by TASS
Die beiden Behelfsbrücken über die Beresina
Quelle: picture alliance / Reproduction

Bis zu 15 Minuten mussten die Männer im eisigen Wasser ausharren, viele erfroren, wurden von der Strömung weggerissen oder von Eisschollen zermalmt. Am Mittag des 26. November 1812 war die erste Brücke fertig, kurz darauf stand daneben ein weiterer, stabilerer Übergang, der für Wagen und Artillerie reserviert war. Umgehend begann der Abmarsch, allerdings nur für Truppen mit Waffen und guter Ordnung. Mehrmals brachen Brückenteile ein, konnten aber wieder instand gesetzt werden.

Tschitschagow hatte inzwischen seinen Fehler erkannt und machte sich auf den Rückweg. Aber seine Leute waren erschöpft, eine Meuterei schien möglich. „Meine Ermahnungen zeigten keine Wirkung“, schrieb der Admiral später in seinen Erinnerungen. „Ich sah mich zu der Drohung genötigt, auf sie zu feuern. Ich ließ eine Kanone aufprotzen und diese von hinten auf sie zielen.“ Missmutig zogen seine Leute los.

Als sie die Brücken bei Studjanka erreichten, hatten die, die von der Grande Armée noch übrig waren, den Fluss bereits passiert. Nicht mehr hinübergekommen aber waren etwa 15.000 Nachzügler – Versprengte, Diener, Frauen, Kinder – die der Armee gefolgt waren und die sich in Panik über die Brücken drängten, als die russischen Verfolger sich dem Ostufer näherten.

1FK-160-E1812-20-C (2165986) Napoleon I. an der Beresina 1812 / Job Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen (ab 1804); Ajaccio (Korsika) 15.8.1769 - Longwood (St. Helena) 5.5.1821. / - 'Au passage de la Bérésina, le froid la lui arrache.' (Russlandfeldzug 1812; Übergang über die Beresina auf dem Rückzug der Grande Armée, 26./28. November 1812). - / Farbdruck nach Zeichnung von JOB, d.i. Jacques Onfroy de Bréville (1858-1931). Aus: Job et J(ules) de Marthold, Le Grand Napoléon des Petits Enfans, Paris ( E.Plon, Nourrit et Cie.) 1893, Tafel 39. Paris, Sammlung akg-images. E: Napoleon I, Russian campaign 1812, crossing the Berezina Napoleon I Bonaparte; Emperor of the French (since 1804); born in Ajaccio (Corsica, France) 15.8.1769 - Longwood (St. Helena, Great Britain) 5.5.1821. - 'Au passage de la Bérésina, le froid la lui arrache.' (Russian campaign, 1812; withdrawal of the Grande Armée, crossing the Berezina 26th/28th November 1812). - Colour print after a drawing by JOB (i.e. Jacques Onfroy de Bréville (1858-1931). From: Job et J(ules) de Marthold, Le Grand Napoléon des Petits Enfans, Paris ( E.Plon, Nourrit et Cie.) 1893, plate 39. Paris, akg-images collection.
Napoleon an der Beresina – von Jacques Onfroy de Bréville
Quelle: picture alliance / akg-images

Napoleon hatte am Morgen des 28. November den Befehl gegeben, die Brücken in Brand zu setzen. Doch der Kommandeur der Nachhut verzögerte die Ausführung, um möglichst vielen Zivilisten den Weg offenzuhalten. Als die russischen Kolonnen aber in Sichtweite waren, wurden die Bauten angesteckt. Zurück blieben Tote und Sterbende.

Ein russischer General beschrieb die entsetzliche Szenerie: „Massen von Menschen, darunter viele Frauen mit Kindern und Säuglingen waren bis zu dem mit Eis bedeckten Fluss hinabgestiegen. Diejenigen, deren Elend hier mit dem Tod sein Ende fand, waren die Glücklichen. Sie wurden von den Überlebenden beneidet.“ Das Eis, das sich inzwischen wieder auf dem Wasser gebildet hatte, „war durchsichtig wie Glas. Darunter sah man Leichen über die ganze Breite der Wasserfläche“.

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Ein anderer Offizier erinnerte sich: „Das erste, was wir sahen, war eine Frau, die zusammengebrochen und im Eis festgeklemmt war ... in dem einen Arm hielt sie einen Säugling ... Ihre ausdrucksstarken Augen hefteten sich auf einen Mann, der neben sie gefallen und schon erfroren war. Zwischen ihnen, auf dem Eis, lag ihr totes Kind.“

Napoleon hatte sich mit Erfolg „aus einer der schlimmsten Lagen, in denen sich je ein Feldherr befunden hat“ befreit, schrieb der preußische Offizier Carl von Clausewitz, der den Krieg auf russischer Seite mitmachte. Die Schuld dafür wurde Tschitschagow zugeschrieben. Erst Generationen später rückten Historiker die Maßstäbe zurecht und verwiesen auch auf die Verantwortung Kutusows und Wittgensteins. Der Admiral verlor sein Kommando und verbrachte den Rest seines Lebens in Westeuropa. Eingebürgert in England, starb er 1849 in Paris.

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